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Der Wähler und die MRP

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In den vergangenen Monaten hat die MRP, die Volkspartei Frankreichs, einen Teil ihrer Sympathien, die sie in den traditionell katholischen Stammbezirken der Bretagne, der Vendee und im Osten im Gebiet der Vogesen, von Lothringen und von Elsaß besaß, an die RPF des Generals de Gaulle verloren. Auf den ersten Blick scheint diese Entwicklung überraschend, da doch die Mouvement Republicain Populaire gerne als die große katholische Partei Frankreichs betrachtet wird. Bei näherer Untersuchung aber wird so manches verständlich.

Wenn auch die MRP erst nach der Befreiung gegründet wurde so reichen ihre geistigen Anfänge doch weit zurück. Im allgemeinen sieht man in dem greisen Marc Sangnier, der heute der ,great old man" der Partei ist, ihren geistigen Vater. Er vereinigte noch vor dem ersten Weltkriege um seine Zeitschrift „Le Sillon" sozial denkende Katholiken, um mit ihnen die Grundlagen eines christlichen Sozialismus zu erarbeiten. Hier ergaben sich Konflikte grundsätzlicher Natur — so schien es wenigstens —, die zur Verurteilung des „Sillon“ durch Pius X. führten.

Nach dem ersten Weltkrieg, im Jahre 1923, wurde die „Parti Detnocrate Populaire“ gegründet, ein anderer Vorläufer der MRP.

Die Partei zählte nur 12 Abgeordnete, unter ihnen aber Männer, denen, wie dem unlängst verstorbenen Champetier d Ribes oder dem österreichfreundlichen Ernest Pezet, auch in der MRP eine bedeutende Rolle zufallen sollte. Als weiterer und unmittelbarster Ursprung muß schließlich der Kreis der Zeitung- „L’Aube“ betrachtet werden, wo Francisque Gay als Mitarbeiter unter anderen Persönlichkeiten den jungen Geschichtsprofessor am Lycče Louis-le-Grand Georges Bidault heran- gerzogen hatte. -

Als es nach der Befreiung zur Gründung der MRP kam, verschmolzen diese Elemente und gingen in dem auf, was sie all eine große christliche Massen partei bezeichneten. Georges Bidault, Vor sitzender des Nationalen Rates der Resistance, und Maurice Schuman, der Londoner Rundfunksprecher de Gaulles, übernahmen di Führung. Man wollte die Massen heranziehen, und so gab man Schlagworte aus, die sich in ihrem Sinn nicht immer deckten. Was Wunder, wenn die Gefolgschaft nicht homogen war?

„Le parti de la fidelite“, war das bevorzugte Schlagwort Maurice Schumans, der heute Präsident der MRP ist. Die „Partei der Treue", der Treue zu Frankreich, worunter man natürlich auch die Treue m de Gaulle ..zu verstehen hatte. So strömte in den Tagen, in denen das politische Leben Frankreichs unter der Ägide der provisorischen Regierung des Generals von neuem beginnen sollte, alles, was nicht für die beiden anderen großen Parteien — Kommunisten und Sozialisten — eintreten wollte, zur MRP.

Neben der so gewonnenen Schichte gaullistischer Anhänger, die später — als sich die MRP von de Gaulle abgewendet hatte — abfielen, gab es eine Schichte von Bürgerlichen, die in der MRP jene gesetzte Mittel- partiei sahen, der sie gerne ihr Vertrauen schenken wollten. Diese Kreise sind, insofern sie nicht ins konservative Lager abgewandert sind, der Partei größtenteils treu geblieben-

Außerhalb Frankreichs ist im allgemeinen wenig die Tatsache bekannt, daß die MRP in den Parlamentswahlen mehr Arbeiterstimmen erhalten hatte als die Sozialisten. Diese Arbeiterschaft der christlichen. Gewerkschaften, die Militanten eines christlichen Sozialismus, eines Katholizismus, der in sozialpolitischer Hinsicht linksgerichtet ist, gehören zu dem Kern der Partei, den sie für jeden Fall behalten muß. Dies sind auch die Elemente, die dem leitenden sozialen Gedanken einer christlichen Gesellschaftsreform seit Jahrzehnten treu ergeben sind. Vergessen wir nicht, daß diie Gruppe fallweise auch nicht davor zurückschreckt, zu behaupten, daß sie jenem Teil des Klerus gegenüber, der noch starren konservativen Gedanken huldige, den richtigen christlichen Standpunkt beziehe, so wie es „Sillon“ anstrebte.

Im Gegensatz zu diesen bewußt christlichen und sozialen Elementen gibt es wieder andere, deren große Zahl entschieden dazu beigeträgen hatte, aus der MRP eine Großpartei zu machen. Es ist dies unter anderem die Bauernschaft der noch konservativ eingestellten Regionen, die traditionsgemäß an der. bestehenden Ordnung festhält. Sie ist es nun, , die eine Verschiebung im Kräfteverhältnis zwischen MRP und der Partei de Gaulles verursacht.

Seitdem nun General de Gaulle im Dezember 1948 vor dem Nationalrat seiner Partei für das „enseignement libre“, die Schulfreiheit, eingetreten ist, hat er sich neue Sympathien in jenen Landschaften erworben, in denen die katholischen freien Schulen vorherrschend sind und in dei-Bevölkerung viele Freunde haben. Die Existenzsicherung füy diese Schulen bildet seit Jahrzehnten eine ernste Sorge der Katholiken, da eine Schule ohne Subventionen nicht leben kann, selbst wenn sie höheres Schulgeld verlangt. Da die Kirche über keinerlei ständige finanzielle Hilfsmittel verfügt-, bedeutet die Erhaltung der zahlreichen Schulen eine große Last; immer wieder muß hiefür die Wohltätigkeit angerufen werden. Man verlangt deshalb, daß die freien katholischen Schulen vom Staate die gleiche Zuwendung erhalten wie die staatlichen Schulen, an deren Erhalt die katholischen Eltern mittragen.

Dieses Problem steht schon lange zur Debatte und erscheint immer wieder gewissen Parteien als gefährlich. Als im vergangenen Frühjahr Frau. Poinso-Chappuis, Wohlfahrts- und Gesundheitsminister der MRP, mit einer Verordnung einen Ausweg zu finden trachtete, wurde die Regierung sozusagen im Handumdrehen von den Sozialisten und Radikalen gestürzt.

Die grundsätzliche Fragestellung erreichte eine wichtige Aktualität, die nun seit Monaten Teile der französischen Provinz in Atem hält. Einmal erklärten die bretonischen Bauern, daß sie nicht gewillt wären, Steuern dem Staat zu zahlen und daneben noch gesondert für ihre- Schulen aufzukommen. Einige Departements traten fast geschlossen in den Steuerareik. Dazu kam noch, daß den sogenannten „Kermessen“ (eine Art Wohltätigkeitsveranstaltung — verbunden mit verschiedenen Lustbarkeiten) zugunsten der freien Schulen dieselben Vermögenssteuern auferlegt wurden wie anderen Vergnügungsveranstaltungen. Dagegen wurde irts Treffen geführt, daß es sich nicht um Lustbarkeiten im blichen Sinn handle, sondern in erster Linie um Wohltätigkeitsveranstaltungen, durch die jene Mittel aufgebracht werden sollten, die den Staat in gewissem Sinn von seinen Verpflichtungen entlasten. Die Veranstalter weigerten sich, die vorgeschriebenen Lustbarkeitssteuern zu bezahlen und wurden unter lebhaftem Protest des Auditoriums zu bedeutenden Strafen durch die Gerichte verurteilt. Die Bevölkerung erwartete eine klare Stellungnahme ihrer Partei, der MRP. Diese ließ jedoch lange auf sich warten, und als sie endlich erfolgte, waren die verschiedenen Äußerungen weder klar noch eindeutig. General de Gaulle hingegen besitzt den — manchmal umstrittenen — Vorteil, in .un mißverständlichen Formulierungen seine Gedanken auszusprechen, und er entschied sich' für die Sache der freien katholischen Schulen.

Was war nun aber Grund der Zurückhaltung der MRP? Gewiß hat sie den Versuch gemacht, das Schulproblem zu lösen, aber das Ergebnis war für die Partei nicht ermutigend. Von verschiedenen Seiten, die immer schon anderer Meinung in dieser Angelegenheit waren, wurde ihr der Vorwurf gemacht, daß sie sich für solche Fragen exponiere, selbst die Stellung in der Regierung auf das Spiel setze, aber hinsichtlich der sozialen Erneuerung es an gleicher Energie fehlen lasse, um sich die konservativ denkenden Wähler nicht zu entfremden. Der Grund scheint aber darin zu Hegen, daß die MRP als Regierungspartei ihre beiden Koalitionspartner, die Radikalen und die Sozialisten, mit gewissen Forderungen nicht noch einmal in Verlegenheit bringen will, da die gegenwärtige Koalition ungefähr die letzte mögliche Kombination ei.ner Führung der Mitte darstellt. Wird aus irgendeiner Ursache das Gleichgewicht gestört, so kann nur die eine oder andere extreme Regierung folgen. Nach Auffassung der MRP, würde sowohl ein aus Kommunisten oder aus Gaullisteri zusammengesetztes Kabinett eine Gefährdung für den Fortbestand eines echten demokratischen Regimes darstellen. Diesem Bedenken werden im Augenblick alle anderen Probleme untergeordnet,

Es wäre aber nichts falscher, als zu denken, die MRP sei an der Macht glücklich. Sie ist es ebensowenig wie die Sozialisten. In Paris wird offen davon gesprochen, daß führende Mitglieder der MRP — allerdings teilen die MRP-Minister diesen Standpunkt nicht — bedauern, es gäbe keine Möglichkeit, sich in die Opposition zurückzuziehen. „Vielleicht hätten wir dann nach den nächsten Wahlen nur dreißig oder vierzig Abgeordnete im Palais Bourbon“, soll einer der Funktionäre der Partei gesagt haben, „aber wir hätten die Möglichkeit zu konstruktiver Arbeit und itünden geschlossen auf festem programmatischem Fundament." Eine zukünftige Orientierung der MRP in diesem Sinne würde dann auf die alten Grundsätze Marc San- gniers abgestellt sein. Aber, wie gesagt, e ist nicht die Meinung aller.

Ob das RPF de Gaulles die Hoffnungen seiner christlichen Wähler erfüllen würde, das zu zeigen, hat es bisher noch keine Gelegenheit gehabt. Deshalb ist es auch schwer zu beweisen, ob es ihm in der Frage der Unterstützung der freien Schulen wirklich um das „enseignement libre“ zu tun ist oder bloß um taktische Vorteile, die eben jetzt wichtig erscheinen.

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