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Der Zögling Rene Rilke

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Es ist eine oft bestätigte Tatsache, daß sich in die Biographien bedeutender Persönlichkeiten sehr rasch unzutreffende Darstellungen einschleichen, die richtigzustellen dann große Mühe kostet. So finden wir auch bei Rainer Maria Rilke, dessen Geburtstag sich am 4. Dezember zum 75. Male jährt, über seine Abstammung, über seine „qualvollen Jahre in der Kadettenanstalt St. Pölten“ und über seine Dienstleistung im Weltkrieg bereits von den Lexika übernommene Versionen, die den Tatsachen nicht entsprechen.

Des Dichters Vater, Josef Rilke, stammte aus Schwabitz in Nordböhmen, besuchte die Prager Artillerieschulkompanie, kam als Kadettkorporal zum 1. Feldartillerieregiment und trat nach zehn Dienstjahren als Feuerwerker-Kapitulant in den Zivildienst, in dem er es bis zum Bürochef bei der böhmischen Nordbahn brachte. Da er selbst nicht Offizier werden konnte, hätte er es gerne gesehen, daß sein Sohn Rene (erst als Dichter „Rainer Maria“) diese Laufbahn einschlage, trotzdem die Mutter eher dagegen war und ihrem Kinde andere Ziele setzte. Der kleine Rene erhielt einen böhmischen Landesstiftungsplatz in Sankt Pölten, wo er von 1886 bis 1890 in der Militärunterrealschule studierte, um dann in die Oberrealschule zu Mährisch-Weiß-kirchen aufzusteigen. Mit „10 9/12 Jahren“ und mit „5 Gulden Monatszulage“ als .bemittelt“ bezeichnet, mochte sich Rilke bei seinem Eintritt in die Militär-erziehung nicht mehr und nicht weniger Gedanken gemacht haben als alle anderen 10jährigen Knaben, die sehr begeistert die Uniform anzogen, welche noch absolut keinen Zwang zum Beruf bedeutete.

Die liebevolle Genauigkeit aller Personalaufzeichnungen der altösterreichischen Armee läßt uns wissen, daß Rilke in den ersten vier Jahren der Militärerziehung um 20 Zentimeter wuchs, daß sein Brustumfang um 13 Zentimeter und sein Gewicht um 17 Kilogramm zunahmen. Anfangs „blutarm“ und „schwächlich“, wird er im vierten Jahr als „gesund, gekräftigt“ bezeichnet. In der Klassifikationsliste erscheint er zuerst mit dem Gesamterfolg „gut (milder beurteilt)“, im dritten Jahr hat er schon die doppelte Auszeichnung mit dem Rang 7 unter 50, dann 8 unter 48 Zöglingen. Fleiß, Konduite, Anstandslehre und Religion zeigen immer die besten Noten, die Fähigkeiten wurden mit „entsprechend; besser befähigt für Sprachen“ umschrieben, die Adjustierung als „rein und ordentlich“ erklärt. In der Rubrik „Benehmen“ lesen wir „sehr artig, bescheiden, zuvorkommend“, in jener von der „Gemütsbeschaffenheit“ heißt es „still, gutmütig, sehr strebsam“. Wir haben also einen richtigen Musterschüler vor uns, und nichts deutet darauf hin, daß sich dieser in St. Pölten etwa unhaltbar fühlte. Wohl verdichtete sich mit der Zeit der Wunsch, in das Elternhaus zurückzukehren, doch blieb Rilke über vier Jahre im Internat. Das Verhängnis kam nämlich erst mit dem Ende der Unter-und dem Aufstieg in die Oberrealscbnle, als neben die allgemeinen die militärischpraktischen Lehrgegenstände traten. Ging es noch im Exerzieren und Schießen zufriedenstellend, so versagte der sonst so brave Zögling im Turnen und Fechten vollkommen und mußte wegen zwei „Ungenügend eine Nachprüfung machen, die er aber bestand. In Mährisch-Weiß-kirchen kam er dann nicht mehr mit, sein physischer Zustand ist nur mehr „entsprechend; Nervosität“, am 6. Dezember 1890 wurde er wegen Krankheit beurlaubt und am 4. Juni 1891 „über

Ansuchen seiner Angehörigen entlassen“.

Es haben in Osterreich auffallend viele Dichter und Schriftsteller ursprünglich den bunten Rock getragen, sind dann ausgetreten und lebten nur mehr den Musen, der Freiherr von Zedlitz gehört hieher so gut wie Anastasius Grün oder Saar, M i 1 o w und andere mehr, doch keiner von diesen sah sich veranlaßt, über seinen soldatischen Anfang einen vernichtenden Fluch niederzuschreiben, wie es Rilke getan hat. Allerdings stoßen wir bei diesem auf eine' nicht bedeutungslose Zwiespältigkeit: während er nach /dem Verlassen der Militärschule — wie Carl S i e b e r berichtet — in Prag noch gerne in Uniform ausgeht und sich mit dem Gedanken trägt, auf dem Umwege über den Einjahrig-Freiwilligen-Dienst doch Offizier zu werden, da er sich sagte: „Der Militärstand ist der einzige Stand, für den ich tauge... ich habe nur den Rock des Kaisers ausgezogen, um ihn in kurzer Zeit wieder anzuziehen — für immer... ich werde ihn in Ehren tragen...“, während er im Innersten das Helden- und Soldatentum bejahte und noch 1908 in einem Briefe an den ausder Neustädter Akademie stammenden F. X. Kappus dem Militärstande durchaus positive Seiten zusprach sowie ehemaliger Militärprofessoren mit „großer Verehrung“ und „dauernder Dankbarkeit“ gedachte, entschloß er sich 1920 in einer Antwort an seinen gewesenen Lehrer, den General v, Sedlakowitz, zu einer scharfen Verurteilung der St.-Pöltener Schule, welche begreiflicherweise den Weg um die Welt fand und fortab allen Gegnern des Soldatenstandes als Kronzeuge diente. Da konnte es jetzt jedermann lesen vom „Abgrund unverschuldeter Not“ in den „St.-Pöltener Gefängnismauern“ mit ihrem „undurchdringlichen Elend“, wo Rilke als „körperlich und geistig Mißbrauchter“ eine „gewaltige Heimsuchung“ seiner Kindheit erfuhr. Da sich in Rilkes Zöglingsbriefen nie Klagen über eine Behandlung finden, die auch nur irgendwie als unzulässig, unmenschlich oder verletzend hätte gelten können, muß der nachträgliche Ausbruch außergewöhnlicher Bitternis andere Grundlagen gehabt haben.

Bekanntlich kommt es in allen Schulen einschließlich der Hochschulen alljährlich vor, daß nach dem ersten Anlauf Schüler zurücktreten, weil sie den Anforderungen nicht gewachsen sind. Rilke ist nicht nur aus der Militärschule ausgetreten, er gab nachher die Handelsakademie ebenso auf wie die Universität, er paßte eben in keine Schule, und wegen seiner Köperkonstitution am allerwenigsten in die Militärschule, in welcher sein Scheitern zwangsläufig war. Während jedoch das Wechseln ziviler Schulen durchaus unauffällig vor sich geht, spielt sich das Ablegen der Uniform sozusagen öffentlich ab, und das mußte mit dem wenn auch noch so berechtigten aber doch übersteigerten Selbstbewußtsein des Dichters, der nur Höchstes und Außergewöhnliches anstrebte, in Konflikt geraten. Das neidvolle Hinübersehen zu allen Kameraden, die spielend die spartanischen Lebensregeln und die körperlichen Anstrengungen ertrugen, mußte mit der Zeit einen Minderwertigkeitskomplex erzeugen, und gar als Rilke schon der Weltliteratur angehörte, da fand er es wohl für angezeigt, seinem ihn grämenden Versagen eine allgemein glaubhafte Deutung zu geben, die ihn von einem Mangel befreien sollte, den er scheinbar — ganz zu Unrecht natürlich — als schuldhaft empfand. Nicht die physische Unzulänglichkeit sollte demnach maßgebend gewesen sein, sondern eine Art allgemeiner Verschwörung gegen den wehrlosen Einzelnen, deren Auswirkungen Rilke sogar jenen gleichsetzt, denen die Bagnosträf-linge erliegen. Man wird nicht fehlgehen, wenn man sagt, daß die angedeuteten Erwägungen den Brief an seinen Lehrer diktiert haben.

Das Bild vom Militärschüler Rilke erfährt wertvolle Bereicherung durch Mitteilungen seiner Schulkollegen, von denen der eine sich kurz faßt: „Ein lieber Kerl war er, aber als Soldat einfach unvorstellbar!“, der andere hingegen eingehender berichtet: „Rilke war fünf Jahre hindurch Tag und Nacht unter uns 50 Zöglingen ... er war wie aus einer anderen Welt, zart und schmal, mit kleinen Händen und Füßen, kindlichem Teint, sehr, sehr hoher Stimme und schien uns ein Mädchen in Uniform... nett, gepflegt bis in die Fingerspitzen und äußerst korrekt in seinem Gehaben. Irgendeiner — sagen wir — Unregelmäßigkeit, wie sie unter Knaben in den .Flegeljahren' häufig vorkommt, war er nicht fähig... Seiner dichterischen Begabung war er sich bewußt. Oftmals erhob er sich vor Beginn des Unterrichts in der Deutschen Sprache lautlos von seiner Bank. .. ging mit seinen ganz kleinen Schritten zum Katheder, überreichte dem Lehrer einige kurze Gedichte und bat, sie vorlesen zu dürfen, was dann stets geschah. Wir verstanden wenig von Lyrik. Wir schwiegen, und das war für Uns der Ausdruck größter Hochachtung. Nie fiel ein spöttisches Wort. Er war eine Persönlichkeit... allerdings physisch unzulänglich ... das Ungeschickteste, was man sich denken kann, und sein Austritt aus der Militärerziehung war eine notwendige Folge davon ... uns gegenüber hat er nie geklagt, und die spätere, geradezu schreckliche Ablehnung scheint damals gar nicht vorhanden gewesen zu sein. Sie wurde vielleicht erst... retrospektiv konstruiert.“ So also sehen die engsten Freunde von derselben Schulbank den weltberühmten Dichter, der sich ihrer nie hätte schämen brauchen, denn die allermeisten seiner St.-Pöltener Mitschüler haben nicht nur in der Armee, sondern auch in Zivilberufen hochangesehene Stellungen erreicht und sich in schwersten Zeiten zu Ehren ihrer Pflanzstätte glänzend bewährt.

Die zweite Berührung Rilkes mit dem Militär brachte der erste Weltkrieg, als Rilke — in München lebend — assentiert wurde, was aber nur zu einer kurzen Episode führte. Im Bestreben, d&ii Dichter schonend zu behandeln, verfügte das Landesverteidigungsministerium die Einteilung des Landsturminfanteristen Rilke in das Kriegsarchiv, wo er in der „Literarischen Gruppe“ Verwendung fand In dieser Gruppe hatte der ArchivdirAVor General v. H o e n eine Reihe österreichischer Literaten vereinigt, die hier, den Zeitläufen angepaßt, ihre Fähigkeiten am besten verwerten konten. Unter den Autoren der Publikationen der Literarischen Gruppe begegnen uns neben den Berufsoffizieren R. H. Bartsch und F. K. Ginzkey auch F. Th. Cso-k o r und Stefan Zweig, welch letzterer in seinem Buche, „Die Welt von gestern“, von Rilke erzählt: „Es war gelungen, ihn gleichfalls für unser Kriegsarchiv anzufordern, denn er wäre der unmöglichste Soldat gewesen mit seiner Überzartheit der Nerven ... immer muß ich lächeln, wenn ich mich an ihn in Uniform erinnere... ,Ich habe', sagte er, .dieses Militärkleid seit der Kadetten-schüle gehaßt, ich glaubte ihm für immer entkommen zu sein. Und jetzt noch einmal, mit fast vierzig Jahren!'...“

Wie Katharina Kippenbergs 1948 erschienenem Rilke-Buch neben der knnventionellen Wiederholung der Militärschule als „entsetzlichem Feind“ zu entnehmen ist, reichte 1916 der „Insel-Verlag“ beim Kriegsministerium ein Gesuch um Entlassung Rilkes aus dem Militärdienst ein, und tatsächlich erfolgte die Entlassung bereits im Juli. Der Krieg 1914—1918 verschlang nach dem ehernen Gesetz der Gleichheit vor dem Schnitter Tod so manchen stolzen Vertreter von Kunst und Wissenschaft, der hoffnungsvolle Dichter Georg T r a k 1 hauchte in

Krakau seine Seele aus und der führende Naturforscher Fritz Hasenöhrl sank mit der Waffe in der Faust in den Alpen dahin. Rilke faßte das Schicksal gütiger ,an, es bot ihm im Kriegsarchiv ein rettendes Eiland, und dieselbe Armee, deren Schule er nach dem Kriege erbarmungslos vor aller Welt an den Pranger stellen sollte, hielt ihre schützende Hand über ihn, schenkte ihm dadurch noch zehn Jahre seines Lebens und die Vollendung seines unsterblichen Werkes.

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