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Der Weg aus dem Getto

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Vor etwa drei oder dreieinhalb Jahren fuhr ich an einem frühen Morgen mit einer Gruppe englischer Studenten nach Oxford, um einer Aufführung des Studententheaters in dieser alten Universitätsstadt beizuwohnen. Ein Großteil der Reisegesellschaft döste vor sich hin und versuchte noch ein wenig Schlaf zu bekommen. Dies änderte sich mit einem Schlage, als wir in einer kleinen mittelenglischen Stadt einige Morgenzeitungen kauften. Die Nachrichten von einer massiven Intervention des Episkopats zugunsten einer politischen Partei während des Wahlkampfes und besonders kurz vor dem Wahltag in Malta regten sofort eine heftige Diskussion an. Diskussion ist vielleicht zuviel gesagt: Alle lehnten solche Handlungen als Einmischung ab. Auch die zahlreichen englischen Katholiken unter den Studenten wurden nicht müde, wieder und wieder zu betonen, daß Kirche und Religion mit Parteipolitik nichts zu tun habe.

Einzelne Priesterjournalisten versuchten zwar, die Intervention des maltesischen Klerus zu verteidigen, aber die überwältigende Mehrzahl der Leserzuschriften verurteilte sie als undemokratisch.

Besser als eine lange Abhandlung kennzeichnet diese Episode die Einstellung der englischen Katholiken zum Phänomen des politischen Katholizismus. Diese Haltung gehört mit zur Tradition der englischen Kirche. Vor wenigen Wochen erst wurde sie neuerlich unterstrichen,als der Londoner Erzbischof, Kardinal Heenan, im Parlament mit 24 der insgesamt 30 katholischen Unterhausabgeordneten zusammentraf. Er betonte, daß er (und der englische Klerus) entschieden gegen eine katholische Partei jeglicher Art in Großbritannien sei; ebenso lehne er die Bildung einer Interessengemeinschaft der katholischen Abgeordneten im Parlament ab. „Die Abgeordneten“, meinte der Primas von England, „dienten der Kirche am besten, indem sie ihren Parteien dienen.“ Kardinal Heenan hat damit jeden Versuch, die Kirche in den tagespolitischen Kampf hineinzuziehen, überflüssig gemacht.

Die Abneigung der englischen Katholiken gegen ein direktes politisches Engagement erklärt sich aus der Geschichte der katholischen Kirche in Großbritannien. Erst im 19. Jahrhundert konnte sie aus der Illegalität heraustreten, Nur wenige, meist adelige Familien, hielten in der Zeit des protestantischen Staatski rchentums zu ihrem Glauben. Als Kardinal Newman um die Mitte des vorigen Jahrhunderts die katholische Hierarchie wiederaufbaute, stellten die im Gefolge der Industrialisierung eingewanderten Iren den größten Teil der Laien. (Es ist daher sicherlich richtiger, von einem anglo-irischen Katholizismus zu reden.) Die Iren fanden in den nordwestlichen und nordöstlichen Industriegebieten Englands als Berg- und Textilarbeiter Beschäftigung. Die Unterdrückung durch mehrere Jahrhunderte und der hohe Anteil der Nachkommen der irischen Einwanderer an der gegenwärtigen katholischen Bevölkerung von England bewirkt zwei typische Eigenschaften des englischen Katholizismus:

• eine Gettomentalität und

• eine Vorherrschaft der Arbeiterklasse.

Man kann sich im Ausland kaum vorstellen, was es für die nach innen gerichtete katholische Minderheit bedeutet hat, als sie durch das Wirken des verstorbenen Papstes Johannes XXIII. und die Verhandlungen des Konzils ermuntert worden ist, sich mit der Welt auseinanderzusetzen. An und für sich schon beeinflußte dies das geistige Leben der katholischen Kirche in starkem Maße. Die Wirkung war um so stärker, da die katholischen Laien aus ihrer Lethargie erwachten, in die sii zum Teil durch die zentralistischen Tendenzen des Klerus in der Zeit vom späten 19. Jahrhundert bis zum zweiten Weltkrieg noch bestärkt worden sind. Die katholischen Zeitungen berichten daher in den letzten Monaten immer wieder von Treffen zwischen Klerus und Laien, von den Plänen des Konzils, den Laien in der kirchlichen Verwaltung mehr Mitsprache zu gewähren usw. Das Konzil versetzte der Gettomentalität einen empfindlichen Stoß. Das war auch notwendig, da durch die katholischen Privatschulen auch die Jugend in diesem Sinne erzogen worden ist, auch sie die Umwelt zunächst als feindlich angesehen hat, wogegen man sich verteidigen muß.

Durch die Hinwendung zur Umwelt entstand eine lebhafte Debatte. Sie kreist um drei Zentren:

• Geburtenregelung,

• atomare Bewaffnung und

• Schulfrage.

Die Diskussion wurde einerseits Intern geführt, anderseits mit anglikanischen und agnostischen Kreisen.

Auf dem Kontinent mag es überraschen, daß die Geburtenregelung eine große Aufmerksamkeit erregt. Die Verbundenheit der Insel mit dem Commonwealth, die sich in den letzten Jahren gewiß gelockert hat, aber immer noch beachtlich ist, konfrontiert den Engländer in stärkerem Maß als den Europäer mit der Frage der Bevölkerungsexplosion. Für den Katholiken kommt hinzu, daß sowohl die anglikanische Kirche als auch die nonkonformistischen Konfessionen Mittel zur Empfängnisverhütung als vereinbar mit der christlichen Sittenlehre erklärt haben. Es waren ja vor allem auch englische Katholiken, die sich schon vor Jahren für eine moralische Anerkennung der Methode Knaus-Ogino eingesetzt haben, zu einer Zeit, als in den mehrheitlich katholischen Ländern Europas die Ehe ausschließlich als Institut zum Zwecke der Zeugung von Nachkommenschaft angesehen wurde.

Die Auseinandersetzung lud sich mit Spannung auf, als vor kurzem ein Band mit Essays erschien, der sich mit „Argumenten gegen den Katholizismus“ beschäftigte. In diesem Band erklärte Erzbischof Roberts SJ. unumwunden, daß er den offiziellen Standpunkt der Hierarchie nicht verstehen könne. Weder die Pille noch andere Verhütungsmittel seien an sich moralisch verwerflich. Und kein Katholik könne sich der Verantwortung entziehen, der sich gegen eine Geburtenregelung ausspreche und damit zulasse, daß weite Gebiete der Erde vom Hunger geplagt werden. Er verwies auf die gigantische Formen erreichende Bevölkerungsexplosion hin, die in einzelnen Ländern zu einem jährlichen Zuwachs an Menschen in der Höhe von fünf Prozent und mehr geführt hat. Auch die Anordnung Kardinal Heenans an den Klerus, in der Frage der Geburtenregelung an der öffentlichen Auseinandersetzung nicht teilzunehmen, kannte junge Priester nicht davon abhalten, sich unter Berufung auf ihr Gewissen doch zu Wort zu melden. Es hat den Anschein, als ob die Hierarchie auf verlorenem Posten steht; die ständigen Fragen katholischer Laien in Leserzuschriften nach der theologischen Rechtfertigung der offiziellen Haltung, die sich dabei auf Thomas von Aquin berufen, können nicht mehr mit einer autoritären Entscheidung aus der Welt geschafft werden. Dazu ist die Gewissensnot des durchschnittlichen Laien zu stark.

Eine Frage, die schon mehr ins Politische reicht, ist die der atomaren Bewaffnung. Im kleinen Kreis behandelte die Newman Society, der katholische Akademikerverband, dieses Thema schon seit langem. Der Regierungswechsel hat dieses Gespräch aktualisiert, da die sozialistische Regierung die britischen Atomwaffen der NATO unterstellen möchte. Bisher hat sich keine einheitliche katholische Auffassung gebildet. Unter den Arbeitern und der unteren Mittelklasse neigt man eher zu einer Unterstützung der Labour-Politik, unter den oberen Schichten, vor allem unter freien Berufen, findet man eher Befürworter einer unabhängigen britischen Atomstreitmacht.

Die Reformpläne des Kabinetts Wilson auf dem Schulsektor haben schließlich die Schulfrage entstehen lassen. Bekanntlich möchte die Regierung das Gymnasium abschaffen und einen Einheitsschultyp einführen. Der linke Flügel der Sozialisten will sogar eine Verstaatlichung aller Privatschulen durchsetzen. Aus begreiflichen Gründen setzten sich die englischen Katholiken zur Wehr,da auch ihre Schulen davon betroffen sein würden. Und diese Schulen sind bisher ausschließlich aus Spenden der Gläubigen gebaut worden (für den laufenden Unterhalt gab es bis jetzt namhafte staatliche Subventionen).

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