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Deutschland und das Abendland

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Zwei große Bewegungen, in ihren Mitteln noch tastend, in ihren Zielen von Tag zu Tag erkennbarer, beherrschen heute die innereuropäische Politik: das Ringen nach Konstituierung eines überstaatlichen christlichen Abendlandes und der deutsche Kampf um Selbständigkeit und Einheit. Auf den ersten Blick scheinen diese beiden Bewegungen einander entgegenzulaufen. Aber dieser Gegensatz ist doch nur scheinbarer Natur. Er löst sich in einem anderen Prozeß von geschichtlicher Bedeutung auf. Die seit dem 16. Jahrhundert bestehende Dreiteilung Europas: ein ozeanisch orientiertes Westeuropa, ein aus den Ideen des universalen Kaisertums hervorgegangenes Mitteleuropa und ein von tatarischen Traditionen beeinflußtes Osteuropa ist im Begriff, einer Zweiteilung Platz zu machen. Dieser Umwandlung 6tehen jedoch noch große Schwierigkeiten im Wege, und zwar auf der einen Seite die alte deutsch-französische Rivalität, die sich ebenso in einem französischen Füh- rungsansprudi wie in der Angst vor einer deutschen Wiedererstarkung äußert, auf der ändern Seite der dem Geiste des deutschen Volkes tiefeingewurzelte Begriff seiner historischen Mittelstellung zwischen West und Ost und, unabhängig davon, die berechtigte allgemeine Scheu, die durch die Besatzungspolitik und den amerikanischrussischen Gegensatz entstandene Spaltung Europas, die man ja noch als inen vorübergehenden Zustand ansehen möchte, als unabwendbar hinzunehmen und durch Einrichtungen festzulegen.

Die ganze Schwere dieses Konflikts zwischen einer Entscheidung für den Westen oder Osten und dem Beharrungsvermögen einer Politik der Mitte, das durch die Anziehung des Neutralitätsgedankens unterstützt wird, zeigte sich jetzt auf der skandinavischen Verteidigungskonferenz und in dem dort zutage getretenen Gegensatz zwiSehen Norwegen und Schweden. Vor eine ungleich größere Verantwortung sehen sich der parlamentarische Rat und die Ver- fassungskommission in Bonn gestellt. Hier steht die deutsche Forderung nach Verfassungsautonomie einem Von den Besatzungmächten au9gearbeiteten „Besetzungsstatut“ entgegen, dessen Bestimmungen vorläufig noch geheimgehalten werden. In politischen Kreisen der Bizone fürchtet man, daß dieses Besetzungsstatut aus dem gleichen Geiste geboren sėin könnte, wie das Ruhrstatut, das bekanntlich die einmütige Ablehnung der deutschen Parteien gefunden hat, vor allem auch der Sozialdemokraten, die deshalb von der englischen und französischen Presse und sogar von einem unabhängigen Schweizer Blatt nationalistischer Anwandlungen geziehen werden.

in den Vereinigten Staaten und in England erregte es eine gewisse Verstimmung, daß die Einbeziehung Westdeutschlands in den Marshall-Pian in Verbindung mit der Zusage militärischer Hilfeleistung für den Kriegsfall bei den führenden Männern in Bonn liieht sofort eine begeisterte Bereitschaft zum vorbehaltlosen Anschluß an die WestUrtiört Und den Atläntikpikt ausgelÖst hat. Märt muß in dieser Zurückhaltung weit mehr dis die Wirkung jener Politik der Westmächte erblicken, die in dem Ruhrstatut gipfelte. Schon vor dem Ruhr- statüt stieß das Drängen der Vereinigten Staaten und Großbritanniens nach Konstituierung eines westdeutschen Staates bei den deutscheh Parteien auf begreifliche grundsätzliche Bedenken. Welcher verant wortungsbewußte deutsche Politiker könnte es auf sich nehmen, den ersten Schritt zur Zerreißung Deutschlands zu tun. Ob ein einheitliches Deutschland heute noch be steht, ist dne völkerrechtliche Streitfrage, zu deren Bejahung sich manches anführen läßt. Jedenfalls ist das alle Besatzungszonen umschließende Deutschland im Bewußtsein des deutschen Volkes noch nicht zur Fiktion herabgesunken, Das beweist unter anderem die jüngst erfolgte Gründung der „Deutschen Union“, deren Tätigkeitsbereich sich zunächst wohl nicht über Westdeutschland hinaus erstreckt, die aber deutlich die Tendenz erkennen läßt, auch auf Ostdeutsch“ land zu wirken.

Sie steht unter Führung eines Bruders jenes Grafen von Stauffenburg, der seinen Versuch, Deutschland von Hitler tu befreien mit dem Tode büßte. Die sozial politischen Ideen dieses heroischen jungen Offiziers sollen in der „Deutschen Union“ wieder aufleben, die keine Partei sein will, sondern eine überparteiliche Bewegung. Sie stellt daher auch kein doktrinäres Programm auf, will vielmehr das deutsche Volk vor allem zu politischem Ethos erziehen. Bezeichnend sind im übrigen ihre Förderungen nach Vergemeinschaftung ungerechtfertigter Großunternehmen“ und nach einem staatlich garantierten Recht auf Arbeit. Diese ahtikapitälistische Ausfich1 tung hindert nicht, daß der Bewegung der eine oder andere bekannte General des Dritten Reiches nahestehen soll, was nicht überraschen kann, wenn matt sich Schleichers oder des Hingerichteten Stauffenbergs erinnert. Die neue Gründung ist ein beachtenswerter Versuch, die parteipolitische Erstarrung zu überwinden und die aller Parteipolitik müde deutsche Jugend heran zuziehen. Mit ihren antikapiHlistischen Ideen will sie zugleich dem deutschen Volke offenbar als Schutzwand gegen eine überstürzte Infiltration durch einen westlichen WirtschaftsimperiälismüS dienen. Vielleicht gelingt es dieser Bewegung, eine gemeinsame weit1 und gesellschaftsanscbauliche Plattform für ganz Deutschland zu schaffen.

Was in diesem Augenblick vom europäischen Standpunkt am bedeutendsten unter den Grundsätzen der „Deutschen Union“ erscheint, ist die Forderuhg einer europäischen Zoll- und Wirtschaftseinheit und einer europäischen Föderation, von der der „gesamtdeutsche Bundesstaat“ nur ein Glied sein soll Damit haben die Gründer dieser Bewegung mehr Weitblick bewiesen als die Westmächte, die Deutschland für die westliche Demokratie gewinnen wollen, indem sie es mit dem Ruhrstatut zu kolonisieren versuchen und ihm auf allen Gebieten, sogar auf dem der wissenschaftlichen Forschung, Kontrollen auferlegen. Sollte die „Deutsche Union“ durchgreifen, so würde damit ein entscheidender Schritt zur Verwirklichung einer europäischen Föderation geschehen sein. Die Befürworter einer solchen Föderation, die heute noch die Befürchtung hegen müssen, ihre große Idee könnte an dem deutschen Problem zerbrechen, würden sich dann, nach dem bekannten Worte Goethes, in der Lage des Schiffers finden, der sich an dem Felsen festklammert, an dem er scheitern sollte. Übrigens liegt es in der Natur der Dinge, daß die Überwindung der historischen Drei teilung Europas nur von der Mitte aus- gehen kann. Das Bisrnarcksche Deutschland preußischer Hegemonie war’ vorwiegend östlich orientiert. Die Weimarer Republik schwankte zwischen westlicher und östlicher Orientierung. Das nationalsozialistische Reich Wollte die Entscheidung in dem Versuchę, sich den Osten zu unterwerfen, erzwingen. Das nun zerrissene, und gedemütigte Deutschland von heute ringt um die Zugehörigkeit zum Abendland. Die Etappen dieses Kampfes heißen- Berlin, die Politik Von Bonn, die Gründung der „Deutschen Union“.

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