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Deutschland in Bewährung

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Er habe Deutschland in den Sattel gesetzt, reiten müsse es selber, sagte Bismarck nach der Reichsgründung. Vorsichtiger hielt er es doch so lange an der Longe, bis es das Reiten konnte, freilich kam dann ein waghalsiger Kunstreiter, der munter dem Abgrund . zutrabte. Die Sieger des zweiten Weltkriegs gingen noch vorsichtiger vor als Bismarck. Sie hielten das Roß dicht am Zaum und den Reiter obendrein an beiden Beinen. Man mußte sich lange Zeit fragen, ob Roß und Reiter den Tag überhaupt erleben würden, an dem man sie einmal im Schritt würde reiten lassen.

Seit der Gründung der Bundesrepublik und der Verhängung des Besatzungsstatuts hat sich aber vieles geändert. Man kann die Erfolge des deutschen Wiederaufbaues und das Maß des deutschen Wiederaufstieges nur dann richtig beurteilen, wenn man sich die Lage von 1948 wieder vergegenwärtigt. Leider tun das viele Deutsche nicht. Sie messen das Erreichte nicht an der Entfernung vom Nullpunkt, die schon überwunden, sondern an der Strecke zum Ziel, die noch zurückzulegen ist. Auch das wäre nicht so schlimm, wenn sie sich über das Ziel einig wären und es nicht mit jedem zurückgelegten Abschnitt des Weges weiter stecken würden. Souveränität, wirtschaftliche Bewegungsfreiheit, Sicherheit, Eingliederung in eine europäische Föderation, Teilnahme am Atlantikblock, Wiedervereinigung mit der Ostzone, Rückgewinnung der 1945 an Polen überlassenen und an Rußland abgetretenen Gebiete, Heimkehr der Vertriebenen? In Versammlungen der Flüchtlinge und von fragwürdigen Politikern, die um die Stimmen der Vertriebenen buhlen, hört man immer öfter und ganz offen auch schon die Forderung nach Rückgliederung des Sudetengaues. Die ehemaligen Berufssoldaten fordern als „Bedingung“ für den deutschen Beitrag zum Schutze Europas (der doch auch ein Schutz für Deutschland sein soll) die unbeschränkte Befehlsgewalt deutscher Offiziere bis zum Armeekorps, deutsche Luftwaffenverbände, Annullierung der Urteile gegen Kriegsverbrecher, kurzum alles, was sich in den sehr dehnbaren Begriff „Wiederherstellung der deutschen Ehre“ einordnen läßt.

Als die Alliierten 1949 eine Revision des Besatzungsstatuts nach 18 Monaten in Aussicht stellten, machten sie Tempo und Ausmaß der Revision von dem Verhalten der Bevölkerung abhängig. Es war eine Bewährungsprobe. Seit der New-Yorker Konferenz darf man hoffen, daß diese Probe als weitgehend bestanden angesehen wird, und die Revision mit der Beendigung des Kriegszustandes, der Schaffung eines deutschen Außenministeriums, einer motorisierten Polizeitruppe, der Ankündigung in Bälde zu schaffender deutscher Verbände im Rahmen einer europäischen oder atlanteuropäischen Armee, der Aufhebung zahlreicher wirtschaftlicher Beschränkungen über das noch vor einem Vierteljahr Erhoffte weit hinausgehen wird.

Leider verwischt die deutsche öffentliche Meinung, weniger geführt als interpretiert durch Politiker und Presse, in der Diskussion der jüngsten Erfolge die Zusammenhänge von Ursache und Wirkung. Haben sich alle wirklich bewährt? Einer selbstkritischen Betrachtung will es scheinen, daß sich zunächst einmal nur der Kanzler der Bundesrepublik bewährt hat. Aus dem Parteiführer und Kommunalpolitiker Konrad Adenauer ist zur Überraschung vieler, zum Mißvergnügen einer noch größeren Zahl und ganz gewiß zum Heile Deutschlands ein Staatsmann von Rang geworden. Aber ebenso wie sich nach 1871 sehr viele darüber täuschten, daß nicht sie, sondern das Genie Bismarcks und Moltkes die erstaunlichen Leistungen des Jahrzehnts zwischen der preußischen Staatskrise von 1862 und dem Frankfurter Frieden von 1871 vollbracht hatte, .so übersehen andere heute allzugern, daß Parteien, Presse, Gewerkschaften, bürgerliche Intelligenz und die Masse der Kannegießer dem Kanzler nur zögernd, oft widerwillig, mehr gezogen als aus Überzeugung, gefolgt sind und daß er in den kritischesten Stunden seiner Regierung meist nicht viel mehr als ein Bäckerdutzend Volksvertreter und eine Handvoll Publizisten als wirklich überzeugte Gefolgschaft mustern konnte. Gerade in den letzten Wochen zeigte sich das mit besorgniserregender Deutlichkeit. Ist jetzt Zeit zu Palastrevolutionen? Viele übersehen heute gerne, daß die großen Zugeständnisse des Westens in erster Linie eine Konsequenz weltpolitischer Entwicklungen und der Erkenntnis sind, daß die Sieger 1945 bis 1948 vieles falsch gesehen, vieles falsch angefaßt und yieles versäumt haben.

Deutschland darf nun wohl erwarten, daß es durch eine kluge, zuverlässige Haltung in den weltpolitischen Spannungen seine Bedeutung als europäische Macht zurückgewinnen kann, aber gleichzeitig erscheint es ungewiß, so sehr man dies beklagen muß, wann es seine nationale Einheit wiedererreichen wird. Nur sehr nüchterne Realpolitiker, die in großen Zusammenhängen, in Abwägung aller dialektischen Wechselwirkungen zu denken und trotzdem die Imponderabilien in der Staatskunst richtig einzuschätzen wissen, sind dieser Lage gewachsen. Es wird für Deutschland ungeheuer viel davon abhängen, ob sich seine Politiker in diesem Sinne bewähren, ob sie dem Kanzler Stütze oder Hemmschuh sein und ob die Nation in ihrem aktiven Teil selbst Einsicht, Ruhe und Entschlossenheit zeigen wird. Dies wird die wahre Bewährungsprobe Deutschlands sein. Eine Gefahr ist heute dadurch gegeben, daß allzu viele Faktoren heute schon wieder wie einst vor 1933 aus Rücksicht auf die Massen, auf ein falsch dirigiertes nationales Gefühl und die Diktatur der Phrase einer Politik der Abenteuer ihre Zugeständnisse machen, vor dem Terror unvernünftiger Schreier zurückweichen, und daß es — dies ist allerdings eine verhängnisvolle Schuld der Besatzungsbehörden und ihrer verfehlten Um-erziehungs-, Presse- und Entnazifizierungspolitik — in Deutschland nur eine fast einflußlose, sehr schwache, finanziell von einer Krise in die andere stürzende christlich-konservative Presse und Publizistik gibt, die den Kanzler unterstützt.

Dr. Adenauer ist 74 Jahre alt. Er ist rüstig, und man darf hoffen, daß Gott ihm ein hohes Alter schenkt. Aber sollte er eines Tages wie Bismarck sagen: „Zwanzig Jahre nach meinem Tode will ich aufstehen und sehen, ob. Deutschland in Ehren vor der Welt bestanden hat“, dann müßten die besten Deutschen heute und morgen und übermorgen mit den gleichen Sorgen dieser Bewährungsprobe entgegensehen wie 1898 bei Bismarcks Tod.

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