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Deutsches Eigentum für Rußland — Deutsche Schulden für Österreich?

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Die Klärung der Frage: „Deutsches Eigentum in Österreich“ ist nicht nur für Österreich selbst von lebenswichtiger Bedeutung, sondern sogar eine der ersten Voraussetzungen für die Herstellung normaler Verhältnisse in der ganzen Welt. So ist diese Rechtsfrage zum Prüfstein für den Kultur- und Friedenswillen der Beteiligten geworden.

Allerdings sind manche der Ansicht, eine juristische Behandlung der Frage sei zwecklos, da sich die Weltmächte ausschließlich von ihren wirtschaftlichen Interessen und n'cht von Paragraphen und Reditsvorschriften leiten ließen. Das Gegenteil ist eher richtig: Bisher haben sich die Weltmächte auf allen Konferenzen streng an die juristisdi-diplomatischen Spielregeln sowohl materiell- wie auch formellrechtlicher Art gehalten. Sie haben auch den entschiedenen Willen kündgetan, künftig bei dieser Einstellung zu beharren. Eine juristische Erörterung ist also durchaus zweckmäßig und sogar notwendig.

Die vorliegende Abhandlung betrachtet das Problem nur insoweit, als Rußland das „Deutsche Eigentum“ schuldenfrei übernehmen will, die Gläubiger also nicht befriedigt, sondern an Deutschland verweist.

Man versucht nun, diesen Standpunkt Rußlands unter Berufung auf den Ausspruch UI-pians (Dig. 50, 17, 54): „Niemand kann mehr Recht übertragen, als er selber hat“ — „Nemo plus juris transferre potest quam ipse habet“ — zurückzuweisen und meint, Rußland könne das „Deutsdie Eigentum“ im günstigsten Falle immer nur mitsamt allen Schulden erwerben. Der Einwand ist aber nicht stichhaltig. In der Ulpian-Stelle handelt es sich nämlich nur um die Übertragung von Rechten, also freiwillige, rechtsgeschäftliche Übereignung. Für den Erwerb ohne Mitwirkung des Berechtigten, nämlich bei Zwangsversteigerungen und sonstigen einseitig-behördlichen Verfügungen, kommt dieser Rechtsgrundsatz nicht in Betracht. ,

Die russische Argumentation geht davon aus, daß Rußland durch das Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 die Befugnis zugesprochen ist, das deutsche Eigentum in der von ihnen besetzten Zone Österreichs zu übernehmen. Da unter IV 9 nicht von „assets and clebets“ — Aktiven und Passiven —, sondern nur von „assets“ allein gesprochen sei, so müßten — sagen sie — die Belastungen dieser deutschen Werte außer Betracht bleiben. Rußland habe also mit den Sdvulden Vichts zu schaffen und könne deren Anerkennung ablehnen.

Diese Ansicht ist aber nidit haltbar, weil sie auf der längst überwundenen Buchstabeninterpretation beruht und den Sinn der Erklärung außer acht läßt. Die Absicht der drei Vertragschließenden ging zweifelsfrei dahin, daß Rußland seine Reparationsforde-rungen aus deutschen Werten decken sollte. Durch die jetzige russische Auslegung würden aber auch nicht deutsche Werte herangezogen werden. »Nun bleibt zwar rein formal den Gläubigern ein Anspruch gegen Deutschland. Derartige Ansprüche sind aber offensichtlich kaum realisierbar und stehen lediglich auf dem Papier. Praktisch würden also von nicht deutscher Seite an Rußland Reparationen geleistet. Eine untragbare, widersinnige Unbilligkeit, die nie beabsichtigt gewesen sein kann.

Der juristischen Unhaltbarkeit dieser russischen Wortauslegung werden wir uns erst dann voll bewußt, wenn wir uns die Geschichte der Überwindung des toten Buchstabens zugunsten des lebendigen Sinnes vor Augen halten.

Es ist klar, daß bei der internationalen Bedeutung unserer Frage die Beschränkung der Untersuchung auf einzelstaatliche Rechtsordnungen unzweckmäßig ist, daß vielmehr allgemein überzeugende Ergebnisse nur aus einem von allen anerkannten Rechtssystem gewonnen werden können. Wir werden daher zwangsläufig auf das römische Recht verwiesen, auf dem die meisten einzelseaatlichen Rechte, auch die sowjetischen, beruhen und das neuerdings englische und amerikanische Juristen wiederholt als die „Verständigungssprache mit dem Kontinent“ gepriesen haben *.

Das römische Recht hat auch noch den sachlichen Vorzug, uns zu zeigen, wie der Menschen-geist überhaupt dazugekommen ist, dem toten Buchstaben seiner Worte, diesem bloß äußerlichen Ausdrucksmittel, das Übergewicht über seine lebendigen Absichten und Zwecke einzuräumen. Das ist um so auffälliger, als darin geradezu eine Geringschätzung der Wesenheit des Menschen, der sich doch durch seinen Geist aus der Natur herausgehoben sieht, zutage tritt. Das römische Recht zeigt uns ferner, wie schwierig es war, das „Anstößige eines Zustandes, der sich nur an den Buchstaben ... hielt“, zu beseitigen **.

Wir sehen da zunächst, daß die ersten Gesetze nur die schriftliche Festlegung von bereits geübten Rechtsgewohnheiten sind. Die wirtschaftlich Schwachen, die Plebejer, streben nach Sicherheit und Festigung ihrer an sich schon kümmerlichen Rechtsstellung durch das geschriebene Gesetz. So betrachten sie denn auch die berühmten XII-Tafel-Gesetze als ihre „große Errungenschaft und ein Palladium ihres Rechts“ ***. Dementsprechend ist “die Neigung und der Hang, sich streng und mit eiserner Zähigkeit an das geschriebene Wort zu halten und nichts gelten zu lassen, was daraus nicht abgeleitet werden kann, ganz natürlich. So erklärt sich ohne Schwierigkeit die strenge Wort- und Buchstabeninterpretation der XII Tafeln.

Zur Übertreibung führte aber der Satz VI, 1: „Uti lingua nuneupassit, ita jus esto“ — „Wie die Zunge es ausspricht“ (wörtlich: die Namen, die Bezeichnung der Dinge erfaßt — nuneupare = nomen capessere), „so soll es Recht sein“. Diesem Satz wurde und wird noch heute die Aufstellung des Prinzips der Wortinterpretation zugeschrieben. Diese Meinung hat zwar den Anschein einer gewissen Berechtigung, wenn man den Satz für sich allein, herausgerissen aus dem Zusammenhang, betrachtet; sie erweist sich aber als offenbar unrichtig, wenn man die Entstehung der vollständigen Vorschrift betrachtet. Biese Vorschrift lautet: „Wenn jemand ein Verpflichtungsgeschäft vornimmt oder eine Veräußerung, so soll Recht sein, was die Zunge ausspricht“ — „Cum nexum faciet maneipiumve, uti linguia nuneupassit, ita jus esto.“

Wir müssen uns jetzt in eine Zeit zurückversetzen, wo es einerseits noch kein gemünztes Geld gab, andererseits aber der Zustand des reinen Tausches eines Gebrauchsgegenstandes gegen den anderen schon überwunden war, wo also ein allgemein anerkannter Wertmesser Verwendung fand. Als solchen gab es in Rom Kupfer und Bronze, aes genannt. Dieses Metall mußte bei jedem Kaufgeschäft besonders zugewogen werden, da es Münzgeld noch nicht gab. Im Interesse der reibungslosen Geschäftsabwicklung wurde die Zuwägung durch einen besonderen Wiegemeister in Gegenwart von mindestens fünf Zeugen vorgenommen, also wohl in voller Marktöffentlichkeit. Auch die Darlehenshingabe erfolgte auf diese Weise. Es handelte sich also bei diesen mancipatio und nexum benannten Geschäften „per aes et libram“ — mittels Kupfer und Waage — um ganz konkrete Rechtsvorgänge ohne leere Formalitäten, bei denen lediglich die .wirklidien Handlungen bedeutsam waren, die gesprochenen Worte dagegen nur vorbereitenden Charakter hatten. Das wurde aber anders, als sich der Kreditkauf durchsetzte und dann das gemünzte Geld aufkam. Jetzt wurde das Abwiegen nicht nur eine Scheinhandlung, sondern sogar eine überflüssige Last. Trotzdem behielt man diese Form bei, da sie vollgültiges Eigentum übertrug und dem Gläubiger die rechtliche Möglichkeit gab, gegen den säumigen Schuldner direkt, ohne die Unbequemlichkeiten eines Gerichtsverfahrens, vorzugehen. Maßgebend für den Inhalt des Rechtsgeschäftes konnten jetzt natürlich nur die gesprochenen Worte sein. Diese Tatsache ausdrücklich und gesetzlich festzulegen, ist die wahre Bedeutung des XII-Tafel-Satzes. Es sollte feierlich bekräftigt werden, daß in dem Augenblick, wo die Worte, gesprochen waren, das Geschäft auch ohne die effektive Zuwägung wirksam wurde *. Da unser Satz ganz offensichtlich die Worte in Gegensatz zu der Scheinform des Wiegens und nicht zu der Parteiabsicht stellt, so berührt er unser Auslegungsproblem, das ja gerade die Beziehung von Wort und Absicht betrachtet, überhaupt nicht. Aus dem Satz das Prinzip der Wortinterpretation abzuleiten, ist also unmöglich, ja, man kann im Gegenteil sogar sagen, daß grundsätzlich die Absicht der Partei über die äußere Form gestellt ist.

Zur Beleuchtung des langen und schweren Kampfes zwischen toten Buchstaben und lebendigem Leben sei auf den berühmten Corpus juris = Fall aus dem Gesellschaftsrecht (Inst., III, 25, 2) hingewiesen, der zum erstenmal Kapital und geistige Arbeit gleichstellt und den Kohler die größte Errungenschaft aller Zeiten nennt. Während fiämlich nach den Worten des Gesetzes nur der Inhaber von Sacheinlagen am Gesellschaftsgewinn teilhaben konnte, wurde schließlich auch demjenigen ein Anteil am Gewinn zugesprochen, der lediglich seine geistigen Kräfte zur Verfügung gestellt hatte. Bezeichnend ist auch die Stelle (Dig. 35, 1, 24) aus dem Bedingungsrecht, wo die Bedingung als eingetreten gilt, wann der Interessierte den Eintritt der Bedingung verhindert hatte. Auch hier ist der Wortlaut, der die Rechtswirkung von dem Eintritt der Bedingung abhängig machte, zugunsten von Gerechtigkeit und Billigkeit überwunden.

Wie bei der Weiterentwicklung des Rechts entsprechend dem Kulturfortschritt, hat sich auch bei der Auslegung der Rechtssätze das Prinzip von Treu und Glauben und Billigkeit gegenüber

* Girard, a.a.O., Seite 314, 521, Anm. 1, 540. Anm. 3.

dem Kleben am Buchstaben durchgesetzt. Ulpian sagt (Dig. 50, 16, 6, 1): „Das Wort ,aus dem Gesetz' ist so zu deuten: Die Auslegung erfolgt ebenso aus dem Geist der Gesetze wie aus den Worten — Verbum ,ex legibus' sie aeeipiendum est: tarn ex legum sententia quam ex verbis.“ Drastisch drückt sich Paulus aus (Dig. 1, 3, 29): „Betrügerischerweise umgeht das Gesetz, wer durch Anklammerung an den unangestasteten Buchstaben des Gesetzes dessen Sinn verfälscht — fecit ... in fraudem, qui salvis verbis legis sen-tentiam eius circumvenit.“

Selbstversändlich hat sich dieselbe Tendenz auch bei der Auslegung von Rechtsgesdiäften durchgesetzt. Wir lesen bei Papian (Dig. 50, 16, 219): „Bei Vereinbarungen ist die Absicht der Vertragschließenden mehr zu berücksichtigen als die Worte“ — „In conventionibus contrahentium . voluntatem potius quam verba spectari“.

So können wir also feststellen, daß der praktische Sinn der römischen Juristen durchaus das Richtige getroffen hat. Man braucht ja nur zu bedenken, daß ein Wort lediglich als Ausdrucksmittel eines Gedankens Wert hat und die Bevorzugung des Wortes darauf hinauslaufen würde, das Mittel über den Zweck zu stellen. Eine handgreifliche Vernunft- und Sinnwidrigkeit! Dementsprediend verpönen auch die meisten modernen Gesetzbücher ausdrücklich jede Wortinterpretation. Das sowjetische Zivilgesetzbuch hat zwar keine diesbezügliche Vorschrift. Da aber nach den Ausführungen des Dozenten Dr. V a 11 e r s als Vortragender im Wiener Institut für Wissensdiaft und Kunst das Sowjetrecht kein abstraktes, sondern ein zweckbestimmtes und zweckbewußtes Recht ist, so muß es grundsätzlich ebenfalls gegen die Buchstabenjurisprudenz sein.

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