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Der unterirdische Krieg

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Während Dänemark, Norwegen und Irland nach der Zurückweisung Großbritanniens ihre Anträge um Aufnahme in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zurückgezogen hatten, blieben die Gesuche der Neutralen um eine Assoziierung in Kraft, allerdings mit dem Unterschied, daß Schweden und die Schweiz die fällige Stellungnahme der Kommission in Brüssel abwarten, während sich Österreich entschlossen hat, auf eine rasche Antwort zu drängen und die individuelle Initia-

tive im Alleingang fortzusetzen. Die EWG war bisher überhaupt nicht geneigt, auf die Bedingungen und Gedankengänge der Neutralen einzugehen, aber nach Ausbruch der schweren inneren Krise, die nach Meinung zahlreicher Mitglieder heute ihre Existenz bedroht, leidet Brüssel gegenwärtig an einem Schwächeanfall und benötigt geradezu eine diplomatische Demonstration, daß die EWG keinem Protektionismus huldige sowie vor allem kein exklusiver Klub der alten und neuen Achsenmächte sei. Außerdem befürchten sämtliche Mitglieder der Wirtschaftsgemeinschaft eine Schrumpfung ihres Außenhandels, zumindest jedoch einen Rückfall ihrer Exporte. Selbstverständlich wird das Kabinett Gorbach II keine vollwertige Assoziierung erreichen, die am gegenwärtigen Höhepunkt der Integrationskrise ausgeschlossen erscheint, dagegen vielleicht ein kurzfristiges und provisorisches Arrangement, das der fortschreitenden Diskriminierung einige Spitzen abbricht, wofür die österreichische Handelspolitik allerdings einen Preis zahlen muß.

Osterfrieden bis zum Herbst?

Das Bild, das im gegenwärtigen Augenblick die wirtschaftliche Integration des freien Europa bietet, wird durch äußerst vorsichtige Bemühungen der hohen Kommission in Brüssel gekennzeichnet, zwischen den sechs Mitgliedern der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft eine Art Osterfrieden anzubahnen, der bis zum Spätherbst dauern, alle schweren Differenzen isolieren und die eigene Tätigkeit neben den traditionellen Referaten auf Probleme beschränken soll, die keine wie immer gearteten Konflikte befürchten lassen. Trotzdem bleibt der Agrarsektor mit seinen Utopien der Preisangleichung und Ertragsabschöpfung ein Gefahrenmoment,

das jederzeit eine Explosion provozieren kann. Brüssel wird daher in der7 nächsten Zeit das Tempo seiner Arbeiten verlangsamen, in der Praxis einige kleine Kompromisse versuchen und in der Theorie an den alten Prinzipien festhalten, ohne sich zu exponieren. Die größten Sorgen bereitet natürlich die bevorstehende Kennedy-Runde des GATT, die Mitte Mai in Genf beginnt und nach allgemeiner Meinung erst im Herbst 1964 zum Abschluß kommen dürfte. Die Vereinig-

ten Staaten wollen alle Zoüerhöhun-gen bekämpfen und verschiedene pro-tektionistische Strömungen einiger Kontinentalen unterbinden, bei dieser Gelegenheit jedoch auch den Absatz ihrer eigenen Agrarprodukte in den Ländern des Gemeinsamen Marktes kräftig erhöhen.

Auf dem Kontinent bleibt wiederum die Achse Paris-Bonn in Kraft, damit aber auch die ständige Drohung Frankreichs, in Brüssel ein Veto gegen alle Maßnahmen und Verordnungen einzulegen, sobald das Prestige und der Außenhandel der Seinerepublik einen Schaden erleiden könnten. Die Entschlossenheit des Generals de Gaulle, die Klausel des Römer-Vertrags über die Einstimmigkeit aller Beschlüsse im nationalen Interesse zu nützen und sich auf gar keine Opfer zugunsten einer höheren europäischen oder gar atlantischen Einheit einzulassen, entwickelt sich nachgerade zu einer politischen Hypothek und einem psychologischen Alpdruck. Frankreich, dessen Protagonisten ein „Europa der Patrioten“ vorschwebt, wird sich niemals einer Resolution seiner fünf Partner beugen, die auf diese Weise in einen Zwiespalt zwischen Theorie und Praxis geraten, der bereits chronisch ist. Die Belgier fügen sich nur widerstrebend dem Pariser Kurs, aber die Holländer sprechen reichlich offenherzig von einem toten Punkt und einer schweren Vertrauenskrise, die nur im Lauf der Zeit durch überzeugende Beweise und eine tolerante Haltung gegenüber allen Drittländern überwunden werde, damit sich der Gemeinsame Markt in Übereinstimmung mit seinen ursprünglichen Zielen und Deklarationen tatsächlich in eine „offene Gemeinschaft“ verwandeln könne. Rom, dank der diplomatischen Begabung der Italiener befähigt, seine Realpolitik in jede beliebige Terminologie zu hüllen, beschreitet bereits unbekümmert die bilateralen Wege.

Im Lager der Freihandelszone behilft sich das konservative Kabinett Macmillan, das seine europäischen Wahlparolen verloren hat, während der Integrationspause wiederum mit dem Commonwealth und vertraut bei Verteidigung seiner kontinentalen Absatzmärkte einfach auf die Qualität der englischen Erzeugnisse. Norwegen, Dänemark und Portugal richten sich nach Großbritannien, während Schweden und die Schweiz ihre erprobte Solidarität der Neutralitätspolitik verdanken. Nach allen Erklärungen der Ministerpräsidenten Krag, Erlander und Gerhardsen betrachtet Skandinavien die momentane Stagnation jedoch weitgehend vom praktischen Gesichtspunkt, daß — natürlich gegen entsprechende Konzessionen — erweiterte Absatzmärkte für Fische und landwirtschaftliche Erzeugnisse gefunden werden müßten. Im übrigen beobachten alle westlichen Hauptstädte mit großer Geduld und manchen Bedenken die weitere Entwicklung der ideologischen und machtpolitischen Auseinandersetzungen in der EWG. Zusammenfassend stellte der Vor-

steher des Eidgenössischen polischen Departements, Bundesrat Friedrich Wahlen, vor dem Ständerat zu Bern eine skeptische Prognose: „Es scheint höchst unwahrscheinlich, daß vor Beendigung der Kennedy-Runde seitens der EWG die Bereitschaft bestehen wird, selbst beschränkte bilaterale Verhandlungen mit den sieben aufzunehmen.“

Die Lissaboner Tagesordnung

Unabhängig von der GATT-Runde und dem Alleingang nach Brüssel steht die österreichische Handelspolitik außerdem vor der Konferenz der Staaten der Freihandelszone in Lissabon, die zunächst eine neue Zeittafel für den vollständigen Zollabbau bis Ende 1966 beschließen soll, um mit den analogen Etappen der Wirtschaftsgemeinschaft gleichen Schritt zu halten. Dann arbeitet man an Projekten zur Förderung des gegenseitigen Austausches von Erzeugnissen der Fischerei und Landwirtschaft, die in erster Linie Dänemark und Norwegen betreffen, aber auch die österreichischen Lieferungen von Molkereiprodukten nach Großbritannien (im Vorjahr 66,6 Millionen Schilling). Als letzter Punkt figuriert auf der Tagesordnung in Lissabon die Intensivierung und allgemeine Erleichterung der wirtschaftlichen und technischen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedern, wodurch Wien die Möglichkeit erhielt, die wichtige Beschleunigung der

Zonentransporte nach dem Westen und Norden zur Sprache zu bringen.

In diesem Zusammenhang muß mit Nachdruck auf die Tatsache hingewiesen werden, daß der Export nach Dänemark, Großbritannien und der Schweiz noch immer zahlreiche Chancen bietet, die bisher niemals voll ausgenützt worden sind. Bei Erschließung neuer Absatzmärkte handelt es sich nicht um kurze Fristen. Die Entwicklung verläuft selten in einer geraden, sondern zumeist in einer wellenförmigen Linie. Schon ein Vergleich der Jahre 1960 und 1962 zeigt, daß in dieser kurzen Zeitspanne der Export nach Großbritannien nur um 13,9 Prozent, aber nach der Schweiz um 42,9 Prozent und nach Dänemark sogar um 48,5 Prozent gestiegen war, wobei die einzelnen Warengruppen enorme Unterschiede aufwiesen. Auffallend blieben die großen Fortschritte bei Textilien und Kleidung, Maschinen, NE-Metallen und elektrischen Apparaten, so daß die veränderte Struktur des Außenhandels die Frage aufrollt, wie bei den einzelnen Kategorien eigentlich die Kurven der Hochkonjunktur verlaufen.

Ersatzmärkte finden!

Allerdings mit Recht hat das Institut für Wirtschaftsforschung zu wiederholten Malen auf die Notwendigkeit hingewiesen, das Exportvolumen mit Hilfe einer möglichst breiten Streuung zu sichern. Dieses Prinzip bedeutet, auf das freie Europa angewandt, höhere Exporte nach Frankreich und Belgien, vor allem jedoch eine volle und möglichst rasche Ausnützung der bevorstehenden neuen Zollermäßigungen im Zonenhandel. Nach dieser Richtung bewies Österreich in den vergangenen Jahren eine größere Elastizität und Entschlossenheit als die meisten anderen Staaten. Letzten Endes handelt es sich aber für alle Mitglieder der beiden Wirtschaftsblöcke um den Zwang, abermals „Ersatzmärkte“ zu finden, um drohenden Verlusten vorzubeugen, Rückschläge auszugleichen und die gegenseitige Diskriminierung ohne ernste Einbußen zu überwinden.

Für liberale Handelspolitik

Diese Erkenntnis scheint sich allmählich in Holland, Belgien und Italien durchzusetzen, die freilich in Brüssel nicht viel zu sagen haben.

Zwar empfahlen die Industriellen der EWG an einer Tagung in Paris eine liberale Handelspolitik im Rahmen des GATT. Auch der Präsident des Bundes der deutschen Industrie erklärte vor dem Wirtschaftsforum Hessen, die Existenz von zwei Wirtschaftsblöcken berühre Westdeutschland stärker als die anderen Teilhaber des Sechservereins, weil die Deutsche Bundesrepublik absolut und relativ bei weitem den größten Export nach der EFTA besitze. Bundeswirtschaftsminister Erhard ging noch einen Schritt weiter mit der Feststellung, Westdeutschland verdankte seine günstige Handels- und Zahlungsbilanz bisher in erster Linie seinem Exportüberschuß nach der EFTA, zuletzt in der Höhe von 5,7 Milliarden Mark. Mit anderen Worten: Die Fortdauer des Handelskrieges, der sich unter dem Firmenschild einer angeblichen Integration verbirgt, stieß unter den Signatarmächten des Römer-Vertrags nach dem Bruch mit Großbritannien erstmals auf ernste Bedenken, ohne daß sich gegenwärtig die Konsequenzen überwunden würde, damit sich der Ge-Ein Alpdruck

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