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Der rote Rassismus

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Die sowjetischen Verantwortlichen pflegen, wenn man sie wegen der diskriminierenden Judenpolitik des Kremls befragt, die Auskunft zu geben, man habe zwischen der Moskauer Haltung gegenüber den Juden und jener gegenüber den „Zionisten“ zu unterscheiden: Die UdSSR wende sich nur gegen den „Imperialismus“ des Staates Israel, nicht gegen die Juden als Volk oder als Religionsgemeinschaft. In einer Hinsicht sind die Juden jedenfalls mit allen anderen Sowjetvölkern gleichberechtigt: Auswanderung ist ihnen verwehrt. Vor wenigen Tagen kam es zu einem Verzweiflungsakt Zwölf Sowjetbürger, unter ihnen mehrere Juden, sollen versucht haben, eine von Leningrad nach Karelien abfliegende Maschine zu kapern.

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Die sowjetischen Verantwortlichen pflegen, wenn man sie wegen der diskriminierenden Judenpolitik des Kremls befragt, die Auskunft zu geben, man habe zwischen der Moskauer Haltung gegenüber den Juden und jener gegenüber den „Zionisten“ zu unterscheiden: Die UdSSR wende sich nur gegen den „Imperialismus“ des Staates Israel, nicht gegen die Juden als Volk oder als Religionsgemeinschaft. In einer Hinsicht sind die Juden jedenfalls mit allen anderen Sowjetvölkern gleichberechtigt: Auswanderung ist ihnen verwehrt. Vor wenigen Tagen kam es zu einem Verzweiflungsakt Zwölf Sowjetbürger, unter ihnen mehrere Juden, sollen versucht haben, eine von Leningrad nach Karelien abfliegende Maschine zu kapern.

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Auch wenn es den Sowjets mit den ungeheuren Druckmitteln, über die ihr Apparat verfügt, gelingt, in ihrem eigenen Völkerkerker ein paar prominente Juden sowjetischer Staatsbürgerschaft, wie den Oberrabbiner von Moskau, zu zwingen, die Judenpolitik in der Sowjetunion in den Himmel zu loben und den Staat Israel mit den vorgeschriebenen Schimpfkanonaden zu attackieren, weiß heute die ganze Welt, daß die mehr als drei Millionen jüdischen Sowjetbürger, die ihr Judentum als Nationalität auf ihrer Identitätskarte vermerkt tragen, von den in der sowjetischen Verfassung verankerten Grundrechten anderer Nationalitäten ihres Staates ausgeschlossen sind: namentlich vom Recht auf Tageszeitungen, auf Schulen und Theater in ihrer dort gepflegten jiddischen Muttersprache — und natürlich auch vom Recht auf Auswanderung, dem die Sowjetunion durch ihre Unterschrift auf der UNO-Charta zugestimmt hat.

Dagegen erlebt das Weltinteresse für die Lage der Juden in der Sowjetunion selbst in den letzten Jahren einen dauernden Aufschwung, auch von seiten einiger mit der Sowjetunion sympathisierender Kreise, was Moskau höchst unangenehm ist. So ist nach dem Tode des bekanntesten sowjetfreundlichen Kritikers der sowjetischen Judenpolitik, des Philosophen Bertrand Russell, derzeit als prominenter jüdischer Freund der Sowjetunion, der gegen die Behandlung der Juden öffentlich auftritt, der Franzose Jacques Nantet zu nennen, Berichterstatter der seit 1960 existierenden „Konferenz über die Lage der Juden in der UdSSR“ — und zugleich führendes Mitglied der Gesellschaft „France—URSS“. Bei der letzten Session der „Konferenz über die Lage der Juden in der UdSSR“ wurde festgestellt, daß sich der Antisemitismus in der Sowjetunion auf zwei Ebenen offenbare. Auf der einen Seite wird der Kampf gegen das Judentum mit einer pseudowissenschaftlichen Buchproduktion geführt, auf der anderen Seite durch eine Flut von Presseartikeln.

Die pseudowissenschaftliche antisemitische Buchproduktion der UdSSR wird eingesetzt, um das Judentum und den Zionismus als grundsätzlich pervers und als „Feinde des Menschengeschlechts“ anzuprangern. Der sowjet-ukraini-sche „Soziologe“ Kitschko, dessen Buch „Judaismus ohne Schminke“ seinerzeit infolge seines VulgärAntisemitismus einen Skandal hervorgerufen hat, der sich in massiven internationalen Protestaktionen ausdrückte, ist neuerlich als Autor einer Studie unter den Titel „Der Judaismus und der Zionismus“ hervorgetreten. Darin gibt er bekannt, der Hauptzweck des modernen Judentums bestehe darin, dem jüdischen Volke „die geistige Unterwerfung der gesamten Menschheit“ zu ermöglichen.

Das neueste antisemitische Produkt auf dem Gebiet der Belletristik ist ein Roman des pensionierten Marineoffiziers Iwan Schewzow, der unter dem Titel „Liebe und Haß“ im Militärverlag in Moskau herausgekommen ist. Besonders aufschlußreich „entlarvt“ Schewzow in seinem Roman „den Juden Albert Einstein“: „Einsteins Rolle wurde hochgespielt, und es wurde aus ihm eine Art Heiland gemacht. In Wirklichkeit war die Relativitätstheorie schon lange vor Einstein in der Entwicklung ...“

Doch die Passivität und die Angst der sowjetischen Juden schwindet. Namentlich unter der jüdischen Jugend. Die russischen Juden zeigen immer mehr Mut bei ihren Versuchen, die Erlaubnis durchzusetzen, nach Israel auswandern zu dürfen. Sie nehmen die oft jahrelangen behördlichen Schikanen auf sich und sind nicht bereit, nachzugeben. So sind jüngst wieder beim Generalsekretär der UNO, V Thant, beim Vorsitzenden der Menschenrechtskommission der UNO und bei der israelischen Ministerpräsidentin Golda Meir mit vollem Namen unterzeichnete Protestbriefe einer Gruppe von sieben litauischen Juden eingelangt, in denen deren Recht auf Auswanderung und auf Niederlassung in Israel reklamiert wird.

Aktionen dieser Art wären vor einigen Jahren kaum denkbar gewesen.

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