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Der „Tod unter Kontrolle”

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In den letzten zwei Jahrhunderten hat sich im abendländischen Kulturkreis ein tiefgreifender Wandel vollzogen. Die landwirtschaftliche und die industrielle Revolution haben zusammen mit ihren Begleiterscheinungen unser Leben in neue Bahnen gelenkt. Von nicht geringer Bedeutung in diesem Entwicklungsprozeß war es, daß im Flusse dieser revolutionären Aende- rungen in unseren Lebensformen die jahrtausendealten Bemühungen des Menschen, sein Leben zu verlängern, es „auszuleben”, von Erfolg gekrönt wurden. Wir sind heute schon so daran gewöhnt, üher neue .Erfolge in den. Be- strpb,upgep, das unentrinnbare Į.ebeqsępde für die Mehrzahl von uns möglichst lang hinauszuschieben, zu lesen, daß wir fast darüber vergessen, wie lange und mühsam der Weg der Menschheit war, bis es zu diesem Triumph menschlichen Geistes über Krankheit und vorzeitigen Tod gekommen ist.

Machen wir einen Streifzug durch die Vergangenheit1. Nur wenige und recht unzuverlässige Unterlagen stehen uns zur Verfügung. Die folgenden Zahlen sind daher für die Zeit bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts nicht als exakte Größen zu werten, sondern als Anhaltspunkte zur Beurteilung der Entwicklungstendenzen.

Knochenfunde lassen es wahrscheinlich erscheinen. daß der prähistorische Mensch nur in wenigen Ausnahmefällen das vierzigste Lebensjahr erreichte. Nach der großen Zahl von Schädelfunden zu schließen, die Spuren schwerer Schläge aufweisen, war ein gewaltsamer Tod damals recht häufig. Für die Bronzezeit wird die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt (diese ist das im folgenden verwendete Maß ZUT Darstellung der Entwicklung der Sterblichkeit) nach Funden in Griechenland mit etwa 18 Jahren angegeben; um 400 v. Chr. soll sie 30 Jahre betragen haben. Die Fortschritte auf kulturellem und zivilisatorischem Gebiet dürften also nicht ohne positive Rückwirkung auf die durchschnittliche Lebensdauer gewesen sein. Untersuchungen über die Sterblichkeit im Rom der frühchristlichen Aera ergaben eine Lebenserwartung von nur wenig mehr als 20 Jahren; in den Provinzen waren die Verhältnisse vermutlich etwas besser. Aus dem dritten nachchristlichen Jahrhundert steht uns die Tafel des Prätorianerpräfekten Ulpianus zur Verfügung, nach der im Durchschnitt die Römer mit einer Lebensdauer von 30 Jahren zu rechnen hatten.

Auch für das Mittelalter liegen nur vereinzelt Angaben vor. Gegen Ende des 13. Jahrhunderts konnte einem englischen Knaben eine Lebensdauer von 35 Jahren in Aussicht gestellt werden. Um die Mitte des 14. Jahrhunderts wütete in Europa die Pest — der Schwarze Tod, dem nach Schätzungen etwa 25 Millionen Menschen zum Opfer gefallen sein sollen, ein Viertel der damaligen Bevölkerung unseres Kontinents. Es dauerte mehr als ein Jahrhundert, bis sich unser Erdteil von diesem schweren Schlag erholt hatte.

Das systematische Studium der Bevölkerung setzte in England im 17. Jahrhundert ein. Nach den — allerdings nicht sehr zuverlässigen — Angaben von Graunt, dem Pionier der Bevölkerungsstatistik, ergibt sich, daß der Engländer damals damit rechnen mußte, nicht älter als 18 Jahre zu werden. Halley berechnete für die Bevölkerung von Breslau auf Grund von Unterlagen aus den Jahren 1687 bis 1691 eine durchschnittliche Lebensdauer von weniger als 34 Jahren. Ein in Genf geborener Knabe hatte im 17. Jahrhundert nur wenig Aussicht, älter als 28 Jahre zu werden. In Schweden, das über die am weitesten zurückreichende Serie von Sterbetafel verfügt, belief sich um die-Mitte des f8. Jahrhunderts die durchschnittliche Lebensdauer auf 33 Jahre.

An der Schwelle zum 19. Jahrhundert dürfte unter den zivilisierteren Nationen eine Lebenserwartung von 35 bis 40 Jahren nicht selten gewesen sein. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts an stehen uns genauere und reichhaltigere Angaben über die Sterblichkeitsentwicklung im abendländischen Kulturkreis zur Verfügung. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich die durchschnittliche Lebenserwartung im Westen wie folgt verändert:

Die Entwicklung der Sterblichkeit im Westen während der letzten 100 Jahre läßt sich folgendermaßen charakterisieren (siehe Stolnitz, A century of international mortality trends, Population Studies, Band 9, 1956):

1. Während des letzten Jahrhunderts konnte die Sterblichkeit so scharf gesenkt werden, daß der Gewinn an Lebensjahren größer war als in den vergangenen zwei Jahrtausenden.

2. Die Verlängerung der Lebensdauer ist erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts ausgeprägter in Erscheinung getreten. Die Gewinne in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts waren im allgemeinen doppelt so groß als die während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erzielten Fortschritte.

3. Ein weiterer bemerkenswerter Zug der Entwicklung im zwanzigsten Jahrhundert ist die Verminderung der regionalen Unterschiede in der Lebenserwartung. Der Rückgang der Sterblichkeit setzte in den einzelnen Ländern zu verschiedenen Zeitpunkten ein; während jene Länder, in denen die Verlängerung der durchschnittlichen Lebenserwartung zu einem relativ frühen Zeitpunkt begonnen hatte, die einzelnen Phasen der demographischen Revolution verhältnismäßig langsam zurücklegten, durchliefen die Länder, die vorübergehend im Rückstand gewesen waren, die einzelnen Stadien relativ schneller. Die zeitweilig zutage getretenen größeren regionalen Differenzen in der Lebenserwartung waren ein Ausdruck der zwischen den einzelnen Ländern bestehenden Unterschiede in der demographischen Entwicklung; während z. B. Oesterreich um die Jahrhundertwende um mehr als vier Dezennien gegenüber den fortschrittlichsten Ländern im Westen im Rückstand war, d. h. erst um 1900 Werte erreichte, die diese Länder bereits mehr als vier Jahrzehnte früher erreicht hatten, betrug der Rückstand um 1950 nur noch ein Jahrzehnt. Um 1900 unterschritt die Lebenserwartung eines Knaben in Oesterreich noch um zehn Jahre den „westlichen” Durchschnitt, um 1950 aber nur noch um vier Jahre.

Für das Jahr 1955 ergeben sich folgende Werte der durchschnittlichen Lebensdauer:

Wenn wir aus unserem Spaziergang durch die Vergangenheit das Fazit ziehen, so ist hervorzuheben, daß er uns anschaulich vor Augen geführt hat, welchen gewaltigen Fortschritt das Abendland auf diesem Gebiet erzielt hat. Unwissenheit der breiten Massen, niederer Stand der persönlichen Hygiene, das Fehlen eines wohlorganisierten Gesundheitswesens, Hungersnöte und Epidemien, niedriger Lebensstandard, schlechte Wohnverhältnisse, unzureichende ärztliche Betreuung der Bevölkerung und ungenügendes Niveau in der ärztlichen Ausbildung, kurz, das Fehlen aller jenen Dinge, die uns heute in einem modernen, zivilisierten Staatswesen als selbstverständlich erscheinen, lassen die hohe Sterblichkeit in der Vergangenheit verständlich erscheinen. Im Zeitraum 1000 bis 1 85 5 wurden in Europa etwa 450 mehr oder weniger lokalisierte Hungerepidemien gezählt. Das schlechte Verkehrsnetz machte es unmöglich, auch aus nicht allzu weit entfernten Ueberschuß- gebieten rechtzeitig Nahrungsmittel herbei- zuschaffen. Pest, Cholera, Pocken und andere Infektionskrankheiten forderten ihre Opfer. Erst die Revolution der Technik hat hier Wandel geschaffen, mögen auch im Anfangsstadium die Auswirkungen der Industrialisierung auf die Sterblichkeit in mancher Beziehung nach ilig gewesen sein. Soziale und wirtschaftliche Faktoren haben zusammen mit den Fortschritten auf dem Gebiete der medizinischen Wissenschaft den Tod „unter Kontrolle” genommen, ihn gezwungen, seine Tätigkeit in das höhere Alter zu verlegen.

Abschließend sei noch darauf verwiesen, daß die Ausführungen über die Verlängerung der durchschnittlichen Lebensdauer nicht als Nachweis für eine Verlängerung der menschlichen Lebensspanne aufzufassen sind, sondern die Tatsache belegen, daß heute mehr Menschen als früher die Fährnisse des Säuglings- und Kindesalters überwinden und ein höheres Alter erreichen. Die weitgehende Ausmerzung der Sterblichkeit an den vorwiegend auf Umweltseinflüsse zurückzuführenden Krankheiten (z. B. Infektionskrankheiten und Krankheiten der Atmungsorgane), denen vor allem Menschen der-jüngeren Altersklassen zum Opfer gefallen sind, verweist darauf, daß in Zukunft weitere Gewinne fast ausschließlich von dem Erfolg unserer Bestrebungen abhängig sind, die Sterblichkeit an den Abnützungskrankheiten (Krankheiten des Kreislaufapparates, Neubildungen, Krankheiten des Nervensystems und der Sinnesorgane) zu senken.

1 Die folgenden Ausführungen stützen sich vorwiegend auf das Buch von Dublin, Lotka und Spiegelmann, Length of Life. New York, 1949.

3 Quelle für 1850 und 1900: The determinants and consequences of population trends, New York, 1953. Der Durchschnitt bezieht sich auf England, Frankreich, Norwegen, Schweden, Dänemark, die Niederlande und Massachusetts (USA).

Quelle: Population, 11. Jahrgang, Heft 4, 1956.

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