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Der Rettungsversuch

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In der Überzeugung, daß das Angebot des amerikanischen Außenministers einen Wendepunkt in der Geschichte Europas, ja der ganzen Welt bedeuten könnte, widmete die englische Wochenzeitschrift „Observer“ diesem Gegenstand eine umfangreiche Untersuchung der in Betracht kommenden internationalen Wirtschaftsorganisation in Europa; die Arbeit erfolgte unter Zuziehung vornehmer britischer Sachverständiger. Unter ihnen befinden sich Lord B e ▼ e r i d g e, der Urheber des nach ihm benannten Planes zur Erreichung sozialer Sicherung, der Parlamentarier Sir Arthur Salter, Mitglied des UNO-Wirtschafts-Beratungs-ausschusses, und der internationale Finanzexperte Sir Arthur Schuster. Hier ein kurzer Auszug aus dieser Untersuchung:

In Europa leben gegen 350 Millionen Menschen. Sie bewohnen ein Gebiet, das weit weniger Lebensmittel und Rohmaterialien produzieren kann als sie konsumieren. Erschwerend kommt hinzu, daß dieses Gebiet in eine erhebliche Anzahl national abgegrenzter Wirtschaftsgebiete zerfällt. Der europäische Wohlstand, der im 19. Jahrhundert auf dem europäischen Industriemonopol aufgebaut wurde, ging durch die Folgeerscheinungen zweier Kriege und die ungeheure Aufwärtsentwicklung der außereuropäisdien Welt verloren. Falls hier nicht radikale Änderungen eintreten, besteht die Wahrscheinlichkeit, daß die .350 Millionen Europäer in Zukunft nicht einmal auf ihrem jetzigen reduzierten Lebensstandard weiter bestehen können. Es ist daher die Aufgabe eines europäischen Wiederaufbauprogramms, innerhalb einer begrenzten Zahl von Jahren Europa wieder so weit zu bringen, daß sein Handel und seine F i n a n z g e b a r u n g sich das Gleichgewicht halten und gleichzeitig einen erträglichen Lebensstandard für 350 Millionen Europäer zu schaffen.

Der wichtigste Punkt dieses auf Grund des Marshallschen Planes entworfenen Pro-grammes ist also, schrittweise die wirtschaftliche Wiederherstelllung der einzelnen Länder zu erreichen. Es wäre aber ein vergebliches Beginnen, wollte man es unternehmen, jedes Land Europas einzeln wieder auf die Füße zu' stellen. Darum macht der Marshall-Plan ganz folgerichtig die Hilfe der Vereinigten Staaten von der Aufstellung eines gemeinsamen Planes abhängig.

Die Durchführung dieses Planes — so setzte die Untersuchung des englischen Blattes auseinander — würde für die daran beteiligten Länder allerdings den Verlust eines gewissen Teiles ihrer wirtschaftlichen Souveränitätnach sich ziehen. Doch muß diese Umwälzung in Kauf genommen werden. Es ist unbedingt notwendig — setzt deshalb die zitierte englische Untersuchung auseinander —, daß Europa, während es seine Grundmauern neu errichtet, aus handelstechnischen Gründen seine wirtschaftliche Zerrissenheit fallen läßt. Letzten Endes muß das Gebiet, in dem gemeinsam an der Durchführung des projektierten Planes gearbeitet wird, z u einer Währungs- und Zollein-heit zusammengeschlossen werden, in deren Bereiclj Güter, Verkehrsmittel und Arbeitskräfte freizügig und im Einklang mit dem Gesamtplan ausgetauscht werden können.

Der „Observer“ schlägt in seiner unter Mitwirkung vornehmer englischer Fachleute angestellten Untersuchung als Treffpunkt für die erste Konferenz über den Marshall-Plan den Sitz des Wirtschaftsausschusses der Vereinten Nationen für Europa Gent vor. In diesem Ausschuß erfolgt die Abstimmung jeweils nach dem Prinzip der einfachen Mehrheit und keiner Großmacht steht ein Vetorecht zu. Die Konferenz dürfe aber keinesfalls in den Fehler verfallen, den Sinn des Marshall-Planes mißzuverstehen und dahin auszulegen, daß sie nur eine gemeinsame „Einkaufsliste“ der unbedingt benötigten Produkte zusammenstellt.

Der „Observer“ fährt fort: Europa soll in einer Gesamtheit wieder ein aktiver Partner des Welthandels mit ausgeglichener Handelsbilanz werden, das heißt, es soll nicht als in sich geschlossene autarke Einheit betrachtet werden. Die größten Kapitalanlagen zur Erhöhung der Lebensmittelproduktion sollen zuerst in Frankreich und Osteuropa gemacht werden. Die Kohlenförderung soll in Deutschland und Polen gesteigert werden, da diese die einzigen Länder sind, wo dies binnen kurzer Zei| und in großem Maßstab gesdiehen könnte Aus den gleichen Gründen soll Deutschlan) eine erhöhte Stahlproduktion ansti bcn. Im Ruhrgebiet ist ein Fortschritt denkbar, der die Lage in den nächsten zwei aussdilaggebendcn Jahren positiv beeinflussen könnte,

Pläne für die Auswertung der Wasserkräfte zur Stromerzeugung würden das deutlichst Zeugnis für i n t e r e u r o p ä i s c h e n Unternehmungsgeist darstel-1 e n. Die Zentralstelle zur Durchführung des Marshall-Planes sollte im Rhein- und D o n a u t a 1 entsprechende Maßnahmen treffen.

Die zitierte englische Untersuchung gibt eine Übersicht über diese zu schaffende Zentralstelle und schlägt einen internationalen „Staatsdienst“ zur Ausführung ihrer Pläne vor.

Die Untersudiung veranschlagt einen für den Wiederaufbau Europas erforderlichen in die Billionen Dollar gehenden Gesamtbetrag. Sie zweifelt nicht an der Fähigkeit Amerikas, das gigantisdie Unternehmen zu fördern, sobald seine Industrieanlagen in Gang gebrs#it und ihren neuen Zwecken angepaßt sein werden. Sie schließt mit den Worten: „Eines ist gewiß: Wenn die Völker Europas diese nodi nie gegebene Gelegenheit nicht ausnützen, wird ihre Strafe sdinell, furchtbar, aber verdient sein.“

Es sei hier daran erinnert, daß vor 15 Jahren auf dem in Klagenfurt abgehaltenen christlichsozialen Parteitag der damalige Ackerbauminister Dr. Engelbert D o 11 f u ß an der Hand eines großen wissenschaftlichen und statistischen, mit Diagrammen verdeutlichten Materials einen Vortrag hielt, in dem er mit leidenschaftlicher Eindringlichkeit die Unhaltbarkeit eines Zustandes bewies, in dem ein in kleine und kleinste Wirt-schafts- und Z611einheiten zersplittertes Europa gegenüber der ökonomischen Geschlossenheit dreier riesenhafter Weltimperien sich zu behaupten suchte. Dieser ergreifende Warnungsruf an die Öffentlichkeit Mitteleuropas ging zu jener Zeit im politisdien Lärme unter. Der damals kaum diskutierte Vorsdilag eines kontinentalen Wirtschaftszusammenschlusses steht nun mit noch wesentlich größerer Bedeutsamkeit aufs neue vor den Festlandstaaten.

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