7086641-1994_16_20.jpg
Digital In Arbeit

Der Uberlebenskünstler

19451960198020002020

Seine von tausend Jahren geprägten Kennzeichen sind: Dickschädel, Denkerstirn, Spürnase.

19451960198020002020

Seine von tausend Jahren geprägten Kennzeichen sind: Dickschädel, Denkerstirn, Spürnase.

Werbung
Werbung
Werbung

Gestern nacm natte icn 1 einen Traum: Ich befand mich im Jahr 1867 und erlebte die I Bemühungen für den Ausgleich in der Monarchie. Es ging ganz anders aus als erwartet - die Ungarn übernahmen die Führung, der Staat, vielmehr das Reich Ungarn-Österreich wurde geboren. Kaiser Franz Joseph dankte ab, ließ sich scheiden und zog sich mit seiner frisch angetrauten gnädigen Frau Katharina Schratt ins freiwillige Exil Ischl zurück. Kaiserin Elisabeth nahm den Grafen Andräs-sy zum Prinzgemahl und bestieg, vom enthusiastischen Jubel ihrer Magyaren begleitet, den Thron als Königin von Ungarn und den angeschlossenen Ländern. Budapest blühte auf, aber auch Wien wurde nach dem Muster der ungarischen Residenzstadt ausgebaut und modernisiert. Die tolerante ungarische Politik beließ der Stadt am Donaukanal ihre Eigenart, nur die Kaisersemmel und der Kaiserschmarrn wurden verboten, und die Schrammein konnten sich in den Heurigen-lokalen nicht durchsetzen, weil das Volk, wie überall auf der Welt, nur ungarische Zigeunermusik hören wollte.

Es folgten friedliche Jahre der Prosperität, aber der Weltkrieg war nicht zu vermeiden, weil 1914 der Thronfolger Rudolf in Sarejevo ermordet wurde. Der Täter war ein Ungar aus Serbien, der keine Fremden auf dem ungarischen Thron dulden wollte. Das Attentat war eigentlich purer Anachronismus, denn die Herrscherfamilie war durch Einheiraten ohnehin schon magyarisch unterwandert. König Ärpäd von Habsburg erklärte den Serben den Krieg, der nach vier Jahren mit Ungarns Sieg endete. Gegen die heldenhaften Husarenregimenter war kein Kraut gewachsen.

Die Sieger okkupierten mit der Aktion „Heim ins Reich" einen Teil jener Gebiete, wo Ungarn wohnten, wie unter anderen den Balkan, Kanada, Kalifornien und Israel. In lobenswerter Selbsteinschätzung holten sie einstweilen noch nicht die ganze Welt heim. In Rußland setzten sie einen Gnom namens Matthias Räkosi als Gouverneur ein. Großzügig nahmen sie politisch Verfolgte aus dem Reich des Zaren auf, wie Lenin, Trotzki und Stalin, die von da an ihr Leben in einem Wiener Kaffeehaus mit Kartenspiel fristeten. Den Posten des Botschafters in Israel trat ein Karrierediplomat namens Adolf Hitler an.

Der Zweite Weltkrieg blieb aus, weil der Rest der Welt sowieso nicht aufzumucken wagte. Die Atombombe wurde nicht eingesetzt, die Atomwissenschaftler kamen aus den USA alle in ihre ungarische Heimat zurück und werkten an der friedlichen Nutzung der Kernspalterei.

Die Budapester Weltausstellung wurde vorbereitet. Nach langwierigen Verhandlungen erwiesen sich die Japaner als größte Geldgeber. Der japanische Einfluß wurde zur echten Gefahr. Es sah bereits so aus, als wollten sie Ungarn verschlucken.

Im letzten Moment drehten die Magyaren den Spieß um. Ihre Delegationen, die vor der Weltausstellung in Japan verhandelten, hatten den Boden für eine Invasion vorbereitet - Ungarn eroberte Japan! Diese Finte erwies sich als ein Sprungbrett für weitere, längst fällige Eroberungen: So heimste Ungarn den gesamten Femen Osten ein.

In den vierziger oder fünfziger Jahren - ich hatte im Traum keinen Kalender dabei - verwandelte sich das Ungarische Königreich in eine Republik. Andere Monarchien taten das gleiche, als freundliche Geste gegenüber der führenden Nation auf dem Globus. Um es kurz zu machen: Ungarn fand Vorwände, um den ganzen Westen niederzurennen. Den Süden gleich mit, denn dort scheint immer die Sonne. Dem Norden gestanden sie seine Neutralität zu, denn die Gegend war ihnen zu kalt.

Ungarn hatte keine Ambitionen mehr, eine Supermacht zu werden. Das überließen sie Amerika und dem zur Genüge gedemütigten Rußland, das sogar ein Dekret aus Budapest zugeschickt bekam, in dem schwarz auf weiß stand, daß es sich als Supermacht betrachten darf. Ungarn stand über den Dingen. Es ist zur Megamacht geworden.

Heute früh bin ich aufgewacht, und es ist mir eingefallen, daß ich ein Buch zu beenden habe. Bei Durchsicht meiner Gehirnzellen stellte ich fest, daß ich alles, was Ungarn betrifft und von mir eruiert werden konnte, aufgezeichnet habe. Der Magyare steht vor Ihnen, hebe Leser und Innen, seine Sprache, sein Humor, sein Charakter, seine Geschichte, sein.Lebenslauf sozusagen. Da fällt mir noch ein: Zu einem Curnculum vitae hat man auch Paßbilder abzugeben. Betrachten Sie also bitte das Porträt des Ungarn.

Seine von tausend Jahren geprägten besonderen Kennzeichen sind: Dickschädel, Denkerstirn, Spürnase; Augen kurzsichtig, so daß er den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht; auffallende Ellenbogen; stämmige Beine, die nie zugleich auf dem Boden stehen; nie auf den Mund gefallen und viel, allzuviel Herz.

Unverkennbar ein Fremdling mit stark europäischen Wesenszügen. Ein heidnisch gebliebener, tief religiöser Typus, der scheinbar nachts den alten Götzen Blutopfer darbringt, als Nationalhymne jedoch - im Gegensatz zu anderen Völkern, die nur ihr Land preisen - ein Gebet singt. Ein launenhafter Charakter, ständig wechselnd zwischen Selbstsicherheit und dem Gefühl des Verlassenseins. Ist erstere an der Tagesordnung, äfft er andere nach, um ihnen zu beweisen, daß er's wenigstens ebenso gut kann; überkommt ihn letzteres, beißt er die Zähne zusammen, kämpft für seine Eigenart, behauptet sich und überlebt.

Zum Abschluß eine Beruhigung: Meines Dafürhaltens ebbt die Gefahr, wonach aUe Ungarn den gesamten Globus in ein einziges Ungarland verwandeln, langsam ab. Nach der Befreiung ihres Landes strömen die Auslandsungarn eher wieder heimwärts. Sie tun dies in Befolgung ihres alten Wahlspruchs, der lapidar verkündet: Extra Hungariam non est vita.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung