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Der unvollendete Oslerreicher

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Zur Psychologie des Oesterreichers brachte der als wohlgeschulter Betrachter historischer Fragen allgemein, auch vom Verfasser dieser Zeilen persönlich hochgeschätzte DDr. Willy Lorenz in der Beilage „Der Krystall“ vom 20. Juni d. J. einen äußerst beachtenswerten Beitrag: „Der Unvollendete. — Tragik und Glück des Oesterreichers.“ Das Wort „Glück“ sagt schon, daß es sich um eine auch durchaus positive Wertung handelt, und zwar in dem Sinne, daß der Glaube an eine höhere Macht das menschliche Tun vorteilhaft beeinflußt. Es sei vorweg zugegeben, daß der Oesterreicher nicht viel anders ist, als ihn der Verfasser sieht: bescheiden, von geringem Selbstvertrauen, das sich in tiefes Mißtrauen zu sich selbst steigert, und von einer gewissen Scheu, seine Talente auszuwerten, es sei denn in der Fremde, wo er auf sich selbst gestellt ist. Dem Oesterreicher haftet also etwas Unvollkommenes an, und der Aufsatz bringt eine Reihe von Beispielen, um dies zu erhärten. Diese Beispiele bedürfen aber, will uns scheinen, einer Ergänzung, indem man nämlich zu ihnen Parallelen aus dem Auslande anführt, gewinnt doch jede Behauptung erst durch vergleichsweise Betrachtung Ueberzeugungskraft. Wir wollen also gleichsam von der anderen Seite her die Dinge besehen und hoffen dadurch zu erreichen, daß der Oesterreicher in seiner Wertung nicht viel schlechter erscheine, als er es ohnehin von Natur her als menschlich-unvollkommenes Geschöpf sein muß.

Die der Kriegsgeschichte entnommenen Beispiele — deren Einzelheiten da und dort einer Erläuterung bedürfen — zeigen auf den ersten Blick bestimmt manche Unzulänglichkeiten. In den großen Rahmen des Geschehens gestellt und mit Ereignissen des Auslandes verglichen ist aber das Bild zum Teil ein anderes.

Bei Kolin, so lesen wir, soll Daun nur durch die Tat eines Stabsoffiziers den selbst nicht für möglich gehaltenen Sieg errungen haben, und die Schlacht sei „zum Erstaunen Dauns“ gewonnen worden. Es ist nun eine häufige Erscheinung, daß Siege gerne dem Eingreifen eines Untergebenen zugeschrieben werden, und tatsächlich gibt es immer mitentscheidende Taten untergeordneter Führer, erhielten doch für Kolin allein, außer Daun, nicht weniger als 23 Offiziere den Theresien-orden. Dennoch bleibt aber Daun der große Sieger, der die grundlegenden Dispositionen gab, der die initiativen Aktionen kleiner Teile koordinierte und der die ganze Verantwortung für alles trug. Nehmen wir aber an, es hätte der Feldherr wirklich in einer Gefechtsphase am Erfolg gezweifelt, wäre dies eine typisch österreichische Haltung gewesen? Wir kennen Friedrich II. bei Mollwitz, wie er in der Krise der Schlacht zu Pferd die Flucht ergreift, alles preisgebend und seinen Unterführern überlassend, von denen schließlich Schwerin die Lage wendet. Wir kennen Wilhelm I., der bei Königgrätz auch einen Rückzug erwägt und erst von M o 11 k e mit den Worten „Hier wird nicht zurückgegangen!“ mit neuer Zuversicht erfüllt wurde.

Dem General L a u d o n wird vorgehalten, er habe nach dem Siege bei Kunersdorf nichts unternommen und Maria There-s i a habe eine weitere Schlacht vermieden wissen wollen: „Gegen einen König, der selbst alles für verloren hält und nur noch 3000 Mann besitzt.“ Also wieder etwas Unvollendetes! Beim näheren Zusehen ändert sich aber das Urteil, denn Oberkommandant war S o 11 i k o w und nicht Laudon, und nach der Schlacht standen bloß 15.700 Oesterreicher gegen 22.280 Preußen, und Oesterreich mußte mit seiner schwachen Armee vorsichtig operieren.

Der den Erzherzog Carl treffende Vorwurf, er habe nach Aspern nicht verfolgt, wird nicht zum ersten Male erhoben. Der Erzherzog plante für die Nacht zum 24. Mai einen Ueberfall auf den Feind in der Lobau, doch führte die Donau Hochwasser, und es

fehlte an Brückengeräten. Auch waren die Franzosen trotz ihrer Verluste noch immer fast gleich stark wie die Oesterreicher. Gewiß konnte Napoleon bald darauf bei Wagram siegen, doch wie bescheiden war sein Sieg, der ihm mehr Gefangene, Geschütze und Trophäen kostete als die schwächeren Oesterreicher verloren, und der ihm endgültig klarmachte, daß er seinen Gedanken, Oesterreich durch Zertrümmerung seiner Armee auszuschalten, aufgeben müsse. Aspern war der Geburtstag der Siege von 1813/15, Aspern und Wagram haben Napoleon, den seit 13 Jahren niemand niederzuringen vermochte, zur Umkehr gezwungen.

Auch bei Solferino läßt es sich nicht ohne-weiters sagen, Oesterreich habe nur aus Zaghaftigkeit „alle eigenen Chancen preisgegeben“. Von Preußen im Stiche gelassen, mußte Oesterreich allein kämpfen, will man von der ehrenvollen Haltung der Modeneser absehen. Mögen Magenta und Solferino weder richtige Siege noch richtige Niederlagen gewesen sein, Franz Joseph I. hatte weit über die Schlachtfelder hinauszublicken, und was ihn zum Frieden bewog, das ist in seinem von höchster staatsmännischer Einsicht diktierten Manifest vom 15. Juli 1859 zu lesen, auf das einzugehen der Raum mangelt. Nicht viel anders war es nach Königgrätz, als — wie die neuesten Forschungen eindeutig festgestellt haben —

die vernichtende Wirkung der besseren preußischen Gewehre eine Fortführung des Krieges nicht anders als gewissenlos hätte erscheinen lassen. Man erkennt aus diesen wenigen Streiflichtern, daß in Oesterreich vor allem die Rüstung immer unvollendet war, von den hölzernen Ladestöcken bei Mollwitz bis zu den Vorderladern von 1866, bis 1914/18 und bis zum 13. März 1938. Es ist ein schwacher Trost, daß die österreichischen Waffen seit 1495 in der Mehrzahl aller ihrer Waffengänge siegreich waren, auch gegen die geachtetsten Gegner der Welt, gegen Spanier, Franzosen, Preußen, Russen, Schweden und Türken.

Der zweite Teil des „Unvollendeten“ gilt den verkannten Genies und unvollendeten Planungen, auch hier aber belehrt ein Blick in das Ausland, daß „Nemo propheta in patria“ weltweite Geltung hat: Leonardo mußte nach Frankreich, Dante irrte heimatlos umher, Kolumbus wurde verfolgt, dem Sokrates reichte der Staat den Giftbecher, auch ein G r o t i u s ging ins Exil, sie waren aber alle keine Oesterreicher. Dafür kamen so zahlreiche ausgezeichnete Männer gerade nach Oesterreich, weil ihnen die eigene Heimat nichts bot: Prinz Eugen aus Frankreich, Metternich, Beethoven, Billroth aus dem Reich, L a c y aus Rußland, van S w i e t e n aus Holland, Hansen aus Dänemark, Jakob Degen aus der Schweiz ... Wie viele müßte man aus anderen Staaten noch nennen, die auswanderten in alle Welt und die nicht aus Oesterreich stammten.

Schließlich lesen wir, daß in Oesterreich so vieles unvollendet geblieben ist: der Stephansdom, der Ring, Schlösser und Klöster, Schuberts Neunte, die Pläne Franz Ferdinands, Felix Schwarzenbergs, Maria Theresias, Seipels und Luegers. Das ist natürlich alles wahr aber zugleich auch sehr relativ. Die Werke der großen Kaiserin und Luegers blühen heute noch, und Oesterreich mit seiner Hauptstadt werden noch lange aus ihnen Nutzen ziehen. Und wieder ein Blick nach außen: weshalb soll der unvollendete Stephansdom ein österreichisches Manko

sein, wenn das Straßburger Münster ebenso unvollendet dasteht wie die Kathedrale von Amiens oder die Pyramide des S n o f r u, wie Michelangelos Juliusgrab, wie Macaulays „Geschichte Englands“, Schillers „Demetrius“, oder das Werk des Generals von Clausewitz „Vom Kriege“? Franz Ferdinand wurde ermordet und Schwarzenberg starb plötzlich; was wurde aus den Plänen des gefallenen Gustav II. Adolf oder aus den Ideen des bald verstorbenen Woodrow Wilson? Wenn man so nach allen Teilen des Erdballs sieht, dann gewinnt man leicht Zuversicht und Selbstbewußtsein. Das ist aber einer der größten Fehler des Oesterreichers, daß er zuwenig die Außenwelt sieht, und deshalb ist er gleich verzweifelt, wenn einmal das Budget einen Abgang zeigt oder wenn es mehr Arbeitslose gibt, wiewohl kaum irgendein anderer Staat von solchen Sorgen frei ist. Der Oesterreicher ist reichlich unvollendet, wir wollen es nicht leugnen, doch auch nur im selben Ausmaße wie andere. Er hat dabei den Vorzug, seine Un zulänglichkeiten einzusehen, zugleich keine Ueberheb-lichkeiten zu kennen, wie sie' erst im zweiten Weltkriege wieder die ganze Menschheit ins Unglück gestürzt haben.

Die Habsburger waren durchaus friedliebend und dem Kriege abhold, sie unternahmen nie den letzten Schritt der großen Gewalt, sie kämpften stets nur so lange, als es der Bestand des Reiches erforderte, sie hielten immer Maß im ewigen Ringen der Völker und erstrebten — wie es dann Maria Theresia formulierte — „Weniger Ruhm, dafür mehr Sicherheit.“ Diese Haltung war nicht zuletzt eine Resultante ihrer Gläubigkeit und — t es ist nichts anderes, als was Willy Lorenz in seiner zutreffenden Schlußfolgerung für den Oester-reicher als solchen, als „sein größtes Glück“ geltend macht. Wie stark dieses Denken im Oesterreicher verankert ist, hat selbstverständlich ein Oesterreicher, Adalbert Stifter, niedergeschrieben: „Ueberau muß sich der Mensch bescheiden, wenn er sich vollenden will.“

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