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Der Weg zum Menschen

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In wenigen Tagen wird in Payerbach am Semmering die erste Volkshochschule der österreichischen Grundtvig. Gesellschaft eröffnet werden.

Der Verfasser dieser Zeilen hat als einer der ersten im neuen Österreich aut die Bedeutung Grundtvigs und der dänischen Volks, hochschulen hingewiesen (vgl. „Furche” Nr. 29 vom 20. Juli 1946) und fühlt sich diesem Versuch, die Bildungsideen Grundtvigs auch in Österreich zu verwirklichen, besonders verbunden. Daher möchte er es nicht versäumen, zu Beginn dieses Werkes einige Gedanken, aber auch einige Bedenken und schließ- lieh Wünsche zum guten Gelingen auszusprechen.

Über die Ziele und Bestrebungen einer „Grundtvigschen Volkshochschule in Österreich” hat der Pädagoge Hofrat L. E. Tesar, Leiter dieser Schule, in der österreichischen Grundtvig-Gesellschaft vor einiger Zeit sein Programm dargelegt. Vor allem wurde von ihm festgestellt, die neue Volkshochschule soll eine „Schule zum Leben” und nicht „zum Tode” sein. Sie soll weniger der Wisscns- bildung, der Belehrung, der Aneignung von Kenntnissen als der Charakterbildung, der geistigen Besinnung dienen. Besinnung, aber nicht so, daß der Mensch sich als Vereinzelter, sondern als ein bewußtes Ich im lebendigen Verhältnis zum Bruder-Du des Mitmenschen, zum heilen „Wir” integraler Gemeinschaft zu erkennen und bekennen lernt. Alles Wissen hat einzig der Bildung der sozialen Person zu dienen und steht nicht isoliert in diesem Schulwesen. Bildungsmittel sollen Gesprächs- und Arbeitskreise sein, in denen wiederum die Begegnung mit dem Nächsten das letzte Ziel darstellt. Entscheidend ist dabei nur, betonte, diese Gedankengänge weiterführend, Dr. Tesar, daß die Begegnung in aller Frische und Unmittelbarkeit geschieht, jenseits von Doktrinen und Ideologien. Der Mensch muß endlich wieder über alle sozialen, regionalen, ständischen, politischen, klassenmäßigen, konfessionellen Grenzen hinweg nur den Menschen sehen lernen. Dem Menschen haben alle anderen Ziele, die politischen und die wirtschaftlichen, zu dienen, wenn nicht der Mensch zum Mittel entwürdigt werden soll. Jeder Mensch habe sich zu seiner innerlichen Wahrheit als dem letzten Kriterium seines Handelns 2;u bekennen — und müsse auch den Nebenmenschen als einen solchen Wahnheitsträger ehren. Daraus resultiert wiederum die Erkenntnis, daß die Zusammenhänge sittliche seien. Einer solchen Gesinnung hat sich auch das schulische Leben anzupassen, das seinen Ausdruck in den drei Grundkreisen (die zugleich die drei menschlichen Grundbeziehungen ausdrücken) finden soll: im biologisch-kosmologischen Arbeitskreis, im soziologischen Arbeitskreis; im weltanschaulich-ethischen Arbeitskreis. Dichtung und Kunst, Musik und Spiel sollen dem ganzen einen festlichen Rahmen verleihen.

Soweit Gesinnung und Plan der neu ‘ii Volkshochschule. Dazu seien nun einige Gedanken, die Prinzipien betreffend, und einige Bedenken, die Durchführung angehend, angemeldet.

Die Leiter der österreichischen Grundtvig- Gesellschaft sind sich — und das mit Recht — bewußt, daß der Gedanke Grundtvigs in Österreich nicht zu einer Nachahmung dänischer und schwedischer Einrichtungen, die ja ihre eigenen, unwiederholbaren Bedingungen und Geschichte haben, verleiten dürfe; daß eine österreichische Volkshochschule im Geiste Grundtvigs eine vollkommen neue, österreichischen Verhältnissen angepaßte Gestaltung finden müsse. Dennoch ist bedauerlich, daß im Hinblick auf die Dynamik zwischen der österreichischen und dänischen Gründung keine Ähnlichkeit besteht. Denn erinnern wir uns doch daran, wie in Dänemark die Volkshochschule Wirklichkeit wurde. In Dänemark war es eine wahre Bildungsbewegung, die von jungen Menschen, von begeisterten Studenten zumal, getragen wurde. Daß diese Bewegung nicht ins Leere ging, war dann freilich nicht allein das Verdienst der jungen Männer von dazumal, sondern hat seine soziologisch anweisbaren Ursachen. In Österreich wurde aber zuerst ein Verein gegründet, der sich die geeigneten Lehrer und Schüler erst suchen muß. Es stehen sich hier also eine Bewegung, die von unten nach oben führte, und eine Planung, die von oben nach unten sucht, gegenüber. Das ist schade und kann von Anfang an für das Gelingen gefährlich sein. Es ist mehr als ein Schönheitsfehler, daß sich die bildenden Kräfte nicht von unten, von jungen Menschen, Lehrern ‘ und Studenten, her gefunden haben. So ist von Anfang an eine Institution geschaffen worden! die eher geneigt ist, den dynamischen Gedanken Grundtvigs in eine starre Vereinsroutine umzuwandeln. Diese Bedenken betreffen, das sei hier mit Nachdruck gesagt, nicht einzelne Mitglieder der Gesellschaft, sondern den institutionellen Charakter des Unternehmens.

Zum anderen muß darauf hingewiesen werden, daß die dänische Volkshochschulbewegung deshalb so erfolgreich wurde, weil sie primär eine religiöse Bewegung war. Vergessen wir nicht, daß das dänische Volk in der ersten und zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts religiös einheitlich gebunden war. Das ist heute nicht mehr der Fall — weder bei uns noch anderswo. Es ergibt sich hier eine ungeheure Schwierigkeit, die auch nicht mit Takt überwunden werden kann, schon gar nicht darf sie übersehen werden, wenn man das „Volk” in die Schule nehmen will.

Wo einst echte religio geführt und geleitet hat, ist heute eine Leerstelle, die mit christlichen Derivaten, säkularisierten christlichen Ideologien (Humanismus und Sozialismus zählen dazu) aufgefüllt werden. Halten wir nun daran fest, daß geübte Religion keine Doktrin, keine Ideologie oder „Weltanschauung” ist; ja, daß Doktrinen, Ideologien und Weltanschauungen gründlich zerstört werden müssen, damit der, Mensch wieder ein rechtes Verhältnis zu Gott bekomme und damit auch eine rechte Anschauung der Welt finde: so müssen wir in Theorie und Praxis den Zirkelschluß vermeiden, der dem Programm der österreichischen Grundtvig-Gesellschaft zugrunde zu liegen scheint. Denn einerseits soll ja keiner Ideologie das Wort geredet werden — andererseits sollen aber die „letzten Zusammenhänge sittliche” sein. Nein, die letzten Zusammenhänge sind religiöser Natur. Das hat immer gegolten und wird auch für heute gültig sein. Sittlichkeit, und sei sie noch so erhaben, ist und bleibt ein Vorletztes, weist über sich hinaus auf ein Mehr-als-Sittliches. Die Behauptung, daß die, letzten Zusammenhänge sittlich seien, ist so lange richtig, solange ich mir bewußt bleibe, daß dieses Letzte nur eine taktische Bedeutung innerhalb der Pädagogik hat. Fasse ich es aber ontologisch, dann wird aus einer solchen Behauptung schnurstracks eine Ideologie, wird daraus der Ethizismus, der die Menschheit von ihrer Selbstvernichtung nicht zu retten vermag. Die letzten Zusammenhänge sind also religiöse. Daß es aber den Nächsten (das erste Du, wie Kierkegaard gesagt hat) überhaupt gibt und daß wir (ich und du) den Nächsten lieben sollen; ja, daß Liebe eine Pflicht ist, ist eine religiöse und keine humanethische Wahrheit. Das Christentum ist somit auch die Offenbarung des Nächsten. Humanismus und Sozialismus haben diese Offenbarung nur ins rein „Irdische” übersetzt und den Urtext vergessen.

Mit diesen Feststellungen ist nun gar nicht gesagt, daß eine Volkshochschule im Sinne Grundtvigs unbedingt eine religiöse Schule zu sein habe. Ja, eine Volkshochschule würde ihr Aufgabenfeld überschreiten, wollte sie ein Amt übernehmen, das letztlich der Kirche zukommt. Für ihr Wirken (nicht für die menschliche Wirklichkeit überhaupt) ist tatsächlich das Sittliche das „Letzte”. Dieses „Letzte” muß aber (will es sich selbst ernst nehmen) die Tore weit offen lassen zum Religiösen hinüber. Ich meine das so, daß der wahre pädagogische Führer zur sittlichen Bildung in dem zu Bildenden das Bewußtsein seiner Kreatürlichkeit zu erschließen und wachzuhalten hat. Weiß der Mensch nur wieder, daß er Kreatur, Geschöpf ist, dann ist ihm auch der Weg zu anderen Geschöpfen und zum — Schöpfer offen. Die Erziehung zu diesem Bewußtsein, das über das rein sittliche Bewußtsein hinausgeht und doch der Höhepunkt jeder Sittlichkeit ist, muß das Ziel einer jeden Menschenbildung sein. Ein solches Kreaturbewußtsein macht dann auch den Weg zur Wahrheit frei, die Wahrheit aller, nicht nur „meine Wahrheit” ist. Auch hier sieht das Programm nicht deutlich den Sachverhalt. Denn der Relativismus wird nie und nimmer durch einen Subjektivismus („daß der Mensch A und der Mensch B sich seiner innerlichen Wahrheit gemäß bekennen and verhalten müsse”) aufgehoben. Wahrheit hat man nicht in sich; Wahrheit hat man überhaupt nicht, sie läßt sich nicht besitzen. Zur Wahrheit, die den Menschen transzendiert und so erst für alle gültig sein kann, kann sich der Mensch nur strebend verhalten. Denn sonst gäbe es nur „Wahrheiten”, welcher Plural aber ein Nonsens ist. Wahrheit so verstanden ist überhaupt erst fähig, Gemeinschaft zu bilden. Meint aber ein Mensch — hochmütig oder dumm —, die absolute Wahrheit zu besitzen, so muß er sich freilich gegen andere Menschen verhärten. Erst wenn der Mensch erkennt,

daß er auf dem Wege zur Wahrheit ist und mit ihm andere auch, erst dann wird der Krieg aller gegen alle aufhören; wird echte, geistige Gemeinschaft möglich sein. Die ist dann freilich mehr als „Duldung”, die immer etwas von Herablassung an sich hat; ist auch mehr ab ein fadenscheiniger Neutralismus, der in einer Bildungsgemeinschaft wie die Pest gemieden werden muß.

Dies aber sei gesagt, nicht um zu „kritisieren”, sondern aus der Sorge, daß das Werk gelinge, daß wirklich der Mensch zum Menschen — und über den Menschen hinaus unterwegs sei.

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