7121602-1996_39_06.jpg
Digital In Arbeit

Diakonie der Versöhnung

Werbung
Werbung
Werbung

Im Stundentakt speien die Chartermaschinen aus Wien bleiche Leiber aus ihren Bäuchen auf die von kahlen, verbrannten Bergen umgebenen Flugfelder von Chania, der Hauptstadt Westkretas. Zwei Wochen später sammeln sich braungebrannte Körper zum Rückflug. Sie alle haben Bischof Irenaus besucht, die meisten, ohne es zu wissen - Pilgerreisende! Denn Bischof Irenaus, Metropolit von Kissamos und Selinon, der westlichsten Provinz von Kreta, ist überall.

Fährt der Tourist mit dem Schiff zum quarzroten Strand von Elafonisi, Bischof Irenaus fährt mit. Sitzt er am Abend beim Raki vor dem Kafenion einer kleinen Stadt in den Bergen und beobachtet die Bunde der angeregt plaudernden Frauen gegenüber, so trifft ihn, den Bischof, die Schuld, daß Frauen des Abends so ungeniert ausgehen. Fährt man mit dem luftigen Mietauto über Land, zeugen die endlosen Reihen kleiner, nur mannshoher Olivenbäume vom Wirken des Bischofs.

Die Olivenernte war einst ein müh -sames Geschäft und natürlich Frauenarbeit. Täglich auf Knien sammelten die Frauen während des Winters die von den mächtigen Ölbäumen fallenden Früchte. Die Frauen sollen aufrecht gehen, wie die kretischen Helden, wünschte sich Irenaus. Die landwirtschaftlichen Institute mögen sich etwas einfallen lassen. Aus Setzlingen wurde jene Form des Olivenbaums entwickelt, die heute die Insel dominiert, leicht zu ernten, trägt sie außerdem früher Frucht.

Metropolit Irenaus gründete Schulen für Mädchen, initiierte Frauenvereine und Kooperativen, um den Frauen zu eigenem Geld zu verhelfen, ermöglichte ihnen, ihre Produkte bis nach Nordeuropa zu exportieren. Deshalb sitzen sie stolz des Abends vor ihren Vereinslokalen, wie nirgends sonst im patriarchal geprägten Griechenland.

Die Menschen lieben Rischof Irenaus, verehren ihn schon zu Lebzeiten fast wie einen Heiligen. Doch sein Bild, das in jedem Fährschiff hängt, hat mit Heiligenverehrung nichts zu tun. Er ist schlicht und einfach der Aufsichtsratsvorsitzende der Volksaktiengesellschaft, der die Schiffe gehören. Nach dem großen Fährunglück 1966, bei dem mehr als 200 Menschen starben, als die völlig .verrostete und überalterte Fähre zwischen Chania und Piräus sank, war für Irenaus klar, daß die für Kreta lebensnotwendige Schiffahrt nicht länger in den Händen einiger weniger korrupter Reeder bleiben durfte, und er rief die Kreter dazu auf, sich an einer eigenen Reederei zu beteiligen. Diese Reederei kontrolliert heute beinahe den gesamten Schiffsverkehr.

Die Menschen lieben Rischof Irenaus. Sie haben um ihn gekämpft. Anfang der siebziger Jahre wurde er vom Patriarchen von Konstantinopel, dem die griechisch-orthodoxe Kirche Kretas interessanterweise untersteht, zum .Rischof von Deutschland ernannt. Nach Jahren der Geduld forderten die Kreter seine Wiedereinsetzung zum Metropoliten von Kis-samos und Selinon. Die Türen von Klöstern und Kirchen wurden vernagelt und verbarrikadiert.

Transparente über den Portalen, Slogans, gemalt auf weißgekalkte Wände, forderten nur das eine: „Irenaus soll wieder Rischof werden!" Ein Kirchenvolksbegehren auf kretisch. Es hatte Erfolg.

Ende August entstiegen den Chartermaschinen - bleich unter bleichen Touristen - auch Pilger besonderer Art. Frauen und Männer aus 18 verschiedenen Ländern Europas und den unterschiedlichsten kirchlichen Traditionen, versammelten sich in der Orthodoxen Akademie Kretas, auch einer Gründung von Bischof Irenaus, um über die „Diakonie der Versöhnung" nachzudenken. Eingeladen hatte das Diakoniewissenschaftliche Institut Heidelberg. Was gedacht war als Station auf dem Weg zur Europäischen Ökumenischen Versammlung von Graz 1997, wurde auch für uns unverhofft zum Besuch bei Bischof Irenaus. An seinem Beispiel wurde deutlich, daß über Versöhnung heute nur mehr konkret geredet werden kann, daß Versöhnung etwas Praktisches ist oder nichts.

Eine solche Begegnung bleibt nicht ohne Folgen. In einem offenen Brief an die Konferenz Europäischer Kirchen und an den Rat der Europäischen Bischofskonferenzen, die Organisatoren von Graz '97, forderten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine verstärkte Berücksichtigung von Diakonie und Caritas bei der Versammlung in Graz. Es sollen keine Reden gehalten werden, die nicht mit praktisch-diakonischen Beispielen untermauert werden können. Gelebten Versöhnungsinitiativen soll breiter Raum gewidmet werden.

Wir, die Teilnehmer, haben von Irenaus gelernt. Doch er selbst stand nie im Mittelpunkt. Wir haben oft gefeiert, an Vespern und Gottesdiensten teilgenommen und auch eine Wallfahrt zur Kapelle des heiligen Johannes in den Bergen gemacht. Wir haben von Irenaus gelernt, was es heißt, wenn die Orthodoxie sagt: „Diakonie ist die Liturgie nach der Liturgie."

Der Autor ist evangelischer Pfarrer und Direktor der DU KON IE- Österreich.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung