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Der Stiefel ohne Absatz

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Italiens Wirtschaft hat im letzten Jahrzehnt unerhörte Fortschritte gemacht. Aus einem Staate, dessen Armut sprichwörtlich war, hat es sich unter die ersten Industrieländer der Erde hinaufgearbeitet. Die Zunahme seiner Industrieproduktion war im Jahre 1959 die höchste der Welt (Rußland, soweit uns seine Zahlen bekannt sind, inbegriffen), nämlich 15 Prozent! Einige seiner Industrieunternehmungen, wie die Fiat, die Montecatini und die Pirelli, haben Weltgeltung und gehören unter die ersten hundert „Großen“ der Welt.

An dieser Wirtschaft aber hängt ein Bleigewicht, das es an der Entfaltung seiner ganzen Kraft hindert, und ihm die besten Kräfte aussaugt: der „Mezzogiorno“, der Süden Italiens, bestehend aus dem südlichen Teil der Halbinsel und den Inseln Sizilien und Sardinien, mit einer Bevölkerung von 19 Millionen, also knapp zwei Fünftel des Gesamtbevölkerung des Landes, der kaum anders als ein „unterentwickeltes Gebiet“ bezeichnet werden kann.

Die Armut Süditaliens ist nicht naturbedingt, sondern durch Jahrhundertelange Mißwirtschaft verursach^. Im Altertum galt Sizilien als die Kornkammer Roms. Ein Großteil seiner Ffäche gibt, soweit sie bewässert wird, jährlich drei Ernten; es wäre in der Lage, ganz Europa mit Frühgemüse und Frühobst zu versorgen. Auch seine Bodenschätze sind nicht unerheblich, und erst kürzlich wurden an verschiedenen Stellen Erdöl- und Erdgasvorkommen entdeckt, deren ganze Ergiebigkeit noch nicht festgestellt worden ist. Dennoch lebt der größte Teil seiner Bevölkerung in größtem Elend. Mehr als sechzig Prozent seines Einkommens muß der Süditaliener für seine ohnedies sehr frugale Ernährung ausgeben; eine einzige Mahlzeit am Tag ist bei einem Großteil der Bevölkerung Regel. Dinge, wie Schuhe, Strümpfe, ein Bett, deren Besitz im übrigen Europa als Selbstverständlichkeit gilt, sind für ihn unerreichbarer Luxus; ein Hemd, eine Hose, eine oder zwei Decken, auf denen er schläft und durch die er sich gegen die Kälte des Winters schützt, sind seine einzigen Habseligkeiten. Glücklicherweise verlangt der Südländer selten mehr. Wenn der Gutsbesitzer in der Erntezeit durch das Dorf geht und einen Siesta haltenden Bewohner auffordert, sich bei ihm zur Arbeit zu melden, erhält er nicht selten die Antwort: „Danke, Exzellenz“ (jede Respektsperson ist „Exzellenz“), „ich habe heute bereits gegessen“; damit sind alle seine Bedürfnisse auf 24 Stunde gedeckt.

Im Jahre 1950 wurde ein Plan zur Hebung der süditalienischen Wirtschaft aufgestellt und seine Durchführung einer eigenen Körperschaft, der „Cassa per il mezzogiorno“ (Kasse für den Süden) anvertraut. Ihr wurden ursprünglich 1000 Milliarden Lire (zirka 1,66 Milliarden Dollar) für die ersten zehn Jahre zur Verfügung gestellt. Aber bereits im Jahre 1952 erkannte man, daß diese Summe vollkommen unzulänglich war; die Durchführung des Planes wurde auf 15 Jahre erstreckt, und die Summe auf 2078 Milliarden Lire (3,35 Milliarden Dollar) erhöht.

• Zu Beginn war beabsichtigt, nur der rückständigen Landwirtschaft Unterstützung zu gewähren; für die geplanten Industrien sollten lediglich Vorarbeiten, wie Straßen, Strom, Wasserkräfte usw. geschaffen werden. Aber sehr bald wurde man sich bewußt, daß dieser Weg nicht zum Ziele führte. Vor allem hatte man bei der Landwirtschaft das Ziel zu hoch angesetzt: Man hatte nicht weniger als neun Millionen Hektar für Bonifizierungsarbeiten vorgesehen. Dieser gigantische Plan erwies sich als undurchführbar, und man mußte sich darauf beschränken, 1,7 Millionen Hektar, deren Boni-fizierung baldige Resultate versprach, zu modernisieren; von diesen sollten wieder 400.000 Hektar in Flächen mit besonders hoher Rentabilität (Gemüse-, Obstbau) umgewandelt werden. Es mußte aber auch konstatiert werden, daß gewisse Bonifizierungen nicht nur keine Neueinstellung von Arbeitskräften bewirkten, wie man eben erhofft hatte, sondern, im Gegenteil, zur Entlassung von Landarbeitern führten. Hier war also höchste Vorsicht angebracht. *

Noch weniger hatten sich die durchgeführten Vorarbeiten für Industrien bewährt, denn die erwarteten Industrieunternehmungen sind einfach ausgeblieben. Im Lande selbst fehlen Unternehmungsgeist und Kapital: Der Norden aber, und noch weniger das Ausland, zeigen keine Lust, sich in einem Lande zu betätigen, in dem mangels Kaufkraft der Bevölkerung kein Absatz zu erwarten war, qualifizierte Arbeiter, ja selbst die Ausbildner dieser Arbeiter erst in jahrelanger harter Arbeit herangebildet, die Interesselosigkeit, teilweise sogar die Feindseligkeit der Bevölkerung, der Widerstand und die Unfähigkeit der lokalen Behörden überwunden werden müßten, ein Land, in dem vor- und weiterverarbeitende Industrien fehlten und in dem schließlich die herrschende Korruption einen Teil der investierten Summen bestimmt in fremde Taschen verschwinden ließ. Der ursprüngliche Aufbauplan mußte daher schon im Jahre 1952 geändert werden: Zu Beginn waren ^7 Prozent der zur Verfügung stehenden Summen der Landwirtschaft zugedacht gewesen; jetzt wurde ihr Anteil auf 55 Prozent beschränkt, dafür wurden 250 Milliarden für den Aufbau einer Industrie bereitgestellt. Industrieunternehmungen, die sich im Süden etablieren, erhalten nunmehr namhafte Subventionen (bis 57 Prozent der Gesamtinvestitionen!). Tatsächlich entschloß sich unter solchen Voraussetzungen eine Anzahl Unternehmer, sich im Süden zu etablieren, so daß gegen 60.000 Arbeiter eingestellt werden konnten. Da diese Entwicklung aber die gehegten Erwartungen bei weitem nicht erfüllte, mußte sich der Staat entschließen, direkt einzugreifen: Man beschloß die Verpflanzung einer Anzahl von Großbetrieben, an denen der Staat finanziell beteiligt war, nach Süditalien. Allein in den letzten vier Jahren haben solche Unternehmungen 800 Milliarden Lire im Süden investiert. Trotzdem läßt die Industrialisierung noch viel zu wünschen übrig. Die wenigen vorhandenen Betriebe sind in einigen Städten konzentriert, während die Arbeitslosigkeit infolge des herrschenden Systems der landwirtschaftlichen Saisonarbeit gerade auf dem flachen Lande besonders drückend ist. *

Was sind nun die Ergebnisse der unerhörten Anstrengungen, die Italien gemacht hat und noch macht, um den Süden aus den Sumpf zu ziehen? Das Nationaleinkommen des Südens be-, trug im Jahre 1959 3540 Milliarden, die Ausgaben dagegen 3545 Milliarden Lire, so daß also für Investitionen keine Lire übrigbleibt. Diese mußten aus dem Norden kommen, der allein in den letzten Jahren 900 Milliarden investiert hat. Immerhin zeigt sich ein gewisser Fortschritt gegenüber den früheren Jahren, die noch ein erhebliches Manko aufgewiesen haben; es ist somit zu erwarten, daß der Süden in den nächsten Jahren einen, wenn auch bescheidenen Überschuß aufweisen wird, der dann für Investitionen verwendet werden könnte. Weniger erfreulich ist das Bild, wenn wir das Einkommen des einzelnen Individuums berücksichtigen: Es betrug im Jahre 1951, also zu Beginn der Aktion, 110.000 Lire jährlich und ist seither auf 172.000 Lire (280 Dollar) gestiegen, gegenüber einem Durchschnitt von 370.010 Lire im Norden und mehr als 360.000 Lire in Deutschland. Diese Diskrepanz würde sich noch bedeutend erhöhen, wenn die südlich der Toscana gelegenen Gebiete, die, besonders was die

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