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Der Vierzigjährige Krieg

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Es war nicht so, daß der kaiserliche Soldat, der Anno 1618 gegen die böhmischen Rebellen zu Felde zog, von seinen Lieben mit den Worten Abschied nahm: „Lebt wohl, ich ziehe in den Dreißigjährigen Krieg.“ Die Welt ahnte weder welches Leid ihr im kommenden Menschenalter beschieden sein würde noch wie lange es dauern werde. Aber es vergingen 30 Jahre, bis die Glocken den Frieden von Münster und Osnabrück einläuteten.

Nicht anders 1914. Die prophetischen Stimmen waren ungehört verhallt, die vorausgesagt hatten, daß am Ende eines Weltkonfliktes nur der Ruin aller stehen könne. Es war zwar nicht der erste „Weltkrieg“ der Neuzeit — und leider war es auch nicht der letzte. Der Spanische Erbfolgekrieg war bereits ein solcher mondialer Zusammenstoß gewesen, der über die Meere und in fremde Kontinente griff. Und ebenso der Siebenjährige Krieg, in dem Frankreich Kanada und Ostindien verlor. 25 Jahre hatten dann die Revolutionskriege gedauert. Auch aus ihren Wechselwirkungen erwuchs ein Krieg Englands gegen die USA, der Verlust von Ceylon und des Kaplandes für Holland, der Zug Napoleons nach Aegypten und Syrien. Der Beispiele, daß ein einmal entfesseltes Feuer um den Erdball laufen und überall Stoff zu neuen Bränden finden würde, gab es also genug. Aber sie waren vergessen, denn seit Waterloo war es gelungen, alle Konflikte abzugrenzen. Ueberdies hatte es bis 1789 nur Kabinettskriege gegeben, in denen man sich um einzelne Länder oder Landstriche schlug, nicht aber zur Vernichtung des Gegners. Man manövrierte mit begrenzten Heeresmassen — ihre Aufstellung hatte genug Geld verschlungen —, und noch Friedrich II. verdankte seine Rettung zum Teil dem Umstand, daß ihn seine Gegner nur zur Herausgabe der schlesischen Beute zwingen wollten. Ihn zu vernichten, lag ihnen fern — sein Untergang wäre für sie eine Verlegenheit gewesen. Napoleon hat auf militärischem Feld die neue Vernichtungstaktik der französischen Revolutionskriege wohl auf den Höhepunkt geführt. Jena, Austerlitz und Friedland waren Vernichtungsschlachten. Aber auch er erwog nur im ersten Zorn — oder sprach es zur Einschüchterung der Gegner aus —, daß er den geschlagenen Feind vernichten wolle. Selbst Preußen ließ er bestehen. Es drohte, wie jeder Staatsmann fühlte, sonst das Vakuum und mit ihm das Chaos, und ein letzter Ordnungssinn bewahrte die Sieger davor, ein solches zu schaffen. Noch Bismarck förderte 1871 die Konsolidierung der neuen französischen Republik, indem er ihr den Kampf gegen die Communards ermöglichte. Das „Acheronta movebo“ sprach niemand, der an der Spitze eines Staates stand.

Der erste Weltkrieg brachte daher bittere Ueberraschungen. Mögen Hungersnot und das krasseste Elend einige Jahre nach seiner Beendigung wieder gebannt worden sein, was blieb, war die Zerstörung der Staatengruppe Mitteleuropa, die Abspaltung Osteuropas und damit der bis heute andauernde Verlust des Gleichgewichtes in unserem Kontinent. Es blieb bei der Zerstörung des engmaschigen Netzes von Wirtschaftsverflechtungen, das allein den übervölkerten Kontinent genährt hatte, es blieb der Sturz der bevorrechteten und begütert gewesenen Stände, die Anullie- rung des Sparkapitals von Generationen durch die Massenproduktion der Notenpressen, die Herabdrückung Deutschlands zur Macht zweiten Ranges und — die Zerstörung Oesterreich - Ungarns. Man hat damals „Ersatzstaaten“ geschaffen: ein überdimensioniertes Polen, eingeklemmt zwischen die Länder, deren Wächter es sein sollte: Deutschland und die Sowjetunion. Und die kleinen Ententestaaten — jeder ein Oesterreich in der Nußschale, aber ohne dessen Toleranz —, ein verlängerter Arm Frankreichs zur Niederhaltung von Restösterreich und Restungarn. Staatsgebilde ohne Eigengewicht standen im wichtigsten Ordnungsraum Europas oder eigentlich: sie kreisten in ihm. Frankreich war zu weit und ohne Ausstrahlungskraft, so konnten sie nur in den Sog Deutschlands oder Rußlands geraten. Es kam herauf die Emanzipation der asiatischen und afrikanischen Nationen, wieder beginnend mit der Zertrümmerung einer zentralen Achse, des Osmanischen Reiches. Aus seinen Nachfolgestaaten hat sich der Gedanke der Souveränität übet den Bereich der Sieger weiterverbreitet. Ihre Mündigwerdung war fällig, aber man zerschlug das bisherige Gefäß, statt den Inhalt in neue zu leeren, und so verfloß er nach allen Seiten. Ueberall hielt man die Stücke in der Hand und hatte für sie kein geistiges Band.

Dem unbedachten Kriege waren demnach übelbedachte Friedensschlüsse gefolgt. Ein Scheinfundament wurde, mit allerhand Ornamenten verziert, über Abgründe gelegt. In diesen arbeiteten Kräfte der Zerstörung, wie sie dieser Kontinent teils noch gar nicht, teils nicht in solcher Sprengwirkung gekannt hatte. Im abgeschlossenen osteuropäischen Raum brodelte, durch eine dünhe Zwischenwand abgehalten, aber fühlbar, die Lava der sozialen Revolution. Im Zentrum des Erdteiles lagen die Explosivstoffe nationaler Demütigung und nationaler Uebersteigerung ungeschützt nebeneinander. Die Störung der ausgewogenen wirtschaftlichen Wechselwirkungen, an deren Aufbau Generationen gearbeitet hatten, drängte die arbeitslose, verarmte, enttäuschte Intelligenz wie die Arbeiterschaft teils ins nationale, teils ins sozialrevolutionäre Extrem. Eine von allen guten Geistern verlassene Reparationspolitik tat das ihre. Als zu Beginn der dreißiger Jahre die Vernunft wieder zu Worte kam, waren die zerstörenden Kräfte so stark geworden, daß sie nicht mehr eingedämmt werden konnten. As ein letztes Leuchten europäischer Gemeinsamkeit mutet uns heute das tragische Scheitern von Briand, Stresemann und Chamberlain an. Dann kam die Stunde der Diktatoren in der Weltpolitik. Sie spiegelten Sicherheit vor und die Völker hörten es gerne. Was sie brachten war wieder Krieg. Hitler stieß die Scheidemauer gegen den Osten ein, die Lava begann zu fließen, und während deutsche Matrosen so aussichtslos wie 1914 gegen Engelland fuhren, bereitete sich die Eroberung Mitteleuropas durch das diesem inzwischen gänzlich entfremdete Osteuropa vor. Nicht mr die Land-gewinne der sächsischen Kaiser, die ganze christianisierende und zivilisatorische Arbeit eines Jahrtausends war verloren, als die sowjetischen Panzer vor Weimar und nächst Braunschweig Garnison bezogen. Mit Mühe gelang es dem Westen, Westeuropa selbst zu retten. Indessen verlor er Asien und steht vor der mehr oder weniger freiwilligen Räumung Afrikas. Und der Unterhöhlungsvorgang, der Zerstörungsprozeß in seinem eigenen Raum ist noch keineswegs zum Stillstand gekommen. Der Krieg, sagt Clausewitz, ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, aber wir haben im letzten Menschenalter gelernt, daß auch die Politik die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln sein kann: Daß der „heiße“ Krieg, wo immer er wieder aufflammt, zum Zeichen dieses unterirdischen Kampfes geworden ist. Hatten früher die Staatsmänner am sagenhaften „grünen Tisch“ das Zeichen zum Lösen der ersten Schüsse gegeben, so ist heute die latente Triebkraft der zerstörenden Dynamik so groß, daß sie die ersten Schüsse erzwingt.

Europa ist seit 40 Jahren im Krieg, seit an der serbischen, galizischen, französischen Front die ersten Schüsse fielen. In das Rollen der Geschütze an der jeweiligen militärischen Linie mischt sich das Grollen acherontischer Gewalten. Europa muß sich ohne Vorbehalt, ohne Rückhalt einigen, um erst den Frieden in sich zu erlangen, dann ihn auszustrahlen, dorthin, wo dieser bedroht ist. Sonst wird der vierzigjährige Krieg ein ewiger Krieg werden. Es ist an der Zeit, daß die Menschen heute wacher ausblicken als die Reiter von von 1618 und 1914.

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