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Deutsche Studenten 1958
DER WEG ZUM INTERNATIONALEN STUDENTENHEIM EICHKAMP in West-Berlin führt durch einen kleinen Föhrenwald, der, bereits am Stadtrand, an diesem nebligen Winterabend völlig im Dunkeln liegt. Auch die Straße nebenan ist leer und unbeleuchtet, denn die Sektorengrenze ist nah, und die S-Bahn nimmt die wenigen Fahrgäste, die in die russische Zone wollen, auf. Rechts, hinter der dunklen Masse des Mommsen-Stadions, leuchtet rot der Sendeturm der Engländer: dort unten irgendwo sind die lichtüberfluteten Straßen West-Berlins, der Zweieinhalbmillionenstadt mit den 70.000 Arbeitslosen, der kleinen Insel der Freiheit, deren letzte Verbindungswege mit dem sie umgebenden Land, die Schienen der S-Bahn, gerade in diesen Tagen wieder gefährdet sind, als die Behörden von Pankow die Errichtung von Umkehrstationen an den Sektorengrenzen anordneten. Die tägliche Milch kommt auch heute schon aus Niedersachsen und Schleswig-Holstein nach West-Berlin ...
Im Studentenheim Eichkamp, in modernen einstöckigen Häusern inmitten eines hügeligen Geländes, wohnen 60 Studenten aus allen Teilen Deutschlands, unter ihnen auch Ausländer. Es ist dies keine geschlossene Gemeinschaft und ist so wenig „durchorganisiert“ wie nur möglich. Das Leben in Eichkamp beruhte auf dem Prinzip der freien, freiwilligen Partnerschaft, der gegenseitigen Achtung der privaten Sphäre. Die Leitung des Ganzen obliegt den Studenten selbst. Einer von ihnen ist für die Geldgebarung gegenüber dem Stadtsenat verantwortlich. Ueber die Mitgliedschaft entscheidet die von Zeit zu Zeit tagende Vollversammlung. Niemand bleibt länger als eine gewisse Probezeit Einwohner des Studentenheimes, wenn sich gegen sein Verhalten die Mehrheit der Kollegen ausgesprochen hat. Diese Demokratie in Urform soll sich in Eichkamp erstaunlich gut bewährt haben.
Der Senior des Studentenheimes ist ein Jus-student aus Thüringen. Er — übrigens er allein von : den etwY'zehn Ä#e;s&£rf?WG8il* schaftsraum - nennt sich Sozialist, um sicTfitr? gleichen Atemzug recht kritisch über die Politik der sozialistischen Fraktion des West-Berliner Stadtsenates zu äußern. Er wirft ihr „Mangel an Realismus“ vor, weil angeblich der regierende sozialistische Bürgermeister Brandt eine De-jure-Eingliederung West-Berlins in die Bundesrepublik anstrebe. „Einem solchen Schritt würde die Sowjetunion niemals untätig zusehen. Und das würde das Ende des freien Berlins be-
deuten — oder noch Schlimmeres.“ Niemand von den Anwesenden widerspricht ihm.
DIE ANWESENDEN: Studenten aus Mecklenburg, aus Schlesien, aus dem Rheinland und aus Schwaben. Ein Sudetendeutscher und einer, dessen Eltern 1946 aus der Ostzone nach Brasilien auswanderten und der jetzt zurückkam. Der Student aus Mecklenburg schrieb bereits Hörspiele, die im Westen gesendet wurden — er erhielt deswegen sieben Jahre Gefängnis. Nach seiner Freilassung kam er herüber. Er will Journalist werden, studiert deshalb Volkswirtschaft, „weil das wohl dazugehört“. Sie alle sitzen jetzt da in bequemen Klubsesseln, in ihren Pullover und Lumberjacks, beim Rotwein, sie rauchen ihre Pfeifen oder Zigarren und vertreten gegenüber zwei Gästen aus Oesterreich die Studenten Deutschlands. Das Gespräch kann beginnen.
Nur ihre ausländischen Kollegen fehlen. Es wird erzählt, daß ein Aethiopier und ein Ungar rechte Sonderlinge seien, die mit niemandem sprechen, und daß die ein, zwei Araber ihren „Mein Kampf“ unter die Leute zu bringen versuchten. Sie seien die letzten und einzigen Nationalisten im Studentenheim. (Es wird dabei als Kuriosum erwähnt, daß Auszüge aus Hitlers „Mein Kampf“ mit den Stellen über die Juden in Moskau gedruckt würden und ihren Weg in den Tornister eines jeden ägyptischen Soldaten fänden.) Diese Araber verstehen es nicht, warum die Deutschen noch zögern, Hitlers Erbe unter wohlwollender Unterstützung Moskaus anzutreten: der Weg zur Wiedervereinigung, sei ja offen! „Vielleicht sind diese Araber die einzigen Nichtdeutschen auf der Welt, welche die Wiedervereinigung Deutschlands, freilich aus wenig realistischen Gründen, ernstlich wünschen“, sagt jemand plötzlich. Einige widersprechen. Aber der Eindruck bleibt, daß dieser harte Satz als guter Ausgangspunkt zu einem Gespräch über deutsche, europäische Schicksalsfragen empfunden wird.
WIE SOLL “ES MIT DEUTSCHLAND WEITERGEHEN? Die Gedanken, die manche Publizisten und Politiker in der Bundesrepublik in stillen Stunden beschäftigen und die auf „zwei deutsche Staaten der Zukunft“ und somit auf einen endgültigen Bruch mit der Idee vom deutschen Nationalstaat hinzielen, werden einmütig abgelehnt. Die sogenannte „finnische Lösung“ für Ostdeutschland (hier sagt man stets „Mitteldeutschland“) mit Kommunisten
vom Schlage eines Gomulka an der Spitze? Die Sowjetunion würde den Preis einer solchen Lösung im selben Augenblick in astronomische Höhen hinaufschrauben, als ein solches Angebot sie erreichte. Die Bevölkerung der Zone würde aber rebellieren, und dies mit Recht, .denn sie wolle die ganze Freiheit und nicht (bestenfalls) eine halbe. Und schließlich: wo gibt es in der DDR Gomulkas?
Es wird bestimmt welche geben, werfen die Gäste ein, nur dürfe man im Westen nicht alles in einen Topf werfen. Dem inneren Gärungsprozeß, der im vergangenen Jahr besonders um die Professoren Harich und Kantorowicz offenbar wurde, komme größte Bedeutung zu. Den Handlungen dieser „Revisionisten“ oder „Rechtsabweichler“ unter den Kommunisten dürfe man zumindest den moralischen Wert nicht absprechen, da diese Menschen damit Risiken eingehen, die im Westen zumindest heute unbekannt sind.
Aber warum sollten wir auf diese Weise den Kommunisten helfen, sich zu regenerieren? fragen die Ostflüchtlinge. Die .sRolle diese“? Intellektuellen, welche sie auch spielen mögen, sei am Ende dabei ohnehin nur von geringer Bedeutung. Entscheidend sei allein, ob es der Sowjetunion gelingen wird, mit Hilfe der modernen Wissenschaft und Technik den Lebensstandard der Bevölkerung in den Oststaaten beträchtlich zu erhöhen oder nicht. Die intellektuellen Reformisten werden weder von den fünf Prozent Kommunisten noch von den übrigen Einwohnern der Ostzone ernst-
genommen. Viele von ihnen wurden schon von den West-Berliner Studenten zu Diskussionen eingeladen. Sie machten dabei den kläglichen Eindruck von Idealisten, welche die Wirklichkeit nicht zur Kenntnis nehmen wollen.
Was ist diese Wirklichkeit? Daß etwa allein im vergangenen Sommer 2900 Abiturienten (25 Prozent aller) aus der Ostzone nach dem Westen geflüchtet sind. Daß noch immer täglich mehr als 400 Menschen nach West-Berlin flüchten und davon ein Viertel im Alter zwischen 18 und 24 Jahren sind. Aber auch, daß dieser Flüchtlingsstrom sogleich verebben würde, wenn es den Kommunisten gelänge, bessere Verhältnisse — wirtschaftlich gesehen — in den Landern der „sozialistischen Planwirtschaft“ zu schaffen als die des Westens. „Könnte das ohne Uebergang zur freien Marktwirtschaft möglich sein?“ fragt einer der Gäste. „Durchaus. Warum auch nicht“, lautet die Antwort dieser Studenten, von denen die meisten an der Freien Universität Berlin Volkswirtschaft studieren, und einige Philosophie ... ivlf- -TKfft*!“rmr rri-jjrr mit ah. rbon
UND ÖSTERREICH? Vor sechs Tagen antworteten katholische Studenten in Frankfurt auf diese Frage mit ernsthaften Ueberlegungen über die Möglichkeiten Oesterreichs, mit den anderen Völkern Ostmitteleuropas — ein neuer, liberalerer Kurs in den Volksdemokratien vorausgesetzt — eine gewisse beschränkte regionale Zusammenarbeit anzustreben und dabei auch für die gegenwärtig nach allgemeinem Urteil als festgefahren zu bezeichnende deutsche Ostpolitik ein Mittler zu sein. Die Antworten lauteten in Frankfurt eher „vielleicht“ als „nein“, trotz der energischen Proteste der anwesenden Ungarnflüchtlinge, die vor der Annahme warnten, bei den Kommunisten könne eines Tages so etwas wie eine Sinnesänderung eintreten. In Berlin ging auf diese Problemstellung niemand ein. Wien sei weit und Pankow sei nahe. Man ist von der Nüchternheit, gesunden, erdnahen Skepsis und Zurückhaltung dieser jungen Menschen in Berlin fasziniert und — zugleich beunruhigt.
Nach dem Abschied noch ein Blick auf die Studentenhäuser von Eichkamp, die jetzt in der Nacht wie Kulissen aus der Pionierzeit des deutschen Films, der Zeit der Conrad Veidts und Emil Jannings', aussehen. Aber der Vergleich hinkt. Die „frühreife“, „altkluge“, so ganz und gar rationalistisch eingestellte deutsche Jugend von heute wird sich nicht so leicht von einem Rattenfänger verführen lassen, wie die Jungen von einst. Sie rebelliert nicht — gegen wen sollte sie denn rebellieren? —, sie diskutiert. Und sie weiß anscheinend gar nicht, wie gefährlich sie dabei „hinüber'Virkt und als welch große Gefahr sie „drüben“ erkannt wird. Die Freiheit ist das natürlichste Lebenselement, wenn man sie nur hat. Sie wird zum Sprengstoff erst in der Unterdrückung.
Während der Heimfahrt erzählt der Student aus Mecklenburg, der als Begleiter mitfährt, daß. er nach seiner Freilassung seine Kollegen, die ihn vor sieben Jahren ins Gefängnis brachten, wieder traf, aber nicht, um sich zu rächen, sondern nur, um mit ihnen den Fall durchzudiskutieren. Ein ungewöhnlicher Vorgang, gewiß — aber ist er nicht bezeichnend für unser „Wissenschaftliches Zeitalter“? Und man merkt dabei auch eine gewisse Wirkung der marxistischen Pseudowissenschaft und der durch sie propagierten Denkungsart, die vielleicht doch mehr „Schule macht“, als man es sonst annehmen möchte. Quo vadis, deutsche Jugend?
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