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Deutsche Zwischenbilanz

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Das Maß von Souveränität im Raum der Länder Deutschlands ist noch immer recht bescheiden. Die Gesetzgeberschaft von Länderrat, Wirtschaftsrat, einem runden Dutzend von Landtagen und das Vorhandensein von ebenso vielen Regierungen mit zusammen wohl hundert Ministern und ebenso vielen Staatssekretären, geben ein falsches Bild. Das Ringen um die Schulreform in Bayern, wo die Militärregierung dem Landtag, der Regierung, dem Unterrichtsminister, den Schulexperten und einer sich gerade in diesem Falle- zum ersten Male, wenn auch nicht eben kämpferisch, rührenden öffentlichen Meinung ihren Willen zur „Einheitsschule“ auflegte, die von der übergroßen Mehrheit der deutschen Fachleute als „Demontage“ der deutschen Bildung abgelehnt wurde, zeigt viel besser, wie eng die Grenzen der deutschen Demokratie gegenüber der Besatzungsmacht ab gesteckt sind. Auf der anderen Seite aber sind der Volkssouveränität durch die eigene Bürokratie noch viel engere Grenzen gezogen. Landtage, Minister, öffentliche Meinung und der Willen des Individuums wie der Gemeinschaft stoßefc täglich und stündlich auf den zähen Herrschafts-

willen einer Beamtenschaft, die mächtiger ist, als sie es je zuvor war, und die den Rest von Bewegungsfreiheit und Meinungsfreiheit, die den Deutschen zustehen könnten, radikal abschöpft. r

Man sollte meinen, daß die Parteien, die sich in solcher Lage zur „Cooperation“ entschließen und nicht etwa grundsätzlich die Mitarbeit ablehnen, alles tun, um ein größeres Stück Souveränität zu erringen, um aus dem Mandatsgebiet der vier oder drei oder zwei Zonen so etwas wie einen wenigstens halbsouveränen Staat zu machen, der für Deutschland seine Stimme erheben kann. Wer das meint, kennt aber nicht die Bewegungs- gesetze, von denen gegenwärtig die Parteipolitik geleitet oder getrieben wird.

Die Konferenz von London hat es, trotz offiziösen Optimismus nach Couf-Rezept, jedem Realpolitiker klar gemacht, daß in absehbarer Zeit und ohne eine Generalbereinigung der west-östlichen Weltspannung, mit der Herstellung der Vierzoneneinheit nicht zu rechnen ist. Diese Generalberei-

nigung müßte keineswegs eine kriegerische sein, aber eben eine umfassende Lösung aller Fragen vom Vetorecht bis zum Meerengenprobleim, von der deutschen bis zur chinesischen Frage, von dem Modus convivendi zweier entgegengesetzter Philosophen bis zum Handel zweier verschiedener Wirtschaftssysteme. Aber da man davon weit entfernt ist, bedeutet dies auch keine Aussicht auf eine baldige Revision der Potsdamer Verwaltungsgrenze an Oder und Neiße. Dies macht auch Herrn Schumachers Kampf um die Zulassung der SPD in der Sowjetzone zu einem Kampf gegen Windmühlen. Was hätte ein deutscher Realpolitiker, der noch lange kein Metternich oder Bismarck sein müßte, aber einen Schuß vom politischen Instinkt eines Rathenau, Strese- mann oder Brüning besäße, nach London tun müssen? Wo lag die konkrete, nüchterne, wirklichkeitsnahe Aufgabe?

Ein Obdachloser, dem der Wunsch nach der Vierzimmerwohnung in Schaum zerrinnt, wird sich wohl oder übel mit einer kleineren Behausung, vielleicht mit einer Wohnküche oder einer Kammer begnügen; er wird nicht auf hören, die größere Wohnung für seine zahlreiche Familie zu fordern, aber er wird seine Angehörigen lieber eng zusammengepfercht in ein Notquartier pressen, als sie auf der Straße kampieren lassen. Die deutschen Parteiführer hätten sich sagen müssen, daß der Weststaat oder der Westdeutsche Bund immer noch besser wäre als die Taube auf dem sehr hohen Dach, als welche man die „deutsche Einheit“ derzeit ansprechen muß. Es hat den Anschein, daß die angelsächsischen Mächte nach London einen entschiedenen Schritt zu einem Weststaat begrüßt hätten. Es ist aber nur zu verständlich, daß sie, schon der sehr massiven Propaganda der Sozialistischen Einheitspartei (SED) wegen, diesen Sdiritt nicht von sich aus tun, sondern die Initiative den Deutschen überlassen wollten. Sie spielten den Parteien den Ball zu. Die Parteien haben ihn nicht aufgefangen. Da die SED schon die Bizone für Landes- und Volksverrat und die Frankfurter Räte und Ämter für imperialistische Filialen und separatistische Verbrecherzirkel erklärt, fürchtet sich die Sozialdemokratische Partei Schuhmachers vor dem Vorwurf des Separatismus und des nationalen Verrats und erklärt, nicht im Traume an einen Weststaat denken zu wollen, der — grotesker Trugschluß! — den Verzicht auf die deutsche Einheit bedeuten würde. Da die SPD so nationale Töne anschlägt, wagt auch die Christlichdemokratische und die Christlichsoziale Union mit dem Annex des Zentrums und anderer Gruppen, keine Zustimmung zu einem westdeutschen Länderbund, man könnte ja sonst von der SPD nationaler Schwäche geziehen werden. Die Liberalen lehnen ohnehin jede Teillösung ab. Wer gibt also den Ton än, wer führt tatsächlich n der deutschen Politik? Die östlich gelenkte Sozialistische Einheitspartei (SED). Sie braucht nur eine Parole auszugeben, nur eine bestimmte Interpretation der nationalen Schiboleths von Einheit, Ehre, Freiheit, von Volksverrat und Separatismus zu verkünden und die ganze Front der deutschen Parteien schwenkt von links nach rechts gestaffelt, in diese Generallinie ein. Dr. Schumacher, von dem man rieh eine Hinkehr der Sozialdemokratischen Partei zu einer Realpolitik Lassalleschen Stils versprach, hat sich in die Idee ver bissen, daß die gesamte deutsche Zukunft von der Zulassung seiner Partei in der Sowjetzone abhängt. Er merkte nicht, daß er damit den Sowjets den Hebel gewiesen hat, von dem aus sie die deutsche Parteipolitik nach Belieben schalten können. Große Realpolitiker, die sie sind, werden die Kommunisten diese Möglichkeit bis zum äußersten nützen.

Statt des Westdeutschen Bundes mit Bundestag und Bundesregierung, den man vielleicht haben konnte und der immerhin eine gesammelte Kraft bedeutet hätte, ist eine komplizierte Zentralverwaltung aufgebaut worden, die den Föderalisten zu zentralistisch, den Zentralisten zu föderalistisch, dem Volk überhaupt kein Begriff, für die Weiterentwicklung der deutschen Souveränität und die Rückgewinnung einer mäßigen außenpolitischen Bewegungsfreiheit eher ein Hemmnis, für die inneren Fragen von Wiederaufbau, Ernährung, Reform der Landwirtschaft bestimmt nur ein Hindernis ist. Gegen den Vorwurf des nationalen Verrats schützt diese Halb-und-Halb- Lösung die deutschen Parteien nicht. Die SED spricht von „Verschwörerklubs" und „Frankfurter Doktorenzirkeln"; die „Novemberverbrecher" der kommenden nationalbolschewistischen Revolution werden schon jetzt gekennzeichnet und für kommende Volksgerichte bereitgestellt.

Für Westdeutschlands Einbau in den Marshall-Plan, vielleicht in die Westeuropäische Union, für die Möglichkeit eines Friedens nach einer Seite, die mit den Präsidentenwahlen in USA und der langsamen Umschichtung in der britischen Innenpolitik größer wird, ist nichts gewonnen, eher viel verdorben. Die Bildung der Trizone, und damit die so dringend nötige Entlastung der französischen Zone von den schweren Servituten, die ihr auferlegt sind, wird durch die Haltung der Parteien noch mehr erschwert als bislang schon durch den hartnäckigen Zentralismus von SPD und Liberaler Einheitspartei, der für die Franzosen nun einmal das rote Tuch ist; Realpolitiker müßten daraus folgern, daß die föderalistische Lösung, auch wenn man sie grundsätzlich ablehnen würde, eben eine außenpolitische Notwendigkeit ist. Die Konsequenz jeder anderen Haltung ist das Bekenntnis zur Politik der Seydlitz- und Paulus-Offiziere, die Allianz auf Tod und Leben mit dem Kommunismus um jeden Preis. Übrigens wird der SPD von sehr wohlmeinenden Freunden immer öfter zu bedenken gegeben, daß auch die Verstaat- lichungs- (beziehungsweise Pseudosoziali- sierungs-Forderungen) die Konsequenz des autoritären und totalen Staates in sich tragen, also zur SED führen, gegen die man sich doch scharf abgrenzen möchte. Die französische Zone, die den Westdeutschen eigentlich doch noch etwas näher sein sollte als die ostelbische, wird von den Parteien überhaupt stiefmütterlich behandelt. In dem Eifer, die Ostzone „heim ins Reich" zu holen, Vergißt man in Hannover, Frankfurt und oft selbst in München, daß es nicht minder wichtig und vor allem wesentlich leichter wäre, die sechs Millionen EXeutschen der französischen Zone und mit dem Gebiet ihrer Lander immerhin Siedlungsraum für den gewaltigen Uberschuß an Flüchtlingen in der Bizone zu gewinnen.

Was wird nun geschehen? Es wird ja wohl keiner der deutschen Politiker, die sich dem Bekenntnis zu einem Weststaat entzogen haben, um den Anspruch auf die deutsche Einheit jucht zu verwirken, im Ernst glauben, daß er damit auf die russische Besat- zungsmächt den geringsten Eindruck macht. Im Osten aber wird man nicht untätig sein. Während man dem Westen durch das wohlfeile Mittel der nationalsozialistischen Lizi tation, das die Nazis vor 1933 mit sö großem Erfolg angewendet haben, das Gesetz des Handelns diktiert, kann nun jederzeit der Oststaat mit einem starken Apparat aus ehemaligen Seydlitz-Offizieren aufgezogen werden, beileibe nicht als separatistische deutsche Sowjetrepublik, sondern als d i e deutsche Einheitsrepublik, deren geschichtliches Ziel es sei, den separatistischen, vom „Imperialismus“ der Angelsachsen „unterdrückten“ Westen zu befreien. Zum anderenmal wird nach 1813, 1866, 1933 Brandenburg-Berlin zur Keimzelle der deutschen Einheit. Das natürliche Gefälle der deutschen Politik droht dadurch verändert zu werden. Nicht der Westen, der Osten wird führen. Nicht die 45 Millionen des alten Reiches bauen den Deutschen Bund, dem sich eines Tages die 17 Millionen östlich der Elbe-Saale-Linie angliedern, sondern die 17 Millionen der Ostzone bilden den Einheitsstaat, der eines Tages den Westen auff ressen wird, wie Preußen einst das größere Deutschland verschlungen und borussifiziert hat. Nun beantworte man die Frage, ob dies nationale Politik ist.

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