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Der Staat, der Feind seiner Bürger

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Ist es ein Zufall, daß die Kette der monströsen Mordfälle und mörderischen Skandale in Belgien nicht abreißt? Daß, während das Land noch mitten im Fall Dutroux steckt und diesen längst nicht bewältigt hat, ein neue grausige Mordgeschichte, die des angeblichen Pastors Andräs Pandy, die Allgemeinheit erschüttert hat und das Land erneut in die Schlagzeilen der Weltpresse brachte? In diesem Herbst ist dazu ein Buch erschienen (siehe Buchtip), das, ausgehend vom Fall des mutmaßlieben Kindermörders Dutroux, eine Fülle ebenso interessanter wie deprimierender Aufschlüsse bietet, das am Beispiel Belgien die Horrorvision einer - nach Ansicht des Autors - möglich gewordenen europäischen Zukunft entwickelt und sich mit der internationalen Dimension von Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornographie auseinandersetzt. Es heißt: „Die Kinderfänger. Ein belgisches Drama von europäischer Dimension." Sein Autor ist der junge deutsche Journalist Dirk Schümer, Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für Nordeuropa, Belgien und die Niederlande.

Morbide Strukturen

Der belgische Mädchenmordskandal, der viel zu spät mit der Verhaftung von Marc Dutroux im August des Vorjahres geplatzt ist, hat ganz Europa bewegt: zum einen wegen der Grauen-haftigkeit der Kinderschicksale und zum anderen wegen der unglaublichen Leichtfertigkeit der Behörden im Umgang mit dem Phänomen des Verschwindens so vieler Mädchen. In Belgien selbst wurde das Vertrauen in die Institutionen dadurch in einem solchen Ausmaß erschüttert, daß man von einer Staatskrise sprechen kann. Buchstäblich alles wurde von den Bürgern in Frage gestellt, auch der Staat selbst. Hier setzt Schümer mit seiner Analyse an, aus der ich einen Absatz zitieren möchte: „Eine Gewißheit hat die belgische Krise zerstört. Eine Zeitlang schien es so, als sei mit dem Triumph des marktwirtschaftlichen Systems das ,Ende der Geschichte' angebrochen. Doch die westlichen Strukturen sind viel anfälliger und morbider, als es auf den ersten Blick scheint. In Belgien bedurfte es zweier Kriminalfälle, des Mordes an Cools und der Morde an den unschuldigen Mädchen, um allen Bürgern das gemeinsame Wirken der Mafia und des Parteienstaates vor'Augen zu führen. Es ist diese unheilige Koalition - und nicht irgendwelche ephemeren ideologischen Fragen — gegen welche die Bürger zu Felde zogen, als sie ihren Staat als Mittäter brandmarkten und ihn dafür verfluchten."

Verkommene Justiz

Die belgischen Zustände, behauptete der Untersuchungsrichter Jean Marc Connerotte heuer im März vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuß, zeichneten sich dadurch aus, daß Politik und Justiz „auf allen Ebenen" mit der organisierten Kriminalität verquickt seien. Schümer greift diese Feststellung auf und spricht von einer „Verfilzung des kriminellen Systems mit dem staatlichen". Die Polizei stecke natürlich auch mit drinnen. Dieser Untersuchungsrichter Connerotte, der erfolgreich die zuvor verschleppten, verschlampten Ermittlungen gegen Marc Dutroux geleitet hatte, wurde endgültig zum Volkshelden, als er vom Kassationsgerichtshof in Brüssel wegen eines geringfügigen Formfehlers im Oktober 1996 vom Fall Dutroux abgezogen wurde. Connerotte hatte nämlich die unglaublichen Schlampereien der Justiz öffentlich gegeißelt. Mit Connerottes Sturz sei die „Verkommenheit der Justiz" endgültig bewiesen, ist Schümers Schlußfolgerung. Gleichzeitig wurden die Verschwörungstheorien der Bürger immer abenteuerlicher und radikaler. Denen „oben" wurde jetzt schon alles zugetraut.

Dirk Schümer geht Verflechtungen und Verfilzungen nach, verbotenen Geschäften, der Organisierten Kriminalität und entwirft ein Sittengemälde, das ihn zu dem Schluß kommen läßt, hier sei der Staat zum „potentiellen Feind" seiner Bürger geworden.

Begonnen habe es schon viel früher, schreibt Schümer, als dank sozialdemokratischer Politiker wie Andre Cools in Wallonien ein Klima umfassender Korruption entstand, an dem später auch die Christdemokraten Anteil hatten: illegale Parteienfinanzierung, Politikerbereicherung, Mord. Andre Cools fiel 1991 seinem eigenen System zum Opfer. Die Killer, in Sizilien angeheuert, sind mittlerweile gefaßt, die Anstifter werden hoch oben in Cools' eigener Partei vermutet. Das war wohl auch der Grund, warum Polizei und ;Justiz zunächst jahrelang planmäßig im dunkeln getappt hatten. Im Fall Cools ebenso wie im Fall Dutroux. Denn was sollten in diesem Klima, in dem frühere Minister straflos abgeknallt werden konnten, ein paar verschwundene Mädchen für eine Rolle spielen?

Ein besonders interessantes Kapitel widmet Dirk Schümer der belgischen Presse. Die meisten Medien haben eine klare Kampfposition gegen Politik, Justiz und Polizei eingenommen, haben das Mißtrauen der Bürger gewaltig verstärkt und das Klima im Land zusätzlich aufgeheizt - als wäre die Mädchenmordgeschichte für sich nicht schon emotionsgeladen genug. Journalisten und Angehörige der Opfer wurden eine große Familie. Man war im Fernsehen per du miteinander, der allergrößte Schmerz wurde öffentlich zur Schau gestellt, Privatheit und Intimität von Menschen rücksichtslos zerstört. Damit stiegen Auflage und Quote beträchtlich, eine rationale Diskussion des Vorgefallenen wurde unter diesen Umständen fast unmöglich.

Auf der anderen Seite wäre es ohne diese massive Kampagne der Medien wahrscheinlich gar. nicht gelungen, die Behörden endlich zum Handeln zu zwingen. Vermutlich gehört das zum Schlimmsten, was einer Demokratie passieren kann: daß auflagenund quotengeile Medien den Bürgern korrekter und vertrauenswürdiger erscheinen als die Justiz - und das wahrscheinlich mit gutem Grund.

In diesem Kontext erklärt sich auch das von Schümer beschriebene ratlose Unbehagen der Intellektuellen, die Zurückhaltung derer, die nicht mit dem Boulevard mitheulen möchten, sich aber ebensowenig auf die Seite der Behörden stellen wollen - nachdem viele von ihnen jahrelang den Staat und sein Verhalten wütend angegriffen hatten.

Klima der Wut

Da der mutmaßliche Mädchenmörder Dutroux nachweisbar mehrmals in die Slowakei gefahren war, geht der Autor auch diesen Spuren nach. Was dabei herauskommt, sind allerdings mehr Fragen als Antworten: Bestand Verbindung zu osteuropäischen Bordellen, die Kinder verkaufen? Gibt es ein globales Netzwerk für Kinderhandel und Kinderpornographie, in das auch höhere belgische Kreise involviert sind? Wer? Wie hoch oben verbergen sich Täler, die Enttarnung be fürchten? Wie sehr sind diese immer noch imstande, die Ermittlungen zu behindern? Die Fragen der Belgier sind auch die des Autors. Überprüfbare Antworten darauf gibt es bis jetzt kaum unter anderem deswegen, weil die belgische Justiz keinerlei Interesse daran zeigt.

Dazu paßt, daß der frühere belgische Justizminister Wathelet, der daheim nicht mehr tragbar war, vor kurzem Mitglied des europäischen Gerichtshofs geworden ist - gegen einen mit großer Mehrheit beschlossenen Mißtrauensantrag im Europaparlament, demzufolge das politische Vorleben dieses Mannes mit der Würde eines europäischen Richters nicht vereinbar sei.

Dirk Schümer beschreibt exakt das Klima der Wut, der Verdächtigungen und der zuweilen schon paranoiden Verschwörungstheorien, die durch Korruption und Indolenz von Politik, Justiz, Polizei entstanden sind. Aber gerade deswegen fragt sich, ob dieses „belgische Drama" tatsächlich eines „von europäischer Dimension" ist, wie der Untertitel des Buches lautet. Ob es nicht doch spezifisch belgische Umstände sind, die diese scheußliche Tragödie hervorgebracht haben? Der besorgte Leser des aufregenden Buches wird das zumindest hoffen.

Der Autor ist

ORF Journalist und Historiker.

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