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Deutsche Exilliteratur

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Es mußte fast ein Vierteljahrhundert vergehen seit der Beendigung der Schreckensherrschaft, die Adolf Hitler nicht nur über Deutschland und Österreich sondern auch über den ganzen Kontinent ausgebreitet hatte, ehe sich Germanisten, Soziologen, Historiker und Politologen aus dreizehn Ländern zu einer internationalen Tagung zusammenfanden, um an einem neutralen Orte — in Schwedens Hauptstadt Stockholm — die vielfältige Problematik jener Literatur zu diskutieren, deren Schöpfer und Träger den Machtbereich des „Gefreiten aus Braunau“ fliehen mußten. Es waren ihrer so viele, daß man im wahrsten Sinne des Wortes vom „Auszug des deutschen Geistes“ reden konnte, wie schon vor Jahren der Sender Bremen eine Hörfolge benannte, die nur einen Bruchteil jener schöpferischen Persönlichkeiten, die ins Exil gehen mußten, in einzelnen Gesprächen den Hörern wieder ins Gedächtnis rief, ja der jüngeren Generation überhaupt erst vorstellte. Von einer wirklichen Erfassung der Flüchtlingsliteratur in ihrer vielschichtigen Problematik als einer dennoch einheitlichen Bewegung war bis dato weder in gelehrten noch in publizistischen Kreisen die Rede.

Daß die deutschsprachige Literatur der Flüchtlinge aus dem Dritten Reich nämlich als eine durchaus eigenständige Literaturbewegung aufzufassen sei, hat bis zum Jahre 1965, in dem die Deutsche Bibliothek in Frankfurt am Main ihre inzwischen in vielen Ländern und auch bei uns in Österreich gezeigte Ausstellung „Exilliteratur 1933 bis 1945“ veranstaltete, kaum einer zur Kenntnis genommen, am allerwenigsten die deutsche Germanistik, die das Thema zwar nicht gerade ignorierte — es gab da und dort Dis- serationen über einige berühmte Exilautoren, wie Broch, Musil, Mann, Zweig usw. — aber doch behutsam umschwieg, wohl aus dem Schuldbewußtsein jener Germanisten, die für die unheilvolle Entwicklung von 1933 bis 1945 die geistige Mitverantwortung zu tragen hatten. Lediglich der über Dänemark nach Schweden emigrierte Hamburger Literarhistoriker Walter A. Berendsohn hat hier unermüdliche Pionierarbeit geleistet und schon 1947 in seinem Buch „Die humanistische Front“, dessen zweiter Teil 1959 zwar vollendet, aber nicht mehr gedruckt wurde, die Quellen und Zeugnisse für den „Auszug des Geistes“ aus Hitler-Deutschland vorgelegt. In den folgenden zwei Jahrzehnten war er unermüdlich tätig,

sowohl in der Sammlung weiterer Materialien als auch in der deutenden Analyse einzelner Werke der Emigrantenliteratur. Bezeichnenderweise fand er an keiner einzigen deutschen Universität nach 1945 eine Heimstatt, wo er seine Forschungen in Vorlesungen und Seminarübungen hätte ausbreiten können.

Die Heimatstatt bot ihm das Deutsche Institut in Stockholm, wo sich einer der bedeutendsten Linguisten und Germanisten der Gegenwart, Prof. Dr. Gustav Korlėn, seiner annahm und der Erforschung der deutschen Flüchtlingsliteratur sein besonderes Augenmerk schenkte. Er lud auch zu dem „Symposion über deutsche Literatur der Flüchtlinge aus dem dritten Reich" nach Stockholm ein und die Veranstaltung mag ein verspätetes Geburtstagsgeschenk für Walter A. Berendsohn gewesen sein, der vor kurzem 85 Jahre alt wurde. Sie erhielt ihren besonderen Glanz nicht nur durch die Zahl der erschienenen Gelehrten, von denen mancher selbst das bittere Los des Exils ertragen mußte, wie etwa Kantorowicz, Wolffsheim, Mierendorff U. a., sondern vor allem durch die Anwesenheit des 83jährigen berühmten Expressionisten Armin T. Wegner, dessen mutiger Brief gegen die Judenverfolgungen an Hitler aus

dem Jahre 1933 unvergessen ist, und durch die Lesung Carl Zuckmayers in der übervollen Aula der Universität.

Wenn Berendsohn stets von einer „Literatur der Flüchtlinge“ spricht, so einigte man sich in Stockholm doch auf die wertfreiere Bezeichnung „Exilliteratur“ und definierte sie als die Literatur jener, die den Machtbereich Adolf Hitlers selbst verlassen mußten. Die Probleme der sogenannten „inneren Emigration“ wurden dabei lediglich gestreift und verdienen einmal eine eingehende Behandlung. Wenn heute bereits in den Vereinigten Staaten ein Seminar von Germanistikprofessoren ins Leben gerufen wurde, das die Probleme der deutschen Exilliteratur im Osten und Westen der Staaten und an ganz bestimmten Zentren untersuchen soll — ihm gehören John M. Spalek, Guy Stern, Adolf D. Klarmann und unter anderem auch die Österreicher Joseph Streiką, Helmut Pfänner an — so zeigt dies die Wichtigkeit und Dringlichkeit der Untersuchung einer Bewegung, die sich durch ganz bestimmte Zentren, durch den gemeinsamen Kampf gegen das Inhumane des Faschismus und durch eine doch in den Topois gemeinsame Sprache auszeichnet. Will man ihre zeitliche Abgrenzung festlegen, so ergibt sich, daß die geistigen Grundlagen dieser Bewegung schon in den zwanziger Jahren gelegt wurden. Es waren ja die Hauptvertreter der Literaturbewegung des Expressionismus, die 1933 ins Exil getrieben worden sind, deren Bücher im Mai 1933 öffentlich verbrannt wurden. Ihr Ende wird erst dann eingetreten sein, wenn der letzte Exulant entweder heimgekehrt oder in seiner Wahlheimat gestorben sein wird. Und es sind nicht wenige, die nicht mehr in ihre alte Heimat zurückgekehrt sind

Um alle die Fragen, die das Exil und die Exilliteratur aufwirft — die Probleme der Welt der Flüchtlinge, ihre Erfassung, die Grade ihrer Assimilation, die Weisen ihrer Aufnahme, ihr Verhältnis zueinander, ihre Resonanz in den Gastländern, ihre politischen und geistigen Grup- pierungen im Widerstand, ihr Verlags- und' Zeitungswesen,, ihr volkswirtschaftlicher Nutzen, den sie den Gastländern gebracht haben, ihre Vermittlertätigkeit als Träger des wahren deutschen Geistes usw. — beantworten zu können, bedarf es zunächst einmal einer wertfreien, interdisziplinären „Grundforschung“, die in mühevoller, selbstloser Kärrnerarbeit in den Heimat- und Gastländern nach dem Quellen- und Archivmaterial, nach den literarischen Nachlässen, dichterischen Zeugnissen in Zeitschriften oder in Buchform zu suchen hat. Erst wenn sie — auf internationaler Zusammenarbeit basierend —r einmal das Material bereitgestellt haben wird, kann eine Geschichte dieser Literaturbewegung geschrieben werden. Ein solches Unternehmen versucht im autodidaktischen Alleingang zur Zeit zwar der deutsche Journalist Hans Albert Walter, aber es muß abgewartet werden, wieweit ihm dieses Unternehmen gelingen wird und ob die wertenden Kategorien einer jüngeren Generation, die das Exil nun als historisches Faktum kennt, auch auf die „humanistische Front“ zutreffen werden. Auch dies hat der Kongreß gezeigt, daß die jüngeren Germanisten, Historiker und Politologen gerne dazu neigen, geistesgeschichtlich und zeitimmanente Kategorien der Deutung gegenüber modernen Vorstellung der Gegenwart eher abzuwerten und abzulehnen. Die „Stockholmer Koordinationsstelle für .die deutsche Exilliteratur", die auf diesem Kongreß ins Leben gerufen wurde, wird vieler Helfer und Mitarbeiter in den einzelnen Exil- und Heimatländern bedürfen, ehe sie nur die bio- und bibliographischen Daten in einem geplanten Katalog der Exilliteratur verarbeiten kann.

Für Österreich wird die „Dokumentationsstelle für neuere österreichische Lateratur“ in Zusammenarbeit mit den Instituten für Zeitgeschichte und dem Dokumentationszentrum des österreichischen Widerstandes versuchen, an dieser riesigen, fast utopisch anmutenden Zielsetzung, wie sie der schwedische Germanist Dr. Helmut Müssener entwickelt hat, redlich mitzuwirken.

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