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Deutsche Minderheiten im Kampf gegen die Diktatur

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Bei der letzten Jahreskonferenz im Frühjahr 1937 der deutschen demokratischen Volksgruppen in Wien waren Delegierte aus Lettland, Polen, der Tschechoslowakei, Rumänien und Südtirol erschienen, überdies hatte die Deutsche Sozialdemokratische Partei in der Tschechoslowakei Vertreter entsandt, die deutsche Volksgruppe in Ungarn, Rumänien und Südslawien. Als Beobachter waren schließlich Abgeordnete des Zentrums und der Sozialdemokratischen Partei aus dem Freistaate Danzig anwesend. Begrüßungs- und Entschuldigungsschreiben waren aus Nordschleswig, aus Belgien, dem Elsaß, aus Rumänien, Südslawien und Ungarn gekommen. Jedenfalls konnte der Vorsitzende, Doktor Paul Schiemann, Wien, ehedem demokratischer Abgeordneter im leltlän-dischen Parlament, mit Fug und Recht feststellen, daß alle deutschen europäischen Volksgruppengebiete, ausgenommen Estland und Litauen, nach Wien maßgebende Persönlichkeiten delegiert hatten.

Das Hauptthema, das diese letzte Vollkonferenz beschäftigte, war die berechtigte Sorge über die nationalsozialistische Aggression, die die zukünftige Lage aller deutschen Siedlungsgebiete katastrophal gestalten würde, sollte das Totalitätsprinzip Verwirklichung finden. Der Nationalsozialismus band mit der Feststellung, Deutscher sei nur der, der Nationalsozialist sei, das Schicksal deutscher Außenposten an die Geschicke des Dritten Reiches und damit an einen Imperialismus, der sich, bei seinem vorauszusehenden Niederbruch, zerstörend auf die deutschen Kolonisations- und Siedlungsgebiete auswirken mußte. Außerdem wurde bereits damals die prophetische Feststellung gemacht: „Ein deutscher Nationalismus, der sich in Gegensatz zu abendländischem Denken und Fühlen stellt, ist dem Untergang geweiht, er mag vorübergehend Erfolge, die ganz große sein können, erringen. Schließlich muß er in sich zusammensinken, weil ihm das Letzte fehlt: das abendländische Fundament!“

Die Lageberichte aus den einzelnen Ländern zeigten, regional gesehen, klar und deutlich die drohende Gefahr. Die improvisierende politische Naivität der “NSDAP war erschreckend. Menschen ohne jede politische Erfahrung setzten schon damals ganze Volksgruppengebiete der Gefahr der Zerstörung aus. Immerhin stand im Frühjahr 1937 noch die demokratische deutsche Front in der Tschechoslowakei, getragen vom Landbund, der Christlichsozialen Partei, der Sozialdemokratischen, der Gewerbe- und Demokratischen Partei; es wirkte noch immer die Deutsche Christliche Volkspartei in Polen; es bestanden noch immer ausschlaggebende demokratische Gruppen in Ungarn, Rumänien und Südslawien und auch das Südtirplet Land war, getragen von den Erfahrungen des Faschismus, keineswegs als „gleichgeschaltet“ anzusehen.

Trotzdem lagen Schatten über dieser letzten Konferenz, sie äußerten sich schon allein darin, daß jede größefe und direkte Berichterstattung inopportun erschien. Außerdem legte die gesamte außenpolitische Lage größte Reserve auf. Eine rühmliche Ausnahme machten gewisse maßgebende französische Stellen und Persönlichkeiten. In den Heimatstaaten selbst waren Administrative und Exekutive mit Angehörigen faschistischer Richtungen durchsetzt. Besonders kraß trat dies beim Prager Innenministerium und bei einzelnen Stellen der tschechoslowakischen Staatspolizei zutage,

Sorgenerfüllt beendete die Wiener Konferenz ihre Beratungen und Dr. Paul Schiemann, dieser sichere und klare Kopf europäischer Politik, gab dem in erschütternden Worten Ausdruck.

Der weitere Ablauf des Jahres 1937 bestätigte alle Befürchtungen. Informationen, die unter Benützung oft seltsamer Wege nach Wien kamen, vor allem von aufrechten Männern des deutschen auswärtigen Dienstes, ließen erkennen, welche wahren Absichten das Dritte Reich hatte. Der Vorstand des Demokratischen Minderheitenverbandes stellte daher mit 31. Dezember 1937 die Herausgabe des „Volksdeutschen Presse-und Informationsdienstes“ ein und ordnete die Ubersiedlung des Sekretariats nach Preßburg beziehungsweise Prag an. Diese wurde am 28. Februar 1938 vorgenommen. Zwölf Tage später wurde die „Ostmark befreit“ und die politische Elite Österreichs, gleich welcher Couleur, wanderte in die Gefängnisse oder Konzentrationslager.

Nachdem Österreich gefallen war, übertrug sich die Schockwirkung vor allem auf die deutsche Volksgruppe in der Tschechoslowakei. Angst und Furcht fanden in einer fragwürdigen „heroischen Gesinnung“ ihren Ausdruck. Die Folge davon war, daß die demokratische Front zusammenbrach, wozu die Prager Innen-und Wirtschaftspolitik weitestgehende Schuldbeiträge lieferte. Ganz anders benahm sieh der oft vielgeschmähte Ministerialrat H a y e k und seine Mitarbeiter vom Prager Außenministerium, ebenso der Prager Erzbischof und Kardinal Doktor Kaspar. Der Kardinal, um nur eines zu sagen, bekannte sich zu den „Kindern der böhmischen Erde deutscher Abstammung“. Er dachte und handelte in Kategorien einer hohen christlichen und menschlichen Gesinnung. Er war es auch, der Pater Reichenberger einen sogenannten großen Geleit- und Empfehlungsbrief für alle katholischen und christlichen Würdenträger aushändigen ließ.

Der Zusammenbruch der demokratischen deutschen Front in der Tschechoslowakei, hauptsächlich durch die außenpolitischen Erfolge des Dritten Reiches hervorgerufen, äußerte sich darin, daß die Deutsche Christlichsoziale Volkspartei, die Deutsche Gewerbepartei and der Deutsche Landbund zur Sudetendeutschen Partei Henleins übergingen. Aufrechte Männer, wie Pfarrer Reichenberger, Minister a. D. Professor Doktor Mayr-Harting, Abgeordneter Köhler vom Landbund usw., vollzogen diesen Beitritt nicht. Nachdem dies alles geschehen war, erklärte Konrad H e n-1 e i n am 24. März 1938, daß die Deutsche Sozialdemokratische Partei und Demokratische Freiheitspartei nicht mehr zur deutschen Volksgruppe gehörten. Im Zuge der späteren Gestapopraxis — nach der Landnahme des Sudetengebietes — bedeutete dies, daß etwa 20.000 Männer in die Konzentrationslager gebracht wurden, allein nach Dachau 8000. Sich für ihre Entlassung einzusetzen, lehnte Konrad Henlein ab. Er wiederholte den bemerkenswerten Ausspruch: „Wer im Konzentrationslager ist, gehört dorthin!“ Er setzte sich nicht einmal für seine engsten Mitarbeiter vom Kameradschaftsbund ein, auch nicht für Dr. Walter Brand, den das Schicksal nach Sachsen-hausen verschlug.

Immerhin war es möglich, daß gewisse Kontingente der deutschen demokratischen Volksgruppen, vor allem aus der Tschechoslowakei und Polen, ins freie Ausland flüchten konnten. Während sidi die baltische und polnisch-deutsche Emigration auf Einzelpersonen beschränkte, dürfte die Sudetenemigration etwa 7000 bis 1 0.000 Menschen betragen haben. Das Gros konnte dank der Initiative des Abgeordneten Wenzel J a k s c h vor allem in Kanada angesiedelt werden.

Schließlich konstituierte sich, allerdings erst 1944, das Democratic Sudeten Committee mit dem Sitz in London. Ihm gehörten elf Sozialdemokraten, ein Christlichsozialer und ein bürgerlicher Demokrat an. Der Christlichsoziale war Reichenberger, der Bürgerliche Dr. M a r t o n aus Karlsbad. An der Spitze stand Wenzel J a k s c h selbst, tatkräftig unterstützt vom heutigen deutschen Bundestagsabgeordneten R e i t z n e r.

In der Emigration befanden sich allerdings noch weitere Personen, darunter Träger klingender Namen, wie der Fabrikant Georg Schicht, ein Bruder des Präsidenten Dr. Heinrich Schicht, Aussig.

Das Ausschlaggebende ist aber, daß die demokratische Volksgruppenemigration, soweit sie über ihren Existenzkampf hinaus im Felde der Politik wirkte, das hohe Verdienst für sich in Anspruch nehmen kann, das Prinzip der Aus- und Umsiedlung als Grundsatz europäischer Nationalitätenpolitik abgelehnt zu haben. Soweit das Demo-cratic Sudeten Comrnittee in Frage kommt, berichtet darüber Ernst Paul, heute Bundestagsabgeordneter in Bonn, in einer Broschüre, die in Schweden zum 50. Geburtstage von Wenzel Jakscb herausgebracht wurde, daß derartige .Lösungen“ eindeutige Ablehnung fanden. Gewaltexperimenten setzte Jaksch die einfache Formel entgegen: .Wir wollen nicht, daß die Nazis vertrieben werden, wir wollen, daß sie dort bestraft werden, wo sie ihre Untaten begangen haben.“ Jaksch lehnte überdies auch die Umsiedlung der sogenannten Subminoritäten ab. Paul schreibt darüber:

.Vor mir liegt ein Brief, den Jaksch im Jahre 1940 nach Stockholm schickte und in dem er uns über die Verhandlungen mit Dr. Benesch berichtete. Diese waren, damals so weit gediehen, daß eine Abgrenzung der Verwaltungsgebiete nach den Sprachgrenzen vorgesehen waren. Von tschechischer Seite war die Umsiedlung der tschechischen und deutschen Subminoritäten in den Enklaven und im gemischten Siedlungsgebiet vorgeschlagen worden. Jaksch schrieb uns, daß er sich nicht entschließen könne, dem zuzustimmen, da man nie wissen könne, wo diese Umsiedlung aufhöre.“

Besonders wichtig ist, daß die demokratische Minderheitenemigration durchr aus Kontakt zu den Kreisen der Alliierten hatte; Paul berichtet:

.Im Bereiche der westlichen Demokratien wäre es auch nicht gelungen, Jaksch und seine Partei auszumanöverieren, wenn die tschechische Politik sich nicht ganz dem Osten verschrieben hätte. Um den Preis der Eingliederung des eigenen Staates in den Maditblock der russischen Außenpolitik und unter Preisgabe Karpathorußlands erkaufte man sich die Zustimmung der Sowjetunion zur Austreibung der Sudetendeutschen, und erst als nicht die Tschechen v allein, sondern der mächtige östliche Verbündete den Bevölkerungstransfer forderte, fügte sich der demokratische Westen.“

Diese Darstellung ist für alle Fälle interessant; sie deckt sich allerdings nicht mit anderen Berichten über die Aussiedlung und über die diesbezüglichen Verhandlungen in Jalta und Potsdam. Selbst dann aber, wenn englische und amerikanische Archive geöffnet und ihre Materialien für die Forschung verwendet werden könnten, dürfte sich wenig an der praktischen Politik ändern, das heißt an der Tatsache der vollzogenen Aussiedlung. Ein neues politisches Element könnte nur die Sowjetunion bringen, wenn sie das Postulat der Aussiedlung negierte und die Aussiedlungsstaaten dazu brächte, die Deutschen zurückzurufen.

Etwas anderes ist es, ob die Deutschen unter den obwaltenden Umständen in ihre einstmalige Heimat zurückgingen. Vorzeitig Prognosen zu stellen, wäre kaum angebracht. Das ungarische Beispiel zeigt jedenfalls, daß eine Rückkehrparole stark verlockend wirkt.

Sieht man aber den Kampf um die Aus- und Umsiedlung in einer großen und verantwortungsvollen Perspektive, so muß — das ist der letzte Schluß — nur mit Bedauern festgestellt werden, daß ein derartig verhängnisvolles Prinzip jemals in der neueren politischen Entwicklung Europas eine Rolle spielen konnte. Es wurde zu einer Frage der Macht — vom Recht ganz zu schweigen — und damit zu einem Prinzip der Wechselhaftigkeit. Es kann bei einer anderen Machtkonstellation genau so gut gegenüber Tschechen, Polen und Südslawen angewendet werden. Die Aussiedlung ist mit dem Fluche der Heimatlosigkeit, Entrechtung und Unsicherheit beladen. Wer sich zu ihr bekennt, scheidet als Ordnungsfaktor aus.

Das Nationalitätenproblem, das es in Europa immer geben wird, muß anders gelöst werden, von einer Ebene aus, die Vernunft, Sicherheit und Freiheit ausstrahlt, ohne Haß, Begehrlichkeit und Verleumdung.

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