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Der Tod des Volkstribunen

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Paris, im April

Die Vierte Republik bezeugte Edouard Herriot, dem großen Volkstribunen der Dritten Republik, nach seinem Tode, wie sehr sie eine geistige Bindung an die Vergangenheit sucht, um im Zeitalter der Wasserstoffbomben und Fernraketen die Kontinuierlichkeit der französischen Werte zu dokumentieren. Aber alle, die in Lyon hinter dem Sarge Herriots schritten, mußten sich bewußt sein, daß nicht nur eine Person, sondern ein Zeitalter begraben wurde, jene sprühende, prickelnde Epoche der Jahrhundertwende, die noch einmal ihre Auferstehung nach dem Wahlsieg Herriots 1924 gefunden hatte. Damals erlebte Paris die letzte echte Prosperität, die Hoffnung der Nation wurde im Völkerbund verkörpert, und die Lebensfreude war noch nicht durch jene totalitären Gewalten bedroht, die Europa sehr bald in ein Tollhaus verwandelten.

Wir sagen: Ende einer Epoche. Ist es nicht symbolisch, daß Herriot, der Freimaurer und Vorkämpfer eines laizistischen Staates, ausdrücklich ein kirchliches Begräbnis wünschte? Mag auch Da1adier von einem Attentat gegen die Republik sprechen, Lyon und Frankreich bestätigten die im' Tode herbeigeführte Versöhnung zwischen Kirche und Staat.

Die großen Geister der Radikalen Partei, welche die Trennung von Kirche und Staat in oft schmerzlicher und dramatischer Form durchführten, vermochten sie dieses Symbol zu erkennen und wußten sie um den Zerfall einer Partei, die in so eindrücklicher Form das französische Bürgertum verkörperte?

Herriot hatte immer großen Wert auf die Einheit der Partei gelegt, doch die letzten Jahre wurden durch persönliche Spannungen überschattet, und selbst sein Prestige vermochte die Aufspaltung nicht einzudämmen. Unter der jüngeren Generation erschien Mendės-France als der Wendigste und als die stärkste Persönlichkeit, die der Radikalen Partei zu neuer Blüte verhelfen konnte. Allerdings waren die Ziele von Mendės-France viel weiter gesteckt, um sich mit der Rolle eines wenn auch geachteten Parteiführers zu begnügen. Er beabsichtigte augenscheinlich, mit der Radikalen Partei, in ein gefügiges Werkzeug verwandelt, die absolute Macht im Staate zu erringen. Eine Partei jedoch, die derartig auf das Individuum Rücksicht nimmt, eignet sich sehr wenig als Plattform einer unkontrollierbaren und unbeschränkten Gewalt. Der Ministerpräsident Edgar Faure, persönlicher und Parteifreund von Mendės-France, wurde sehr bald der Gegenspieler des ehrgeizigen Politikers und verhinderte durch rasch angesetzte Wahlen, daß Mendės-France seine Aktionen ausdehnen konnte. In einem großen republikanischen Scherbengericht wurde Faure feierlich durch Mendės-France aus der Partei ausgeschlossen. Doch die Federation des Jura blieb ihrem Vorsitzenden Faure treu und mit ihr die übergeordnete Organisation des RGR (Rassemblement de la Gauche Rėpublicaine), die neben der Radikalen Partei alle jene Splitterparteien umfaßte, die sich ideologisch dem Radikalismus verschrieben haben.

Edgar Faure bildete aus dem RGR eine eigene, wenn auch zahlenmäßig kleine Parlamentsfraktion, die jedoch über sehr geringen Hinterhalt unter den Wählern verfügte. Doch auch diese relativ kleine Abspaltung erzeugte nach dem geheimnisvollen Gesetz, das politische Parteien nach einer ersten Spaltung betrifft, in den eigenen Reihen den Geist der Fronde. Der frühere Bürgermeister von Paris, Lafay, trug durch die Gründung des „Republikanischen Zentrums“ zu einer neuerlichen Dekomposition bei.

Mendės-France stieß inzwischen bei seinem Eroberungszug in der schon geschwächten Radikalen Partei auf immer stärkere Ablehnung. Die „Weisen“, Q u e u i 11 e und Martineaud- Deplat, die bisher die Partei kontrollierten und sich durch sie als ständige Ministerpräsidentschaftskandidaten präsentierten, wurden immer stärkere Gegner einer Tendenz, die sie gegen den Geist und die Geschichte der Partei gerichtet sahen. Mendės-France verstand es jedoch, Herriot für sich zu gewinnen, er stützte sich weiter auf Daladier, letzterer wurde jedoch durch seine betont antiklerikale Haltung und intransigente Einstellung in kulturellen Fragen von zahlreichen jüngeren Parteimitgliedern abgelehnt. Diese Gruppe junger Intellektueller folgte Mendės-France weniger aus ideologischer

Ueberzeugung als aus der Ueberzeugung, in ihm den Vorkämpfer für wirtschaftliche und politische neue Strukturen in Frankreich zu finden. Für sie war er der Mann, der kostspielige und unnütze Kolonialkriege zu beenden wußte und eine Vorstellung von den notwendigen staatlichen Reformen besaß. Gerade von dieser Gruppe ging auch die Initiative aus, in einem Gespräch mit der katholischen Kirche das so heikle Schulproblem zu lösen.

Als Mendės mit sehr fraglichen Methoden, die nicht unbedingt als demokratisch zu bezeichnen sind, den bisherigen Generalsekretär Martineaud-Deplat verjagte und sich selbst zum Chef der Partei und den Meister der Organisation erküren ließ, war der Bruch mit den traditionellen Radikalen nicht mehr aufzuhalten. Unter den Augen Herriots wurde im vergangenen Jahr in Lyon die Trennung kon- sommiert. Eine neue Radikale Partei entstand, angeführt und stimuliert durch den initiativreichen und energischen früheren Minister Andre M o r i c e. Ihm schlossen sich sehr bald 20 von den 80 bestehenden Provinzföderationen an sowie fast alle bisherigen Würdenträger der Partei, wie Q u e u i 11 e und Andrė Marie. Auf dem eben beendeten Parteitag waren bereits 33.000 Mitglieder und 52 Föderationen vertreten. Unter den Delegierten befanden sich nicht nur die ehrwürdigen Häupter, sondern auch zahlreiche Jugendliche, die noch vor einigen Monaten als sicherste Stütze von Mendės-France galten. Darüber hinaus kann man eindeutig feststellen, daß sich in immer stärkerem Maße die Parteimitglieder in der Provinz von Mendės-France abwenden. Die Tradition der Radikalen Partei mit ihrem Symbol der Jakobinermütze erscheint ihnen wichtiger als der gefährliche und undurchsichtige Dynamismus sowie der politische Stil eines Mendės-France. Die so gebildete Radikale Partei verspricht der Regierung M o 11 e t absolute Unterstützung in der Außenpolitik (Gemeinsamer Markt, Euratom und Algerien), hegt jedoch schwere Bedenken gegenüber der Finanzpolitik Ramadiers. Natürlich wird die Hoffnung auf eine neue Einheit der Partei ausgesprochen, die jedoch in keiner Weise um und mit Mendės-France durchgeführt werden kann. Der Parteikongreß erwählte Queuille als Präsidenten, Morice als Generalsekretär und feierte Martineaud-Deplat als den Märtyrer, der die echten republikanischen und individuellen Freiheiten verteidigt hatte. Die Radikale Partei von Mendės, nach dem Platz Valois bezeichnet (dort befindet sich ihr Parteisekretariat), und die Radikale Partei Queuille-Morice kämpfen nun um das Recht, des Namens.

ir iOkn« Slweifefc'wtni sich- die Partei Queuille- Morices in der einen oder anderen Form der bestehenden Regierungskoalition anschließen, die aus Sozialisten und in gewissem Ausmaß mit Unterstützung des MRP und der Duldung der Unabhängigen besteht. Mendės-France steht weiter grollend im Hintergrund. Er verdammt die wirtschaftliche und die Außenpolitik der Regierung, ohne selbst neue Rezepte vorzuschlagen. Dabei werden wichtige Ministerpositionen von Mitgliedern seiner Partei besetzt. Der Platz Valois verfügt über ungefähr 40 bis 50 Abgeordnete, doch von einer Einheit auch dieser Gruppe zu sprechen, wird den Tatsachen nicht gerecht.

Mendės-France wollte mit Hilfe von Herriot einen großen Parteikongreß inszenieren, um die Spaltungen zu beheben und sich neuerlich als Parteichef bestätigen zu lassen. Der Tod des Bürgermeisters von Lyon hat dieses Projekt in unbestimmte Fernen rücken lassen, und alle offiziellen wie persönlichen Kontakte zwischen den einzelnen radikalen Gruppen und Persönlichkeiten scheiterten an der Figur von Mendės- France. Dieser hat sich in keiner Weise bereit erklären können, zugunsten eines Mannes zurückzutreten, der genügend Autorität besäße, die Radikale Partei wieder zusammenzuführen. Mendės-France versucht immer noch, durch sein Leiborgan „Expres“ der französischen Politik neue Impulse zu geben, doch selbst der Verteidigungsminister Bourges-Maunoury ist zum Angriff angetreten und hat gegen den Chefredakteur Servan-Schreiber nach Veröffentlichung einer Artikelserie über die Vorgänge in Algerien unter Verdacht der Korrum- pierung der Armee die Anklage erhoben. Mendės- France vermochte nicht, diese Anklage aufzuhalten, die nun in das langsame Getriebe der militärischen Untersuchung gelangt ist. Aus dem Gesagten ergibt sich, daß auch die Reste der Partei von einer neuerlichen Spaltung bedroht sind, und es bedarf wohl nur eines geringen Anlasses, um sie einzuleiten. So wird die Radikale Partei, Trägerin des Staatsgedankens von der Jahrhundertwende bis 193 8, die Innenpolitik beobachten, sie wird vorläufig jedoch nicht die Kraft besitzen, in einer entscheidenden Weise einzugreifen. Die Ereignisse der Politik spielen sich in einem Raum ab, der dem Geiste des Radikalismus bereits entfremdet scheint. Der Tote von Lyon, dessen Größe als Staatsmann unbestritten bleibt, der sich großer menschlicher Wertschätzung erfreute, hat somit kein politisches Testament hinterlassen.

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