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Der Tisch der Nationen

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Am 24. Oktober begeht Oesterreich, mit 60 anderen Staaten, den Tag der Vereinten Nationen. Was hat die Welt, was hat Oesterreich heute von den UN zu erhoffen, zu erwarten? Wer diese Perspektiven richtig werten will, muß die Anfänge und Ursprünge der Vereinten Nationen betrachten; er wird dann erstaunt sein über die vielfältige und überraschend große Leistungsfähigkeit und Arbeit dieses merkwürdigen Gebildes.

Die Anfänge dieser Organisation, die es sich im Artikel 1 ihrer Satzungen als Hauptaufgabe vorgenommen hat, „den Weltfrieden und die internationale Sicherheit aufrechtzuerhalten“, sind sehr genau im letzten Kriege 2u fixieren. Präsident Roosevelt spricht zum erstenmal in einer Erklärung vom 1. Jänner 1942 von den „Vereinten Nationen“: 26 Nationen verpflichten sich hier, weiterhin gemeinsam gegen die Achsenmächte zu kämpfen. Die „Vereinten Nationen“ sind also, im Kriege, als ein Kriegsinstrument entstanden, als ein kriegerischer Block, der gegen einen anderen Kriegsblock seine Kräfte ballt. Viel von dieser Anfangssituation haftet den UN heute noch an; so ist das Deutsche nicht als Amtssprache zugelassen, und, während etwa Kostarica, Honduras, Libanon, Liberia und einige andere Staaten, die wichtige Rohstoffe im Kriege vermittelten und Zubringerdienste leisteten, Mitgliedstaaten sind, wurden bisher die Staaten Zentraleuropas nicht ufgegenommen, außer Oesterreich also auch Deutschland, die Schweiz, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Spanien. Es entsprach also, was heute oft nicht gesehen wird, direkt der Natur der Sache, daß sich diese Blockkonstruktion der Alliierten fast automatisch nach Kriegsende in einen Ost- und einen Westblock aufspaltete! Die Geburtsfehler sind immer die schwersten. Was nicht sagt, daß sie nicht zu beheben sind.

Ein wahrscheinlich noch schwererer und verhängnisvollerer Geburtsfehler als jener, der mit dem Anfang der Vereinten Nationen gegeben ist, . ist im Kern ihrer Ideologie, in der Mentalität ihrer Gründer gegeben. Die eigentümliche Größe und die ganze Misere dieser Organisation, die der Welt den Frieden, d i e Sicherheit, d i e Freiheit von Furcht, Not, Mangel, Terror und Gewissenszwang geben will, wird aus ihren geistigen und religiösen Ursprüngen sichtbar. Diese lassen sich mindestens in die Umgebung des Täuferkonzils 1550 in Venedig rückverfolgen. Verfolgte religiöse Nonkonformisten aus ganz Europa, meist Wiedertäufer und Antitrinitarier, die von Katholiken, Lutheranern und Kalvi-nisten gleichermaßen verfolgt wurden, kamen damals in Venedig, dann in Amsterdam und schließlich in London, wo sie festen Fuß fassen konnten, zusammen und entwickeln sehr früh jenes. Weltfriedens- und Weltbefreiungsprogramm, das uns heute das feierliche Vorwort der Satzungen der Vereinten Nationen vorstellt. Auf der Grundlage der Menschenrechte, der Toleranz, der gegenseitigen Achtung sollen sich, jenseits der mörderischen Bindungen der alten Welt Alteuropas, alle Menschen vereinen, die- eines guten Willens sind.

Das war damals und ist es noch heute, das Glaubensbekenntnis eines religiösen Nonkonformismus eines Deismus, der bewußt Abstand nahm von Bindungen an die großen Konfessionen Alteuropas. Dafür aber ging dieser DeisiTui der Täufer, ,;Schwärmer“ (wie sie Luther zuerst nannte) und Unitarier (die an ein „höchstes Wesen“ im Gegensatz zum tri-nitarischen Gott glauben), eine verhängnisvolle Bindung ein mit einem Chiliasmus, der heute noch das Wesen von Männern wie Roosevelt und nicht wenigen Initiatoren und Hauptmitarbeitern der Vereinten Nationen geprägt hat und prägt: hier waltet nämlich die Ueber-zeugung, daß es der an einem sakralen runden Tisch vereinten Brudergemeinde der von Gott inspirierten Individuen und Heilsvölker gelingen m u ß, das rechte Wort zu finden, die Sprache Gottes zu sprechen und alle Probleme des Menschen auf Erden zu lösen. Diese religiöse chiliastische Ideologie glaubt nämlich — und das bezeugen die Quellen von den Täufern des 16. Jahrhunderts bis zur Gegenwart —, daß die „Brüder“, so sie sich nur zusammensetzen, vom Pfingstgeist erfüllt werden und alle eine Sprache sprechen: die Sprache des Heiligen Geistes. Inspiriert, in. den gemeinsam, in Eintracht gefaßten Beschlüssen — das ist die Grundüberzeugung dieser „inspirierten Demokratie“, die hier noch starken Zufluß aus dem Puritanertum und Presbyterianertum erhält —, begeistet und begeistert von der Rede, von der Einatmigkeit der vielen Kongresse, haben dann die Teilnehmer auszuschwärmen und der ganzen Welt Brot, Frieden, Befreiung von Not zu bringen. Die Segnungen also der Zivilisation, der Hygiene, die Pflege der Gesundheit, die Verbesserung der Anbaumethoden und alle jene Dinge, die heute den zahlreichen Unterausschüssen der UN anvertraut sind, die alle magisch-technizLstische Heilsnamen besitzen: UNNRA, FAO (Ernährungs- und Landwirt-“schaftsorganisation“), UNESCO (Erziehungs-, Wissenschafts- und Kulturrat), WHO (Weltgesundheitsorganisation), UNAC (Kinder-hilfswerk), UNREF (Flüchtlingshilfe) und ein Dutzend andere.

Die sehr segensreiche, in Europa oft wenig bekannte Tätigkeit solcher Organisationen, beseelt durch die Arbeit von opferwilligen Menschen, die an ihre Mission glauben, sollte allein bereits warnen, dieses chiliastische Schwärmertum nicht ernst zu nehmen. Als solches mußte es aber hier vorgestellt werden, weil seine Ideologie mit ihrem Unglauben an die Erbsünde, an den guten geschichtlichen Sinn historischer Unterschiede zwischen den Menschen und mit ihrem fanatischen Glauben an das Sprachenwunder, das ja jahrhundertelang in der Gemeinschaft dieser Schwärmer und Sektierer, die sich inspiriert fühlten, tatsächlich irgendwie gegeben war, eine Hauptursache für das Scheitern so vieler UN-Bemühungen in den letzten Jahren ist. Und, was noch bedenklicher ist; ferade jene Menschen, die an der Gründung der Vereinten Nationen und ihrer Arbeit lange lebhaftesten und leidenschaftlichsten Anteil nahmen, drohen heute, in Amerika zumal, den Glauben an die “Vereinten Nationen“ zu verlieren, weil ihr Denken nicht imstande ist, sich aus der Falle ihrer Ideologie zu befreien und die Eine Menschheit zu sehen, als das, was sie wirklich ist: nicht eine Gemeinde von Inspirierten, die alle eine Sprache sprechen, sondern eine Gesellschaft von Menschen und Völkern, die sehr viele und sehr verschiedene Sprachen sprechen, gerade auch, wenn sie hier gezwungen werden, in englischer Sprache und mit denselben magischrfetischistischen Heilsworten von „de-moeraey“, „progress“, „culture“, „civilization“ ihre sehr eigenen, auf jahrhundertelangen eigenen Erfahrungen beruhenden Glaubensüberzeugungen auszusagen: also das, was sie unter dem Heil aus dem Volke und für ihre Völker, was sie unter „Herrschaft“ und „Ordnung“, „Recht“ und „Gerechtigkeit“ verstehen.

Es sind ja nicht nur die Sowjets (was so gerne übersehen wird), die energisch darangehen, das Sprachgut des Westens und Europas in ihre Dienste zu überführen und ihren Begriff von „Demokratie“ und „Gerechtigkeit“ zum Dogma für alle zu erheben. Es sind alle diese Menschen und Völker zwischen Indus und Jangtsekiang, zwischen Atlas und Kongo, zwischen Bagdad, Teheran und Timbuktu, zwischen Rio de Janeiro und Madrid, zwischen Drau und Rhein, die hier zu Wort kommen wollen. Zu ihrem Wort. Zu dem, was sie begreifen, und in ihre nur äußerlich mit dem puritanisch-inspirierten „aufgeklärten“ Westen übereinstimmenden Begriffen fassen wollen, die in Wirklichkeit aber das fassen, womit die nationale und politische Eigenerfahrung von Jahrhunderten, manchmal von Jahrtausenden, sie gefüllt hat.

Das innere Schicksal der Vereinten Nationen, ihr mögliches Wachsen in die Zukunft hinein wird davon abhängen, ob sich ihre Inspiratoren und heute maßgebenden Manager entschließen, neben ihrer eigenen Ideologie auch andere Denk- und Glaubens-Systeme zuzulassen, und also sich selbst das Gehör öffnen, um die Stimme und Sprache anderer Geistkontinente zu vernehmen. Als ein gutes Vorzeichen dafür darf die von den USA inspirierte Wahl einer Inderin zur Vorsitzenden der Vollversammlung gesehen werden: die notorische Schwerhörigkeit, die Asiens Völker dem Westen im allgemeinen, den Vereinigten Staaten im besonderen vorwerfen, hat hiermit vielleicht eine wichtige Niederlage zugunsten einer Hellhörigkeit für andere Sprachen, andere Sitten erlitten.

Wenn wir nun, im Angesicht der prekären Ursprünge und Anfänge die tatsächlichen Leistungen der Vereinten Nationen in der ersten, nunmehr am Ende stehenden Nachkriegsperiode, besehen, so erweisen sich diese erstaunlich groß. Irgendwie verdanken wir alle unsere „Existenz“, unser nacktes Dasein, der Existenz der Vereinten Nationen. Existenz, das will hier so verstanden werden, wie es der enge Wortsinn des Alltags versteht: als ein „Existieren“, so recht und schlecht, mitten im Wirbel der Nöte und Zeiten. Rein durch ihre Existenz, durch ihr Dasein, das von keiner Großmacht und keiner Kleinmacht (die, wie viele Belege zeigen, in ihren' Exzessen nicht weniger gefährlich sein kann als eine Großmacht) in diesen schweren kriegsnahen letzten Jahren übersehen, überhört werden konnte, haben die Vereinten Nationen unendlich Wichtiges geleistet. Sie waren und sind tarsächlich ein Forum, das, gerade in unendlich scheinenden Streitgesprächen, die Weltgegner zwingt, Rede und Antwort zu stehen vor der gesamten Weltöffentlichkeit. Wobei jede Ausflucht, jedes Schweigen, jedes Schimpfwort, jeder Exodus, jede Attacke gleichermaßen registriert und von der ganzen Welt zur Kenntnis genommen und in Rechnung gestellt wird. Von der ganzen Welt? Jawohl! Denn die wenigen Repräsentanten der Ostblockstaaten vermelden sehr genau die Stimmung und den Wasserstandsbericht ihren Regierungen, und viele Beispiele zeigen, wie wirksam das sein kann. Im Frühjahr 1946 zogen, nachdem sie heftig gegen die Behandlung der persischen Beschwerde im Sicherheitsrat protestiert hatten, die Sowjets ihre Truppen aus Persien zurück. Der Bürgerkrieg in Griechenland wurde durch den Sonderausschuß der UN für den Balkan (UNSCOB) weitgehend unter die Kontrolle der Weltöffentlichkeit gebracht. In den äußerst gefährlichen Unruhen in und um Palästina verlor der UN-Vermittler, Graf Bernadotte, sein Leben, sein Werk aber wurde durch Ralph Bunche erfolgreich fortgesetzt. Die Round-Table-Konferenz im Haag 1949/50 beendete die Kämpfe zwischen Holland und Indonesien und endete mit der Anerkennung Indonesiens als unabhängiger Staat. Der Streit zwischen Indien und Pakistan um das Grenzland Kaschmir, der sich zudem noch in einen Glaubenskrieg auszuweiten drohte, konnte durch UN-Vermittler eingedämmt werden. Damit aber stehen wir bereits, in der Chronik der letzten Jahre, vor den Toren Berlins und vor den Toren Koreas. Es ist heute noch nicht möglich, den armierten Einsatz der Vereinten Nationen in Korea voll und ganz zu würdigen. Es ist möglich, daß er Europa und der Welt einen Weltkrieg erspart hat.

Wer freilich diese echten Erfolge der Vereinten Nationen unter die Lupe nimmt, wird beobachten: Nirgends können aus sich heraus die Vereinten Nationen „Lösungen“ bringen. Das könnten sie nur, wenn sie tatsächlich eine Heilsgemeinde von Inspirierten wären. Wohl aber können sie ein anderes: sie können den Raum, den unersetzlichen Raum bilden, schaffen und hegen, in dem im Streitgespräch vieler Jahre und Jahrzehnte echte Lösungen heranreifen können. Vorausgesetzt: daß keine Macht aus-s p-r i n g t und daß die großen und kleinen Mächte und Staaten, die bisher ob des Druckes dieses und jenes Teilblocks nicht aufgenommen wurden, endlich als Mitgliedstaaten aufgenommen werden.

Die Erfahrungen der letzten acht Jahre zeigen bereits: wer die Vereinten Nationen ernst nimmt, nimmt sich selbst ernst, schont sich selbst — nicht nur in den Augen der WcIfJfT.atlichkeit, sondern in der eigenen Substanz —, weil er in diesem Forum lernen kann, sich zu zügeln und zu zähmen, Enthaltung und Geduld zu üben. Beides ziemt den Kleinen wie den Großen.

Oesterreich brauchte dann in diesem Sinne nicht ungeduldig zu sein, wenn es später als andere Aufnahme findet in eine Organisation der Vereinten Nationen, die sich selbst aufwertet, indem sie die Anliegen derer, die drinnen, und derer, die draußen sind, unerbittlich ernst nimmt und nicht ruht, bis alle wirklich an einen Tisch gebracht sind, an dem sie bleiben wollen, weil sie erkennen, daß Streitgespräche hier vorteilhafter und billiger sind als alle die anderen alten üblen Spiele, so zwischen Völkern zuvor geübt wurden — solange es keinen Tisch für alle gab.

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