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Der Übergang über die Beresina

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Der Rückzug Napoleons von Moskau hatte sich schon bis Smolensk katastrophal gestaltet: Die Marschwege waren von den Trümmern des Heeres umsäumt. Nach mehreren sdiweren Kämpfen mit den Russen erreichte die Armee am 9. November Smolensk. Auf dem dreiwöchigen Marsch hatte sie mehr als 50.000 Streiter und 350 Geschütze verloren. Aber auch die noch unter Waffen Befindlichen waren vollkommen erschöpft. Und doch stand man erst am Anfang der noch folgenden unsäglichen Drangsale. Die meisten Kavalleristen hatten ihre Pferde verloren und wurden daher in die Infanterie eingeteilt. Schuhwerk und Monturen hingen nur mehr in Fetzen an den Leibern. Selbst hohe Offiziere hatten kaum mehr eine brauchbare Uniform.

Fünf Tage blieb Napoleon in Smolensk und verwendete die Zeit, um in den verbliebenen Rest der Armee halbwegs Ordnung zu bringen. Alles Überflüssige an Munition, Geschützen, Wagen und Ausrüstung mußte über seinen Befahl zerstört werden. Am 13. November brach man von Smolensk wieder auf und bei furchtbarer Kälte marschierte die Armee längs des Dnjepr zunächst nach Orsza, das auf hal-v bem Wege zur Beresina liegt Die Marschordnung war ur. gemein weit auseinandergezogen, so daß die ersten Truppen das 120 Kilometer entfernte Orsza bereits erreichten, als Marschall Ney mit der Nachhut erst von Smolensk abmarschierte. Immer furchtbarer zeigte sich die zerstörende Macht des russischen Winters, unter der die Ordnung immer mehr schwand, so daß bei der Ankunft in Orsza bereits zwei Drittel der Armee in Nachzügler aufgelöst war. Ney könnt; nur mehr mit einem Zehntel seines Korps daselbst eintreffen. In Orsza fanden sich etwas Proviant und Ausrüstungsgegenstände und auch einige Geschütze. Rasch wurde alles an die Truppen verteilt, denn ein längerer Aufenthalt war unmöglich. Napoleon wußte, daß an der zirka 100 Kilometer entfernten Beresina die russischen Korps unter Tschitschagoff und Wittgenstein auf ihn lauerten, um ihm den Ubergang zu verwehren und ihn dadurch völlig zu vernichten.

Ein Ausweichen gab es nicht mehr. Nur an der Beresina konnte Napoleon die Straßen nach Minsk und Wilna erreichen. Vieles, was den Marsch behinderte, wurde zerstört und dabei fiel auch der ganze Brückentrain zum Opfer in der Annahme, daß man ihn zum Überschreiten der festgefrorenen Beresina nicht benötigen werde, ein Irrtum, der sich rächen sollte.

Am 18. November trat plötzlich Tauwetter ein und am 20. begann ein heftiger Regen, der drei Tage ununterbrochen anhielt. War die Kälte schon furchtbar beschwerlich, so war die Nässe und die Erweichung der großen Schneemassen noch weit verderblicher. Die Auflösung aller Ordnung wurde nun vollständig. Zu allem Unglück ging Minsk mit seinen enormen Verpflegsvorräten, mit denen Napoleon gerechnet hatte, am 19. November an die Russen verloren. Jetzt kam für den Rückzug nur mehr der längere Weg nach Wilna in Betracht. Die einzige Hoffnung, dieses Ziel zu erreichen, beruhte auf den beiden Flügelkorps der Marschälle Oudinot und Viktor, in der Stärke von zirka 20.000 Mann, die Napoleon nun in Gewaltmärschen nach Borisow an der Beresina beorderte.

Die Situation war schrecklich. Vom Osten drängte Kutusow mit der Hauptarmee, von Norden kam Wittgenstein und von Süden Tschitschagoff. Alle sollten an der Beresina zusammentreffen, so daß es fast sicher war, daß kein Franzose entkommen und auch Napoleon selbst werde gefangen werden. Am 25. November erreichte man endlich bei Borisow die Beresina. Nur die paar tausend Mann Garde hielten noch halbwegs Ordnung. Es gab fast keine Reiterei und nur wenig Geschütze mehr. Fast das ganze Gepäck war auf dem Wege liegengeblieben. Wie verzweifelt die Lage Napoleons war, kann daraus ermessen werden, daß der Kaiser nach seiner Ankunft an der Beresina befahl, alle Fahnen der Armee, die man bisher vollzählig gerettet hatte, herbeizutragen und alle auf einem .großen Holzstoß zu verbrennen, damit sie nicht in die Hand des Feindes fielen. Napoleon hatte schon von Orsza aus den General Dombrowski mit seiner polnischen Division an die Beresina vorausgeschickt, um den Brückenkopf bei Borisow zu besetzen und dadurch den Übergang freizuhalten. Dombrowski wurde aber von Tschitschagoff mit gewaltiger Übermacht angegriffen und trotz größter Tapferkeit aus dem Brück-nkopf am westlichen Ufer der Beresina über die Brücke zuriickgewM- en, er mußte auch BorLow den Russen überlassen. Nur mit großer Mühe rettete Dombrowski 1500 Mann und 15 Geschütze, die er dem aus Orsza anmarschierenden Kaiser entgegenführte. Als Napoleon von dem Debakel erfuhr, befahl er dem Marschall Oudinot, die von Borisow vordringenden russischen Kräfte anzugreifen und zurückzuwerfen. Oudinot führte den Befehl mit großer Bravour durch und konnte auch Boriscv besetzen. Aber die Hoffnung, die einzige stehende Brücke über die Beresina zu gewinnen, auf der man den durch den Regen hoch gehenden Fluß hätte passieren können, war doch vereitelt. Napoleon beschloß jetzt zu einem Täuschungsmanöver zu greifen. Man hatte ermittelt, daß sich drei bis vier Stunden oberhalb von Borisow bei dem Dorfe Stu-dianka ein Furt befinde. Oudinot erhielt den Befehl, dort mit allen noch vorhandenen Pontoniers, Sappeurs und Mineurs in aller Eile den Brückenschlag durchzuführen. Gleichzeitig wurde die Aufmerksamkeit des Feindes auf Borisow beständig in Spannung gehalten und mit großem Geräusche Anstalten getroffen, als wenn man einige Stunden unterhalb von Borisow bei Ukoloda den Fluß überschreiten wollte. Einwohnern jener Gegend wurde diese Absicht angedeutet. Napoleon versuchte unterdessen die Trümmer seiner Armee einigermaßen zu ordnen. Im ganzen standen ihm durch das Eintreffen Oudinots und Viktors sowie der polnischen Besatzung von Mohilew mit den Resten der eigenen Moskauer Armee noch zirka 30.000 bis 35.000 Streiter zur Verfügung. Ebenso viele Nachzügler und Kampfunfähige harrten der Rettung aus der fürchterlichen Bedrängnis. Um 10 Uhr abends langte Oudinot in Studianka ein. Es mußte eine leichtere Brücke für Reiterei und Infanterie und eine schwere für Artillerie und Fuhrwerk gebaut werden. Da es keinen Brückentrain gab, wurden die Holzhäuser von Studianka niedergelegt und das so gewonnene Material mit großer Mühe während der Nacht für den Brückenbau zugerichtet. Die Beresina ist in jener Gegend zirka 100 Schritte breit und ein bis zwei Meter tief, das jenseitige Ufer ist morastig und befindet sich nicht in gleicher Höhe mit dem anderen; das mußte den Brückenbau sehr erschweren Natürlich war diese Furt auch den Russen wohl bekannt, weshalb sie dort eine ganze Division mit entsprechenden Geschützen in Stellung gebracht hatten. Napoleon geriet wegen dieses neuen Hindernisses in schwerste Besorgnis, da ein Brückenbau im feindlichen Feuer, dazu noch mit so geringen Hilfsmitteln, kaum Aussicht haben konnte. Zur Vorsicht ließ er aber durch Marschall Oudinot auf dem diesseitigen Ufer eine starke Artilleriestellung bez;ehen, um vielleicht doch in einem Artilleriekampfe die Traversierung zu erzwingen. Aber es geschah geradezu ein Wunder. Napoleon hatte die Nacht hindurch mit Oudinot gearbeitet, als beim Morgengrauen Marschall Ney ins Zimmer stürzte und meldete, daß der Feind seine Stellungen geräumt habe und nur einige Sotnien Kosaken auf der Ebene umherjagten. Sofort überzeugte sich Napoleon von der Richtigkeit dieser Nachricht und sah, daß die Täuschung glänzend gelungen war. Tschitschagoff hatte seine ganze Truppenmacht in Borisow und Ukuloda zusammengezogen in der festen Meinung, daß nur dort der Brückenschlag vor sich gehen werde. Nun konnte der Stoß bei Studianka beginnen Napoleon bot seine ganze Tatkraft und seinen grenzenlosen Einfluß bei den Truppen auf, um die beiden Brücken so rasch als möglich fertig zu bringen. Marschall Viktor, Davoust und der Vizekönig sollten vorläufig noch am linken Ufer verbleiben, um den herannahenden Wittgenstein und Kutusow aufzuhalten. Zunächst ließ Napoleon eine Eskadron Reiter, von denen jeder einen Voltigeur zu sich aufs Pferd nahm, den Fluß überqueren. Gleich darauf setzten noch auf Flößen 400 ausgesuchte Infanteristen über, so daß man am jenseitigen Ufer Kräfte besaß, die de herumschwärmenden Kosaken mit Leichtigkeit abwehrten. Napoleon trieb die Leute persönlich zur größten Eile an, war bald da, bald dort, gab Ratschläge und feuerte durch Versprechungen von Belohnung zur größten Arbeitsleistung an. In der Tat war um 1 Uhr nachmittags '•e Brücke für Fußvolk und Reiterei fert'g. Sogleich begann das Korps Oudinots die Überquerung des Flusses. Die 250 Schritte von der ersten entfernte zweite schwere Brücke konnte erst um 4 Uhr nachmittags fertiggestellt werden und der Artillerie den Ubergang ermöglichen. Napoleon stand bald bei der einen, bald bei der anderen Brücke, begleitet von Murat und Berthier, um die Ordnung in den sich überstürzenden Kolonnen. aufrechtzuhalten. Das größte über jedes Lob erhabene Verdienst hatten sich an diesen zwei Tagen die Pon-toniere und Sappeure erworben. Sie gaben ein Beispiel von Pflichtgefühl und Selbstaufopferung, wie es ein glänzenderes in der Weltgeschichte kaum gegeben hat Obgleich entkräftet durch die unaufhörlichen Drangsale und Entbehrungen standen sie bei einer Kälte von acht Grad stundenlang bis an die Brust im eisigen Wasser, um den Brückenbau durchzuführen. Es schien, als könne der gesündeste und stärkste Mensch diese Mühsal nicht überstehen. Aber unter den Augen ihres Kaisers opferten sie sich, um die Rettung zu ermöglichen Dreimal brachen die Brücken in der Nacht infolge der ungeheuren Inanspruchnahme und dreimal mußten die Pontoniere und Sappeure wieder ins Wasser, um in drei- bis vierstündiger Arbeit die Reparaturen auszuführen. Kaum einer von ihnen ist mit dem Leben davongekommen.

Am Vormittag des 27. November überschritt Marschall Ney mit seinem Korps und um Mittag Napoleon mit der Garde die Brücken, um sofort in Kampfstellung gegen Tschitschagoff überzugehen, dem der Übergang wohl nicht länger mehr verborgen bleiben konnte.

Solange Napoleon selbst am linken Ufer sich bei den Brücken befunden hatte, war noch immer Ordnung gehalten worden. Kaum war er aber am anderen Ufer, ging alles drunter und drüber und es war unmöglich, die Ordnung wieder herzustellen. Es rückten jetzt die vielen Tausende von Nachzüglern mit Wagen und Gepäck heran. In der Dunkelheit wurde die Verwirrung beispiellos und der Zugang zu den Brücken so verstopft, daß man nur mit großer Gefahr und Anwendunr rücksichtsloser Gewalt zu ihnen gelanpn kannte. Marschall Davoust und dem Vizekönig kostete es daher die allergrößte Mühe, in der Nacht mit ihren Truppen und Geschützen über den Fluß zu kommen. Nun hatte sich auch noch das Wetter wieder sehr verschlechtert, Schneestürme und fürchterliche Kälte begannen aufs neue ihr Vernichtungswerk. Unterdessen hatten sich Wittgenstein und Kutusow vereinigt und rückten mit ihrer Übermacht gegen Marschall Viktor vor Am rechten Ufer war Tschitschagoff herangekommen, wurde aber von Oudinot und Ney mit großen Verlusten zurückgeschlagen. Marschall Viktor hatte den ganzen Tag hindurch den Feind aufgehalten und einigen Tausenden Nachzüglern den Übergang ermöglicht. Aber weitaus mehr standen immer noch am linken Ufer an den Brücken und konnten bei dem Wirrwarr nicht hinüberkommen. Wittgenstein hatte die Höhen bei Studianka besetzt und begann nun die Brücken zu beschießen. In den ungeheuren Knäuel von Menschen, Pferden und Fuhrwerk schlugen die feindlichen Geschosse ein. Haufenweise wurden die Unglücklichen in dem fürchterlichen Gedränge in die Beresina gestoßen. Zum Unglück brach unter der Last der Kanonen und der schweren Munitionswagen ab?rm.i's eine der Brücken und nun stürzte sich alles auf die zweite, wo der Andrang so stark wurde, daß eine große Anzahl der Menschen zerquetscht und erstickt wurde. Als die Wagenführer die Unmöglichkeit sahen, über die Brücke zu kommen, trieben sie ihre Pferde in die Fluten. Aber in dem Trubel überstürzten sich die Fuhrwerke und warf eines das andere um. Und immer weiter noch schlugen dabei die russischen Granaten in die sich stauenden Massen. Das Grauen und die Verzweiflung erreichten aber erst in der Nacht ihren Höhepunkt, als Marsch.il! Viktor sich anschickte, das andere Ufer zu gewinnen Mit Bajonett, Säbel and Gewehrkolben mußten sich seine Leute einen Durchgang durch den unentwirrbaren Knäuel hauen. Was auf der Brücke im Wege stand, wurde ins Wasser gestoßen oder zerquetscht und zertreten. Am linken Uter war noch der Nachtrab des Korps Viktoi zurückgeblieben. Zu vielen Tausenden zählten aber noch immer d:e Militärbeamten, Knechte, Marketender, Nachzügler, Marode und flüchtig gewordenen Familien mit Weib und Kind die sich nicht entschließen konnten, ihr Hab und Gut, ihre Pferde und Wagen oder ihre Beute im Stich zu lassen Die meisten waren krank, verwundet oder vollkommen entkräftet und durch das Ubermaß ihrer Leiden schon so unempfindlich geworden daß sie sich kaum vom Hecke bewegen konnten. Am nächsten Tag (29. November) früh zog Marschall Viktor auch noch den Nachtrab ein und die Brücken wurden in Brand gesteckt. Wer noch am linken Ufer war, fiel den Russen in die Hände. Unermeßlich war die Beute des Feindes an Sachwerten aller Art, die nicht mehr gerettet werden konnten. Darunter auch die letzten Trophäen, die man aus Moskau mitgeschleppt hatte, um sie in Paris zu zeigen. Noch zehn Jahre später war bei Studianka der Raum zwischen den beiden ehemaligen Brücken mit Resten aller Art aus jenen “I agen übersät. Aus den Leibern der ertrunkenen Menschen und Tiere und der zertrümmerten Fuhrwerke und sonstigen Dinge hatten sich im Flusse ganze Inseln gebildet, aus denen noch nach vielen Jahren unter einer dichten Hülle von Vergißmeinnicht menschliche Gebeine hervorragten.

Nun lag die Beresina hinter der Armee, die noch aus 12.000 Mann unterm Gewehr, 2000 Reitern, 200 Gesdiützen und 20.000 kampfunfähigen Nachzüglern bestand. Aber bis Wilna waren es noch 250 Kilometer und die Armee war fast ohne Verpflegs-mittel. Auf der ganzen Strecke gab es keine Magazine und keine Requisitionsmöglichkeit. Die Kälte stieg bis auf 30 Grad Reaumur und die furchtbaren Schneestürme zehrten die letzten Lebensfunken der ermatteten Krieger auf. Die letzte Spur von kriegerischer Ordnung verschwand und jeder dachte nur mehr an seine eigene Rettung. Die Auflösung war eine vollständige. In Wilna kamen nur mehr vereinzelte Trupps an, die sich trotz der reichen bereitstehenden Vorräte nicht mehr zurückhalten und ordnen ließen. Alle strebten dem Njemen zu, um dort die deutsche Grenze zu erreichen In Smorgon hatte Napoleon am Jahrestag dei Schlacht bei Austerlitz die Armee verlassen, um nach Paris zueilen, dort die Regierungsgeschäfte wieder zu übernehmen und eine neue Armee aufzustellen Wilna ' mußte den Russen überlassen werden. Bei Ponari konnten die noch vorhandenen Geschütze und der Rest des Trains in den Schneemassen nicht mehr weiter. Die kaiserlichen Equipagen mit dem reichen Tafelsilber, Juwelen, goldenen Tabakdosen, Uhren und sonstigen Kostbarkeiten sowie die Kriegskasse mit 10 Millionen Francs in Goldmünzen wurden von den eigenen Soldaten geplündert, denen die nachfolgenden Kosaken das meiste wieder ab|agten. Von der ganzen großen Armee erreichten nur zirka 13.000 Mann, darunter zirka 2000 Offiziere, die meisten krank und kampfunfähig, nach und nach die Grenze. Eine der bis zu jener Zeit größten Kriegsunternehmungen war gescheitert. Obwohl die bewunderungswürdige Forcierung der Beresina den schließlichen völligen Untergang der großen Armee nicht verhindert hat, so wird die damalige Leistung im Ehrenbuche der französischen Armee für immer verzeichnet bleiben als Beispiel von Mut und einem zu jedem Opfer bereiten Pflichtgefühl.

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