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Digital In Arbeit

Der Weg zum Menschen

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Von einem österreichischen Nationalökonomen stammte der leitende Aufsatz „Versäumte Aufklärung — Eine Schuld an die arbeitende Bevölkerung“, der in der „Furche“ Nr. 27 nachdrücklich darlegte, daß die auch für die österreichische Volkswirtschaft im Gesamtinteresse des ganzen Volkes notwendige Produktionssteigerung nicht durch mechanische Mittel, neue Maschinen und Anpassung und Steigerung der physischen Arbeitskraft allein erzielt werden kann, sondern daß, wie die Leistung amerikanischer Industrie praktisch vorführt, der erforderliche höhere Leistungsstand nicht aus dem Materiellen zu erreichen ist ohne entscheidende Mitwirkung des psychischen Moments: Es muß sichtbar dargetan und dem Arbeiter aufklärend vorgeführt werden, daß die industriellen Arbeitgeber wissen, daß Produktionssteigerung innerbetriebliche soziale Praxis und den Erweis voraussetzt, daß dann „höchstmögliche Leistungen mit dem geringsten Arbeitsaufwand“ erreicht werden können.

Der Verfasser des nachstehenden Aufsatzes zeigt den Weg der Erkenntnis, den mit ihrem unerreichten Erfolg die amerikanische Industrie dank eines sehend gewordenen Unternehmertums gegangen ist, einen Weg, der zu einem neuen Stil auch der österreichischen Produktion und des Lebensstandards des österreichischen Arbeiters führen sollte. Die „Furche“

Wenn ich vor Jahren, bevor ich Amerika aus dem Erleben kennenlernte, von diesem Kontinent reden hörte, da erwachte in mir stets die Vorstellung von in die Wolken ragenden Hochhäusern, und dazwischen erschien immer das laufende Band des Maschinensaals, an dem der Arbeiter in dem seelenlosen Einerlei mechanischer Produktion erstarrt, Sklave einer riesigen Industrie und eines schamlosen Kapitalismus. Seitdem habe ich die Wirklichkeit kennengelernt; sie ist anders, wenn auch sie die Unvollkommen-heiten menschlichen Tuns besitzt. Uber den amerikanischen Arbeiter wacht der machtvolle Faktor der Gewerkschaften und eine fortschrittliche Gesetzgebung, die, wenn sie auch nicht so fortschrittlich ist wie jene Österreichs, doch die Arbeitsbedingungen regelt. Aber dieser Schutz ist nicht der Entscheidende. In diesem Lande, in dem der Initiative des Individuums ein so breiter Spielraum eingeräumt ist, hat das Unternehmertum mit größerer Klarheit als irgendwo anders erkannt, daß es sich selbst nützt, wenn es die Stellung des Arbeiters verbessert, nicht aus Altruismus, sondern aus einer sehr nüchternen sachlichen Erkenntnis. In den riesigen Werkstätten amerikanischer Industrie sind die Reformen entstanden, die noch immer im Wachsen, in Verfeinerung begriffen sind. .Eine Maschine ist nur so gut wie derjenige, der sie bedient.“ Das ist die kühle Erkenntnis, aus der die Stellung des amerikanischen Arbeiters erwuchs.

Es ist eine besondere Geschichte, wie es dazu kam. Vor einem Vierteljahrhundert, als sich Amerika wieder in einer Konjunkturwelle befand, lagen über den Werken der Western Electric Company Gewitterwolken. Spannung und Unruhe herrschten unter den Arbeitern, und die Direktion fand keinen Weg, die Gefahren zu bannen, die stetig zu wachsen

schienen. Diese Periode der Gefahr dehnte sich über einige Jahre aus. Die Industrie untersuchte viele Stellen, an denen innerbetriebliche Reformen notwendig schienen, um die Ungewißheit über die zukünftigen Produktionsbedingungen herabzumindern. Im Jahre 1924 begann die Western Electric gemeinsam mit der National Academy of Science, Gelehrten der Harvard University, Spezialisten in Gesundheitsfragen und anderen Wissenschaftern Untersuchungen über den Einfluß der Beleuchtung auf die Arbeit. In einer gründlichen Forschung stellte sich zur Enttäuschung aller Beteiligten ein völlig negatives Resultat ein. Produktionssteigerungen traten ein, wo man sie am wenigsten erwartet hatte, Rückgänge erfolgten gerade dort, wq,. alles vorgekehrt worden war, was bis dahin als produktionsföräernd angesehen wurde. Versuche zu anderen Zeiten, aber unter gleichen Umständen vorgenommen, zeigten schließlich überhaupt keine Veränderungen oder solche, . die im Gegensatz zu den Erfahrungen aus den ersten Versuchen standen. Die Wissenschafter waren verwundert. Es war lange als eine unumstößliche Tatsache angesehen worden, daß die industrielle Leistungsfähigkeit des Arbeiters in direktem Verhältnis zu seinem physischen Zustand und zu seiner Fabriksumgebung steht. Aber viele Wahrnehmungen widersprachen. Da stimmte etwas nicht. Man konnte sich also mit den Ergebnissen nicht zufrieden geben und unternahm neue Studien. Die Arbeitszeit wurde geändert. Arbeitspausen wurden verlegt, eingeschaltet oder abgesetzt. Löhne wurden verändert, das Aufsichtssystem gewechselt. Man wollte Antwort auf Fragen bekommen, wie zum Beispiel: .Sind Ruhepausen wünschenswert?“ .Ist die 48-Stunden-Woche er-

müdend?“ Ist ein kürzerer Arbeitstag wünschenswert?“ .Welchen Einfluß übt ein Wechsel des Arbeitsmaterials “auf die Leistungsfähigkeit des Arbeiters aus?“ .Warum geht die Produktion an Nachmittagen zurück?“ .Wie beeinflußt die Einstellung des Arbeiters zu seiner Arbeit und zur Firma seine Fertigkeit?“ Durch fünf Jahre wurde eine für die Versuche ausgesuchte Gruppe von Mädchen beobachtet, geprüft, befragt, studiert. Und wiederum war das Ergebnis der Studie weit entfernt von dem, was er-

wartet worden war. Es wurde festgestellt, daß äußerliche Veränderungen in der Umwelt des Arbeiters nicht den ausschlaggebenden Faktor für Veränderungen in seiner Leistungsfähigkeit bilden. In sorgfältigen Beobachtungen und in einem freien Gedankenaustausch mit der Arbeiterschaft kam das wirkliche Problem klar zutage. Es bestand darin, sich mit der Empfindungswelt des Arbeiters, mit seinem Gemütszustand und den Umständen, die seine seelische Verfassung beeinflussen, zu befassen.

Die von dem großen Elektrizitätskonzern angerufenen Soziologen entschlossen sich zu einem erregenden Experiment, das unter dem Titel .Das Haw-thorn-Experiment der Western Electric“ — Hawthorn ist der Name einer der Fabriken der Western Electric Company — Geschichte gemacht hat. Es wurde beschlossen, zu jedem einzelnen von 21.000 Arbeitern der Hawthorn-Werke zu sprechen und das Gespräch genau festzuhalten. Die Befragung dauerte drei Jahre. Frauen wurden von Frauen, Männer von Männern befragt. Es zeigte eich, daß sich Arbeiter wiederholt von Fragen abwendeten, die ihnen gestellt wurden, und von anderen Dingen sprachen, auf die sie immer wieder zurückkamen.

Man gab nun dem Befragten Gelegenheit, frei sich darüber auszusprechen. Man kümmerte sich nicht nur um seine Arbeitsleistung, sondern auch um sein Tun und sein Daheim. Das Ergebnis war überraschend. Der und jener Angestellte schien einen ermutigenden Impuls erhalten zu haben, seine kleinen Vorgesetzten wurden menschlicher und verstehender, er selbst begann sich als ein lebendiger Bestandteil des Unternehmens zu fühlen. Das Verhältnis von Mensch zu Mensch im Betrieb wurde ein anderes. Die Erfahrungen, die man in der Western Electric gemacht hatte, regten auch andere Unternehmer zur Nachfolge an. Es dauerte nur wenige Jahre, so hatten zahlreiche Großunternehmungen in ihren Be-

trieben, ermuntert auch durch die Haltung der Regierung gegenüber der sich anbahnenden Reform, ki ihren Werkstätten Kanzleien für „Industry Coun-selling“, also „Beratungsstellen der Arbeiter*, eingerichtet. Die Leiter dieser Stellen hatten mit dem sonstigen Dienstbetrieb nichts zu tun, sie traten als freie Berater dem Arbeiter gegenüber, sie vermittelten ihm Auskunft in gewissen

Lebensfragen, medizinische Beratung, sie kümmerten sich um sein Familienleben, wenn sie merkten, daß bei einem in seiner seelischen Verfassung etwas nicht stimmte und die Merkmale auf seine häuslichen Verhältnisse deuteten. So wuchs in der amerikanischen Industrie eine kleine Armee von geschulten Fürsorgern heran, im Umgang mit Menschen erfahrene Männer und Frauen.

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