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Der soziale Katholizismus Englands

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Ein Überblick über das Denken und Arbeiten der Katholiken Englands im sozialen Bereich wird kaum anders als mit der großen Gestalt des Kardinals Manning beginnen können. Denn er 19t nicht nur durch seine mutige und erfolgreiche Vermittlung im Londoner Dockarbeiterstreik von 1889 in der ganzen Welt berühmt geworden, der englische Katholizismus hat seither auch keine andere Gestalt von ähnlichem Format hervorgebracht. Was ihn auf den Plan rief, war, wie fast immer, wenn das katholische Gewissen angesichts der Arbeiterfrage des 19. Jahrhunderts aufschrie, die Zerstörung der Familie durch die überlangen Arbeitszeiten, die Industriearbeit der Mütter und Kinder, die unvermeidliche Vernachlässigung der Erziehung, die entwürdigenden Wohnungsverhältnisse, der Alkoholismus. „Das muß anders werden“, ruft er aus, und fordert Sozialpolitik. Schon gleich wurde er, als Sozialist gebnahdmarkt, auch englische Katholiken und sogar Bischöfe des Auslandes waren alarmiert und nahmen gegen ihn Stellung. Andererseits nahmen ihn die Sozialisten für sich in Anspruch. Henry George, der bekannte amerikanische Vorkämpfer einer sozialistischen Bodenreform, suchte ihn auf. Der Kardinal wehrte sich aber mit aller Entschiedenheit dagegen, daß sein Eintreten für die soziale Gerechtigkeit als Sozialismus gedeutet werden könne. Seine Haltung war so klar, daß er, als der amerikanische Kardinal Gibbons ähnlichen Anschuldigungen ausgesetzt war und in Rom verklagt wurde, sich dort zur Rechtfertigung seines großen Kollegen einzusetzen vermochte.

Sehr bald konnte er seine eigene volle Rechtfertigung in der Arbeiterenzyklika Leos XIII. sehen. Seine Politik, sagt er, will nichts mit Parteipolitik und Politik überhaupt (und der „Schwatzbude“, der „Tal- king-mill“, in Westminster, wie er sich ausdrückt) zu tun zu haben, „meine Politik ist Sozialpolitik“: er tritt ein für „die Würde und die Rechte der Arbeit“, da6 Existenzminimum, das Recht auf Brot im Falle der Arbeitslosigkeit, also für Arbeitslosenunterstützung, für die gesetzliche Begrenzung der Arbeitszeit, für menschenwürdige Wohnungsverhältnisse in den Arbeitervierteln, für Schlichtungsausschüsse zur Beilegung von Arbeitsstreitigkeiten auf der Grundlage der Gleichberechtigung, für die Bekämpfung des Alkoholismus und der Profitmacherei der Alkoholindustrie, für die Reform des englischen Bodenrechtes. Um zu zeigen, daß er mit Sozialismus nichts zu tun habe, formuliert der Kardinal noch ausdrücklich sein ökonomisches Glaubensbekenntnis: „Ich glaube“, sagt er in seiner Schrift „The Right of Labour“, „ganz und gar an das Gesetz von Angebot und Nachfrage und des freien Handels und an den Schutz des Eigentumsrechtes des Kapitals; alles Grundbedingungen des Wirtschaftslebens.“ Hatte sich der große Kardinal damals 90 heftig gegen den Vorwurf des Sozialismus zu wehren, et würde sich auf Grund dieses Glaubensbekenntnisses in der heutigen Zeit, die nicht weniger rasch zur Etikettierung von Anschauungen und Persönlichkeiten bereit ist, mindestens ebenso gegen den Vorwurf des Liberalismus zur Wehr zu setzen haben und würde es sicher mit der gleichen Entschiedenheit tun.

Obwohl die Wirkung Kardinals Mannings auf seine Persönlichkeit beschränkt blieb und sich nicht eigentlich im sozialen Katholizismus Englands fortsetzte, sind doch die beiden Hauptrichtungen seines Denkens später wieder aufgenommen worden: die auf eine staatliche Sozialpolitik und die auf eine geordnete Freiheit des Wirtschaftslebens abzielende. Die Vertreter der erste- ren nennen sich heute Sozialisten und arbeiten mit der Labour Party und den Gewerkschaften, die Vertreter der letzteren nennen sich Distributisten und zählen unter ihre Begründer keine Geringeren als Belloc und Chesterton. Dazu kommt aber eine dritte Richtung, die ganz auf die päpstliche Enzyklika abgestellt ist und in der dem Episkopat unterstehenden sozialen Schulungstätigkeit der Katholiken sich äußert.

Die Tendenzen einer staatssozialistischen Sozialpolitik, man denke etwa an die Tendenzen wie die zur Sozialisierung des Ärztedienstes, des Wohlfahrtswesens, der Krankenhäuser, des Schulwesens, die Sozialisierungspolitik, müßten zweifellos für die sozialistische Richtung im Katholizismus und somit die Katholiken in der Labour Party und den Gewerkschaften zu einer Schwierigkeit werden, sollten Partei und Gewerkschaften stärker unter den Einfluß ihres linken Flügels kommen. In England gibt es bekanntlich keine konfessionelle Gewerkschaftsbewegung, also keine „christlichen“ Gewerkschaften zum Unterschied von „freien“. Die katholisch-soziale Bewegung kann also nur suchen, ihre Prinzipien durch den Einsatz der katholischen Laien in den bestehenden Gewerkschaften ziur Geltung zu bringen. Man arbeitet daher jetzt darauf hin, daß die katholischen Arbeiter den Gewerkschaften beitreten und sich darin möglichst aktiv betätigen. Die katholischen Arbeiter müssen natürlich nicht nur organisiert, sondern auch religiös-sozial geschult werden. Dahinter steht offensichtlich in moderner Form das alte Prinzip des „katholischen Arbeitervereins“ als Teil der „Katholischen Aktion“. Daß aber ein Flügel der katholisch-sozialen Bewegung Englands seit langem mit der sozialistischen Labour Party arbeiten konnte, hat seinen Grund darin, daß die Partei weder programmatisch noch ideologisch auf den atheistischen Materialismus festgelegt ist und daß ihr Nah- prognamm immer als das einer durchgreifenden Sozialpolitik erschien, die in England vom christlichen Gewissen aus längst dringend gefordert war.

Während die eben beschriebene Richtung der katholisch-sozialen Bewegung alles von der „staatlichen“ Intervention erwartet, denken die Distributisten in erster Linie an eine „gesellschaftliche“ Kontrolle im Unterschied und Gegensatz dazu. Die fortschreitende Staatsintervention, sagen sie, kann nur zu einer Konzentration staatlicher Macht und zu einer zunehmenden Beschränkung der persönlichen und sozialen Freiheiten führen, zum „Sklavenstaat“. In der Tat, der Ausdruck ist nicht erst von heute, Belloc hat schon 1912 ein Buch über das drohende • Heraufkommen des modernen Sklavenstaates geschrieben (The Servile State). Er sieht ihn vorbereitet in der ungeheuren Eigentumskonzentration in den Industrie- und Finanzmonopolen, die das Staatsmonopol auf den Plan rufen und immer weitergehende staatliche Eingriffe in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht notwendig machen. Das Gegenmittel: „Wenn wir nicht die Institution des Privateigentums wiederherstellen, können wir einer Wiedereinführung der Sklaverei nicht entgehen: es gibt keinen dritten Weg“ (Belloc). Belloc fordert „gesellschaftliche“ Kontrollen auf Grund berufsgemeinschaftlicher Organisationen, die ein Aufsaugen der kleinen Betriebe durch die großen verhindern; er fordert eine differentielle Steuer für die größeren Unternehmungen, damit die Kapitalsakkumulation verhindert werde; eine differentielle Steuer fordert er auch für Warenhäuser und Filialgesdhäfte, damit nicht die selbständigen kleineren Kaufleute verdrängt werden; er fordert eine ähnliche Steuer für das große Bodeneigentum, um den Kleinbauer gegenüber dem Großgrundbesitzer zu schützen; namentlich soll durch eine solche Steuer der Bildung von Monopolen entgegengearbeitet werden und, wo sie unvermeidlich sind, muß durch staatliche Kontrolle ihrer Übermacht Einhalt geboten und durch zweckdienliche Eigentumsformen wie die der Kleinaktie eine möglichste Demokratisierung des Besitzes herbeigeführt werden. Bei alldem ist das Ziel „die Wiederherstellung der wirtschaftlichen Freiheit“, die durch die Eigentumskonzentration im Privat- und Staatskapitalismus bedroht ist.

Die ganz auf die sozialen Enzykliken sich begründende Arbeit der dritten und wichtigsten der oben erwähnten Richtungen hat ihr Zentrum in Oxford in der Gatholic Social Guild, deren Zweck die breitere Schulungsarbeit, und in dem Catholic Worker’s College, deren Zweck die Heranbildung höher qualifizierter Laienaposteln ist. Die Guild besitzt 284 Arbeitsgruppen in den verschiedenen Orten, sie bilden das Rückgrat der Bewegung. Ihnen stehen Arbeitsund Studienbehelfe in der Form von Büchern und Schriften über Gesellschafts-, Staats- und Wirtschaftslehre zur Verfügung, die von der Guild ausgegeben werden. Sie veranstaltet jährlich einen Sommerkurs, Weekendkurse in verschiedenen Städten, Rerum-Novarum-Sonntage, Kurse für Leiter von Studentenklubs, Konferenzen katholischer Industrieller und unterhält Verbindungen mit anderen Vereinigungen mit sozialen Zwecksetzungen, wie der Internationalen Konferenz der sozialen Arbeit, der katholischen Eheberatung, dem Katholischen Komitee für Auslandshilfe. Dazu veröffentlicht die Guild Studienbücher’ für Staats- und Wirtschaftsethik, veranstaltet Prüfungen für Erwachsene und katholische Schulen und stellt Zeugnisse darüber aus, veröffentlicht Schriften zu aktuellen Fragen, wie das Gewerkschaftswesen, die Christenpflichten im praktischen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben, über katholische Kirche und Kommunismus, verlegt die sozialen Enzykliken und populäre Kommentare dazu; außerdem gibt sie ein Monatsorgan, „The Christian Democrat“, heraus (Auflage 6000) mit Aufsätzen, welche den Leser vom katholisch-sozialen Standpunkt über Fragen orientieren, die zur öffentlichen Diskussion stehen. Wollte man einen Vergleich ziehen, würde die Guild dem „Volksbund im Vorkriegsösterreich an die Seite zu stellen sein. Die zweite zentrale und mit der Guild verbundene Einrichtung ist das Catholic Worker’s College in Oxford. Es besteht seit 21 Jahren. Die Universität ermöglicht seinen Studenten den Erwerb eines Diploms in den Wirtschafts- und den Staatswissenschaften (was natürlich nicht einen akademischen Grad bedeutet) sowie den Besuch verschiedener Vorlesungen. Es fällt unter die Residential Colleges, die vom Unterrichtsministerium anerkannt sind, und empfängt als solches eine beträchtliche Zuwendung. Die Kosten für einen Studenten belaufen sich für das Jahr auf 125 Pfund, wozu noch Reisegelder und dergleichen kommen. Diese Kosten werden hauptsächlich ‘aufgebracht durch Stipendien (Scholarships), mit, denen von einzelnen Persönlichkeiten, katholischen Organisationen usw. für je einen Studenten ein Studienplatz finanziert wird. Die Studenten kommen aus der Schicht der gelernten Arbeiter und kehren nach Absolvierung ihrer Studien wieder in ihre Berufsarbeit zurück. Außer dem Lehrpersonal der Guild werden auch außenstehende Persönlichkeiten zu Gastvorlesungen gewonnen. Das College fing mit drei Studenten an und hatte vor dem Kriege dreizehn, fing nach dem Kriege wieder mit fünf an und hatte dieses Jahr siebzehn. Die Arbeit des College ist auf lange Sicht angelegt. Über der kleinen Ziffer der Studenten darf nicht vergessen werden, daß jeder einen ein- oder zweijährigen Kurs ab-1 solviert, in dem er ganz dem Studium obliegt, und daß sich so jedes Jahr die Zahl hochqualifizierter Mitarbeiter der katholischsozialen Bewegung vermehrt, die in den örtlichen Gruppen eine führende Rolle zu spielen vermögen. Auch dürfen die Schwierigkeiten nicht übersehen werden, die den Katholiken Englands daraus erwachsen, daß sie nur eine kleine Minderheit darstellen, ein Umstand, dessen Tragweite in einem anderen Aufsatz. dargelegt werden soll.

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