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Der Spielplan eines Ensembletheaters

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Theater an der Wien

Die Tatsache, daß interessierte Kreise über das geistige Profil eines Theaters diskutieren, ist alt. Es ist ein Vorrecht jeder Epoche sowie jeder positiven Geistesrichtung, sich aktiv in die Kunstpolitik einzuschalten, durch Kritik oder durch Anregungen. Und dem ist gut so. Denn nichts ist für die Entwicklung, sei es welcher Kunstgattung immer, hemmender und einschläfernder, als lethargisches Hinnehmen von Tatsachen oder gar gezwungene Unterordnung unter das künstlerische Diktat eines absoluten Staates, wie wir es alle leider mitgemacht haben und auch jetzt noch da und dort beobachten können.

Wenn nicht alle Ratschläge akzeptiert, wenn nicht alle kritischen Anregungen sofort in die Tat umgesetzt werden, so liegt dies keinesfalls in einem obstinaten übergehen dieser Wünsche, sondern meistens in dem Unterschied zwischen jugendlicher Schwärmerei, die losstürmend Postulate aufstellt, und der ziel- und verantwortungsbewußten Arbeit ernster Männer. Dabei ist immer noch die Kardinalfrage zu klären, ob die Schwärmer nicht offene Türen einrennen. Denn in jeder Diskussion gibt es einen dritten, sehr hartnäckigen Widersacher und dieser ist — oh Muse, verhülle dein Haupt — die Statistik. Aber von diesem Bundesgenossen soll erst später Gebrauch gemacht werden.

Vor allem muß eine verantwortungsbewußte Leitung eines großen Operntheaters sich nicht nur über das Ziel Gedanken machen, sondern auch über den Weg, der zu einem Ziele führen soll. Es muß festgehalten werden, daß die Entwicklung und der heutige Zustand des Opernwesens im allgemeinen und der der Wiener Staatsoper im besonderen keinesfalls mit der Situation vor dem letzten Weltkrieg zu vergleichen ist.

Im Jahre 1945 mußte die Wiener Staatsoper so beginnen, wie wenn in Wien überhaupt noch nie Theater gespielt worden wäre: das große Haus zerstört, alle Dekorationen und Kostüme verbrannt, das Ensemble durch den Krieg und die Schlacht um Wien in alle Winde zerstreut. Es herrschte unvorstellbares Chaos und Hungersnot. Da galt es naturgemäß in erster Linie ein Ensemble aufzubauen und nach und nach das Standardrepertoire wieder auf die Füße zu stellen. Das hat mit Konservativismus, mit Behüten von musealem Staub nichts zu tun.

Es muß einmal mit aller Deutlichkeit ausgesprochen werden, daß ein staatlich subventioniertes Theater auf der einen Seite unabdingbar feststehende Erzie- hupgsarbeit zu leisten hat, daß es aber auf der anderen Seite in keiner Weise zu einem Parteitheater gemacht werden darf. Wobei der Begriff „Partei“ natürlich weit über die Bedeutung „politische Partei“ hinausgeht. Auch die Kulturpolitik darf selbstverständlich keinesfalls in die Führung eines Theaters einseitig eingreifen. Es wäre grundlegend zu verdammen, wenn die Leitung eines Staatstheaters einseitige Kulturpolitik auf eigene Faust betreiben würde und durch Ablehnung einer bestimmten Kunstrichtung oder durch Forcierung einer anderen dem Theater ein einseitiges Profil gäbe. Der Besucher und der Steuerzahler haben das Recht, alles, was als Kunstwerk anzusprechen ist, zu hören und zu sehen, selbst wenn es dem einen oder anderen als verstaubtes Museumsstück oder als avantgardistisches Experiment erscheint. Darf etwa ein verantwortungsbewußter Theaterleiter, weil ihm persönlich das Pathos einer Wagneroper nicht zusagt, das ganze Werk Wagners ausschalten? Jedes geistige Gut, gleichgültig welcher Epoche es entstammt, ist revolutionärer Neuerung entsprossen. Es ist irrelevant, wann sich dieser Revo- lutionierungsprozeß abgespielt hat. Es bleibt nur entscheidend, daß das Neue der Katharsis der Zeit standgehalten hat. Es wäre abwegig und vermessen, vermessen selbst für den größten Fachmann, bei einem Kunstwerk, das Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte überdauert hat, apodiktische Werturteile abgeben zu wollen.

Es ist selbstverständlich, daß die Leitung eines Opernhauses, das mit Steuergeldern subventioniert ist, auch für die Einhaltung des Budgets auf der Einnahmenseite verantwortlich ist. Es muß aber mit aller Entschiedenheit der Ansicht entgegengetreten werden, daß die Programmgestaltung ausschließlich von diesem Blickpunkt aus durchgeführt wird. Das Theater als moralische Anstalt darf unter keineh Umständen zu einem reinen Unterhaltungs- oder Geschäftsbetrieb herabgezogen werden. Es muß aber einmal mit aller Offenheit ausgesprochen werden, daß die Werke zeitgenössischer Komponisten mit avantgardistischen Tendenzen von einem großen Teil des zahlenden Publikums abgelehnt werden und daher leider für die Leitung eine schwere finanzielle Belastung für die Einnahmenseite darstellen. Die Abneigung weiter Besucherkreise geht so weit, daß Abonnenten mit der Rücklegung ihres Abonnements drohen. „Wozzeck“ zum Beispiel stieß in Salzburg auf größten Widerstand, und die Aufführung wurde, weil es sich eben nach Ansicht der Leitung um ein bedeutendes Werk der Moderne handelt, gegen Pressepolemiken und mangelnden Besuch gehalten. Es wurde auch in der folgenden Spielzeit dem Repertoire der Wiener Oper einverleibt und wird als Dokument des geistigen Profils des modernen Österreich bei einem Gastspiel der Wiener Staatsoper in Paris im Mai 1952 vorgeführt werden.

Wenn in einer kritischen Betrachtung der Programmbildung eine Reihe von angeblich fehlenden Namen aufgezählt wird, so ist diese Aufzählung teilweise unrichtig; es sind nämlich Komponisten angeführt, die sehr wohl im Repertoire aufscheinen, wie etwa Strawinsky, der allein seit 1945 mit vier Werken vertreten ist, oder Britten, dessen „Bettleroper“ aufgeführt wurde; andererseits übergeht aber der Kritiker Namen, deren Werke unbedingt in die von ihm favorisierte Kategorie gehören: Gottfried Einem, dessen Oper „Dantons Tod“ sowohl in Salzburg als in Wien aufgeführt wurde, und dessen Ballett „Rondo um das goldene Kalb“ soeben seine Erstaufführung erlebt, oder Theodor Berger mit seiner „Homerischen Symphonie“. Daß „Der Konsul“ und „Jeanne d’Arc“ nur als „Nebenprodukte“ klassifiziert werden, ist wohl der Ausdruck subjektiver Einstellung, wohin wohl auch die Ansicht gehört, daß Richard Strauß in seinen letzten Lebensjahren ein resignierter Greis genannt wird, der die Entwicklung der Musikgeschichte um 40 Jahre überlebt hat. Man kann wohl, ohne Gefahr zu laufen, als Museumswärter angesprochen werden zu müssen, die letzten dramatischen Werke des Meisters, nicht nur zeitlich gesehen, der zeitgenössischen Musik zurechnen.

Wir wollen aber keine Polemik über Wert oder Unwert von Kunstwerken führen. Wir haben zu Beginn dieser Ausführungen die Verpflichtung anerkannt, dem zeitgenössischen Musikschaffen das Forum der Öffentlichkeit zu bieten. Wir wollen nun untersuchen, ob diese Verpflichtung eingehalten wurde oder nicht. Da muß eben die Statistik herangezogen werden, um so mehr, als in der besagten Kritik behauptet wird, daß die frühere Zeit, und besonders die Ära Gustav Mahler, dem zeitgenössischen Musikschaffen eine ausgedehntere Pflege angedeihen ließ, als es heute geschieht.

Vergleichen wir die Jahre 1900 bis 1907 mit den Jahren 1945 bis 1952. Nach der Jahrhundertwende wurden in den ersten sieben Jahren in der Wiener Hofoper unter Gustav Mahler 14 Werke lebender Autoren aufgeführt. Wir wollen der Glaubwürdigkeit wegen mit konkreten Mitteilungen dienen:

Nebenbei sei erwähnt, daß der „Bundschuh fünf Aufführungen, „Lobetanz“ sechs Aufführungen, „Der polnische Jude’ drei Aufführungen und in späterer Zeit — um nur einige Beispiele herauszugreifen — „Cardillac“ von Hindemith und „Ödipus Rex“ von Strawinsky je drei Aufführungen aufzuweisen hatten.

Demgegenüber wurden 1945 bis 1952 achtzehn Werke zeitgenössischer Komponisten dem Repertoire einverleibt, wobei zu berücksichtigen ist, daß die ersten zwei Jahre überhaupt nicht gerechnet werden dürfen. Es handelt sich hiebei um Opern von Einem, Salmhofer, Britten, Honegger, Komgold, Richard Strauß, Menotti und Alban Berg; ferner um Ballette von Respighi, De Falla, Strawinsky und Theodor Berger. — Für die kommende Spielzeit stehen Werke von Hindemith, Orff, Milhaud und Richard Strauß zur Diskussion, aus denen die Auswahl für das Novitätenprogramm 1952/53 getroffen werden wird.

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