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Der Rubikon

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Am 15. März 1939 — vor 30 Jahren— war Hitler in Prag einmarschiert und hatte die Resttschechoslowakei dem „Großdeutschen Reich“ eingegliedert. Obwohl er erst im Oktober 1938 in Böhmisch-Krumau, dem Sitz der Schwarzenberge, feierlich erklärt hatte, daß er keine Tschechen in seinem 3. Reich haben wolle. „Mehrer des Reichs“ nannte der „Völkische Beobachter“ vom 16. März 1939 den Führer in Nachahmung des Titels „Semper Augustus“, den die christlichen römischen Kaiser geführt hatten. „Das Ende aller Illusionen“ schrieb die „Times“ über diesen Gewaltakt Hitlers. Mit dem Einmarsch in Prag hatte Hitler den Rubikon überschritten und sich entlarvt. „Alea jacta sunt — die Würfel waren gefallen.“ Hitler zeigte sein wahres Gesicht.

Bis zum Einmarsch in Prag konnte Hitler den Eindruck erwecken, daß er nur legale Ziele verfolge. Er hatte den Frieden von Versailles bekämpft und tatsächlich liquidiert. Er hatte auf die Erfüllung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker gepocht, daß die Alliierten im ersten Weltkrieg proklamiert hatten und dieses für die Deutschen in Anspruch genommen. Und da die Alliierten ihr Wort nicht gehalten hatten und deswegen immer ein schlechtes Gewissen besaßen, konnte er unter Hinweis auf dieses schlechte Gewissen tatsächlich den Anschluß Österreichs und der sudetendeutschen Gebiete erzwingen. Deutschland schien arrondiert und alle seine Wünsche erfüllt. Der Frieden schien für immer gefestigt, so meinte zumindest der britische Premier Chamberlain, als er nach den Verhandlungen mit Hitler im Herbst 1938 nach London zurückkehrte und das berühmte Wort sprach „Peace for ever — Friede für immer“. Auch er hatte keine Ahnung, wer Hitler eigentlich war. Jetzt, da Hitler in Prag einmarschierte, war Chamberlain zutiefst erschüttert und mit ihm das ganze freie Europa. „Die Würfel waren gefallen.“ Mit dem Einmarsch in Prag hatte Hitler den Rubikon überschritten und sich entlarvt. Mit diesem Einmarsch zeigte Hitler, daß es ihm gar nicht darum ging, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung für das deutsche Volk zu erlangen, sondern daß es ihm darum ging, ein riesiges Imperium zu schaffen, in dem er seinen pathologischen Machtrausch austoben konnte. Mit diesem Einmarsch in Prag beginnt der Zug Europas in eine grauenhafte Katastrophe, die mit dem Ausbruch des Krieges über Europa begann und deren Schatten noch heute über Europa lagern. Mit diesem Einmarsch in Prag führte Hitler seine Politik ad absurdum: Jahrelang hatte er immer wieder beteuert, er wolle das deutsche Volk auf einen neuen Siegeszug in den Osten führen, und das Ende war der Auszug von Millionen Deutschen aus ihren jahrhundertelangen Wohnsitzen im Osten. Jahrelang hatte Hitler beteuert, er wolle Europa vor den Bolschewiken schützen, und das Ende dieser Politik bestand darin, daß die Russen bis Berlin kamen und das gesamte Osteuropa und Mitteldeutschland ihnen Untertan ist und gehorcht. Jahrelang hatte Hitler — unter Anspielung auf seine Träume, ein großer Architekt zu werden — gesagt, er wolle Deutschland und Europa neu aufbauen, und das Ende war die grauenhafteste Zerstörung, die Europa seit Jahrhunderten erlebte. Als Hitler in Prag einmarschierte, erkannte die Welt zum erstenmal blitzartig, welchem Dämon sie gegenüberstand. „Das Ende aller Illusionen.“ ■ , -

Dr. Hacha, der damalige Präsident der Tschechoslowakei,' Nachfolger Dr. Benes, hatte in der schrecklichen Nacht vom 14. auf den 15. März angesichts der Erpressungen Hitlers in der Reichskanzlei die völlige Kapitulation der Tschechoslowakei unterschrieben. Das offizielle Kommunique sagte, er habe das Schicksal der böhmischen Länder „vertrauensvoll“ in die Hände des Führers gelegt. „To je konec svobody — Das ist das Ende der Freiheit“, sagte der tschechische Ministerpräsident Beran, als er von dieser Kapitulation Hachas erfuhr. Dr. Hacha, ehemals k. k. Hofrat, ehemals Präsident des tschechoslowakischen Obersten Verwaltungsgerichtshofes, wußte nur zu gut, daß seine Unterschrift verfassungsmäßig wertlos war, da sie weder mit der Zustimmung des Parlamentes noch der Regierung erfolgt war. Aber mit dieser Unterschrift hoffte er, die Existenz der Nation zu retten. „Ich opfere mich, wenn schon nicht der Staat gerettet werden kann, soll wenigstens die Nation gerettet werden“, sagte Hacha, bevor er unterschrieb. Und tatsächlich konnte durch diese Haltung die tschechische Nation die schreckliche Zeit des NS-Regimes mit einem Mindestmaß an Rechten überdauern; und was gilt im böhmischen Leben mehr als der berühmte Satz Rilkes „Uberstehen ist alles“?

Diese Unterschrift Dr. Hachas ist heute im tschechischen Leben ein ähnliches Trauma wie der .Begriff „Weißer Berg“. Die Nachfolger Hachas suchten sich diesem Trauma immer wieder zu entziehen und können doch nichts anders, als Hachas Handlung fortsetzen. Dr. Benes machte Dr. Hacha die schwersten Vorwürfe und behauptete, es gäbe Situationen, wo man keine Kapitulation unterschreiben dürfe, aber auch er unterschrieb 1948 eine ähnliche Kapitulation, die die Tschechoslowakei vollkommen dem Machtbereich Moskaus auslieferte. Und als nach dem 21. August 1968 Präsident Svoboda nach Moskau fuhr, mit dem eisernen Willen, auf keinen Fall die Rolle Dr. Hachas zu spielen, mußte er sie dennoch versteckt spielen, um auch hier das Überstehen für seine Nation zu retten.

„Die Würfel sind gefallen.“ Als Hitler diesen Rubikon überschritt, zeigte sich sein wahres Gesicht. Böhmen entlarvte ihn. Und als im August 1968 auf Geheiß Moskaus die Truppen des Warschauer Paktes die Tschechoslowakei besetzten, da überschritten auch sie den Rubikon, und da entlarvte sich auch Rußland und zeigte sein wahres Gesicht, das eigentlich nichts anderes ist als ein uraltes Antlitz. Wie die Welt am Einmarsch Hitlers im Jahre 1939 in Prag erkennen konnte, daß es ihm gar nicht um die Schaffung eines großen nationalen und sozialen Reiches für die Deutschen ging, so konnte die Welt im August 1968 erkennen, daß es den Russen gar nicht so sehr darum ging, die Ideen des Bolschewismus durchzusetzen, als vielmehr weite Teile Europas unter seine Herrschaft zu bringen, damit seine Westflanke geschützt sei. „Rußland lebt unter einem roten Zaren“, schrieb vor kurzem eine chinesische Zeitung und deutete darauf hin, daß es das Wesen Rußlands besser erkannt habe, als so mancher Europäer. Denn in Rußland wird immer ein Zar regieren, mag es sich um einen weißen oder roten Zaren handeln, und russische Politik wird immer gleich bleiben. Aber dies hat Europa erst erkannt, als russische Tanks durch Prag fuhren. Böhmen, als Rubikon Europas, hatte wieder einmal seine tragische und schicksalshafte Rolle gespielt.

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