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Der Tod osterreichs

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betitelt, so hätte kein anderer Titel knapper und zutreffender sein können. Denn das Erlöschen der ersten österreichischen Republik, das Niederholen der rotweißroten Fahne von den europäischen Flaggenmasten, war in der Tat das Herzstück des historischen Geschehens jener Jahre. Es scheint daher nicht unrichtig, wenn wir dieses Ereignis zum Prüfstein machen, ob der Auftrag, „auf der Grundlage strengster wissenschaftlicher Objektivität den Verlauf der deutschen Außenpolitik vor dem zweiten Weltkrieg ... wie er sich in den Urkunden darstellt, aufzuzeigen“, Erfüllung fand, und ob die vornehme Art, mit der sich die englische Regierung jedweder Einflußnahme auf die Forschungsarbeit enthielt, durch rückhaltslose Offenheit und nationale Unvorelngenommenhelt der Herausgeber ergänzt wurde.

Es ist recht allgemein bekannt, daß die englische Regierung in den Monaten, die der Annexion Österreichs vorangingen, eine etwas klägliche Rolle ge-. spielt hat. Wären die Herausgeber von Resten mißverstandenen Patriotismus beeinflußt gewesen, so hätten sie sicherlich vor allem jene Dokumente unveröffentlicht gelassen, die das englische Schuldkonto noch mehr belasten, als es die Welt bisher getan hat. Gerade hier aber liegen die Überraschungen der Publikation. Größer, als man gedacht, ist die englische Verantwortung... allerdings auch bewundernswert der Freimut, mit dem man nun von London au die Schuld enthüllt. Bs erweist sich hiebei, daß jene merkwürdige britische Neigung, zwar Chamberlain zu verdammen, aber Lord Halifax, der 1940 Churchills einziger Rivale für die Ministerpräsidentschaft war, durch obstinates Schweigen aus dem Getümmel zu halten, keinesfalls sehr logisch ist. Denn die beiden Männer unterschieden sich nur durch Nuancen. Sie waren beide — um ein handfestes Bild zu gebrauchen — grundsätzlich gegen den Kanibalismus, hielten es aber aus Gründen der „Realpolitik“ für richtig, anzuerkennen, daß es Gegenden gibt, wo man seine Feinde verzehrt, wobei Halifax etwas mehr Wert als Chamberlain darauf legte, daß die präsumtiven Opfer vorerst befragt würden, und auch stets betonte, daß man beim Mahl Messer und Gabel verwenden solle.

Während Simon und Eden dem deutschen Reichskanzler noch einen Fragebogen vorlegen wollten, auf dem dieser seine weltpolitischen Ambitionen hätte eintragen sollen, war Halifax noch einen Schritt weitergegangen und hatte ihm, anläßlich seines Besuches, auch diese Mühe abgenommen. Denn er nannte Hitler mit kaum zu überbietender Deutlichkeit drei Ziele: Österreich, Danzig, die Tschechoslowakei! Hier seien Veränderungen auf dem Wege „friedlicher Evolution“ möglich. Es kann nicht von der Hand gewiesen werden, daß Hitlers Pläne und Absichten durch solche Bemerkungen verhängnisvolle Fixierung erfuhren. Für die von solchen „Anregungen“ unmittelbar Betroffenen wird das ganze SpieI durch eine diplomatische Doppelzüngigkeit nicht sympathischer. An die Vertreter Großbritanniens in Wien und Berlin wurden widerspruchsvolle Instruktionen erteilt, oder man ließ es zumindest geschehen, daß sie unter völlig anderen politischen Voraussetzungen handelten. So konnte es sich ereignen, daß der unglückselige Sir Neville Henderson,als er ein eigenes „Österreich-Offerte* bei Göring untergebracht hatte, hinzufügte: „Aber verraten Sie mich nicht bei meinem Wiener Kolleg e n 1“

Es wird nun vielleicht die Frage gestellt werden, inwieweit die vorliegende Aktenpublikation das Geschichtsstudium der Jüngstvergangenheit in neue Bahnen lenken wird. Da ist denn zu sagen, daß ein eigentliches Geschichtsstudium überhaupt erst mit ähnlichen Veröffentlichungen beginnen kann. Es sind allerdings bereits jetzt eine Unzahl von Büchern erschienen, die sich mit dem zweiten Weltkrieg und seiner Vorgeschichte befassen. Eine nähere Analyse ergibt, daß diese Bücher sich in drei Kategorien teilen lassen: erstens die Erinnerung westalliierter Staatsleute, unter denen Churchills Memoiren eine Sonderstellung einnehmen. Zweitens: nicht vollständig dokumentierte, aber zum Teil blendende Teilstudien, für die Speidels „Invasion 1944“ ein gutes Beispiel ist. Schließlich die große Reihe schwer überprüfbarer, manchmal mit augenscheinlichen Fehlern behafteter Enthüllungen nach dem Muster der „Geheimen Front“. Vollkommen fehlt also die Stimme der authentischen Historiker und der Schriftsteller ersten Ranges. Sie fehlt deshalb, weil entweder das Rohmaterial nicht erschlossen oder den Betreffenden nicht zugänglich ist. Selbst die naheliegendsten und packendsten Themata — es gibt beispielsweise noch keine abgeschlossene Biographie Hitlers I — wurden daher bis jetzt noch nicht behandelt ihrem Arm, weil er fürchtet, sie würde fallen.

Aber sie fährt zurück, wie vor einer giftigen Schlange. Wie sie jedoch dabei zu ihm aufblickt, gewahrt er den Tränenschleier, hinter dem der Haß ein wenig zerschmilzt. Nur ein wenig, aber es scheint John, als öffne sich nun ein schmaler Spalt zu der verschütteten Welt dieser Kinderseele, und er möchte mit der ganzen Kraft seines Herzens diesen Spalt weit aufstoßen. Er muß sich mit aller Gewalt bezwingen, nicht auf das versteinte Geschöpf zuzustürzen, um ihr schmales Gesicht mit dem goldenen Kranz der Zöpfe über der Stirn an seine Brust zu pressen und ihr solange zärtlich über die Schläfen und diese schrecklichen Augen zu streicheln, bis es sie wieder aufschlüge, das Kind die verlorenen Kinderaugen, und sie wieder weineii und lachen könnten.

John preßt seine Lippen zusammen und blickt über das Mädchen hinweg auf die fernen Hügel und in das Blau. Und ihm dünkt auf einmal, als schauten aus diesem Mädchengesicht alle die schrecklichen Bilder der vergangenen Jahre auf ihn, die vielen sterbenden Menschenaugen. Die Worte de Leutnant Reineder kommen 5hm in den Sinn, die er geschrieben hatte über die Morgenstunden in der raucherfüllten, brennenden Stadt, mit den verbrannten, verstümmelten Leichen der Frauen und Kinder auf den Straßen, und auch die Worte, die er geschrieben hatte über den Blick in die vergitterten Viehwaggons. John sieht plötzlich wieder das von Wahnsinn und Angst verzerrte Gesicht vor sich, das Gesicht Bobs, des jungen Soldaten im Boot vor der Insel im Pazifik, der ohne Unterlaß nach der Mutter schrie angesichts der abgeschnittenen Hand, die die Wellen über den Bootsrand gespült hatten. Doch so furchtbar die Last dieser Bilder und Worte auf ihn herabsinkt, John gewinnt auch eine Spur Erleichterung aus ihnen, weil er begreift, daß das Kind vor ihm nicht ihn haßt, sondern die Welt, das Unheil, das zerstörende Schicksal, das nicht er bewirkte, sondern die Zeit. Und es dünkt ihm nun auch, als wäre die Schuld, die er trägt und mit sich herumschleppt seit einem Jahr, geringer geworden, als wöge sie nicht mehr so schwer, wie er immer geglaubt hat, und als habe ich die allgemeine und größere Schuld der Welt nur ein Gefäß gesucht in ihm, in dem sie nun ausgären könnte und sich läutern, um überwindbar zu werden.

Vielleicht spürt das Mädchen etwas von seinem Ringen oder vielleicht bewegt sie nun doch etwas an dem guten, offenen Gesicht des Mannes, so als löse es sich aus den vielen gehaßten Gesichtern, um menschlich zu werden, einem Menschen anzugehören, den man nicht mehr so schrecklich hassen kann wie das Uner-greifbare und Ferne, aus dem einmal die Bomben herabfielen aus einer Nacht, von den Sternen. Und so gibt 6ie, zwar zögernd, nachgiebiger Antwort auf die Fragen, die John ihr stellt.

„Du bist aus der Stadt drüben, aus Koblenz?“

Sie verneint. Aus Frankfurt sei sie.

„Du hast deine Mutter verloren?“

Sie nickt. Er sieht sie an, und ihr Gesicht ist wie erstarrt. Ihre Blicke sind auf seine Brust gerichtet, als spräche 6ie nicht mit ihm, sondern mit seinem Herzen, das dort so wild unter der Uniform klopft.

„Und wo ist dein Vater?“

„Der ist in Rußland gefallen.“

„Hast du keinen BrudeT, keine Schwester?“

„Ich habe zwei Brüder und eine Schwester gehabt, und sie sind mit der Mutter gestorben, in einer Nacht.“

„Durch die Bomben, durch die Flieger?“ fragt er leise und spürt, wie sie neben ihm zittert.

„Ja“, haucht sie.

Er schweigt. Immer noch starrt sie auf seine Brust.

„Ich habe es nicht getan“, sagt er plötzlich.

„Nein“, sagt sie wie ein gehorsames Kind.

„Hör' einmal, wie heißt du denn eigentlich“, fragt er. .Irene...“

„Ja, Irene, hör' zu, vielleicht hat es niemand getan, niemand von uns Menschen ...“

Sie zuckt zusammen und dann blickt sie Von seiner Brust auf und sieht ihm groß Ins Gesicht.

„Vielleicht Gott?“ fragt sie verächtlich.

John atmet schwer. Aber nun ist doch dieser Haß nicht mehr in den Augen. Nur wie fortgesunken scheinen sie ihm zu sein in eine schreckliche Tiefe, und der schwarze Kern auf der blauen Iris, die Pupillen, sind winzige Punkte.

„So darfst du nicht sprechen“, fährt er mühsam fort und fühlt, wie es in ihm ringt, Gedanken und Worte. Das Unaussprechliche quält ihn wie eine persönliche Schuld.

„Gott hat es gewiß nicht getan“, sagt er in ihr wartendes Schweigen. .Gott schaut immer nur zu.“ Er verstummt.

.Du weißt es auch nicht“, sagt sie, und

in ihrer Stimme ist etwas von einem stillen Triumph.

.Das weiß vielleicht niemand“, erwidert er leise. „Aber die Menschen waren es nicht, sie sind nur Werkzeuge, Irene. Es ist das Schicksal der Menschen, daß sie so vieles tun müssen, was sie nicht wollen oder was sie nicht wissen.“

„Das gibt mir die Mutter, die Geschwister nicht wieder“, antwortet sie langsam.

„Aber der Haß gibt sie dir auch nicht“, kämpft er mit ihr. „Du beginnst ihn“, er weist mit der Hand auf die wartende Kinderschar, „sogar schon dort, die Kinder zu lehren. Dabei schaut dir auch Gott zu.“

Ihr Blick, der der Richtung seines ausgestreckten Armes gefolgt ist, kehrt langsam auf sein Gesicht zurück.

John wartet auf eine Antwort. Aber sie schließt nur für eine Weile die Augen und streicht sich über die Lider, als besinne sie sich, und dann geht sie mit langsamen, kurzen Schritten, den Kopf auf die Erde gebeugt, mit hängenden Armen von ihm fort zu den Kindern.

Er hält sie nicht auf und sieht ihr nur nach, wie sie sich dem wartenden Häuflein nähert, vor den Kindern stehenbleibt, auf sie niederblickt und die Hände hebt und über die Köpfe der ihr zunächst Stehenden streichelt. Mit den Händen gibt sie ihnen auch das Zeichen zum Weitergehen, aus der Ferne sieht es aus wie ein Segen, und die Kinder traben gehorsam weiter. Sie folgt ihnen auf dem Fuß, doch ehe sie seinen Blicken an einer Biegung des Waldes

entschwindet, sieht sie einmal schnell und scheu zu ihm zurück.

John steht lange reglos und starrt auf die Stelle, wo sie mit den Kindern verschwunden ist, und er streicht sich ein paarmal mit der flachen Hand über die Brust, wo ihr Blick ruhte, aber er ist sich dessen gar nicht bewußt.

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