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Dialog — aber wie?

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Gemessen an den Diskussionen, die gegenwärtig in der römischkatholischen Kirche mit dem Ziel einer Anpassung an die heutige Gesellschaft stattfinden, befindet sich die lutheranische schwedische Staatskirche bereits seit langem im „Raketenzeitalter“. Daß sie aber nach Ansicht einiger führender Theologen in diesem Lande noch immer hinterherhinkt und nicht wahrhaben will, was die schwedische Gesellschaft bereits seit langem akzeptiert hat, wie etwa die Schwangerschaftsunterbrechung, den vorehelichen Geschlechtsverkehr, die Familienplanung durch Verhütungsmittel oder etwa die Homosexualität, ist in einer Denkschrift deutlich geworden, die vom sozialen Ausschuß des Zentralrates der schwedischen Kirche angeregt und zusammengestellt worden ist. „In einer Zeit“, so sagte ein Befürworter jener Denkschrift, „in der Menschen auf anderen Weltgestirnen landen, müssen auf der Erde zwangsläufig alle Tabus fallen, vor allem in unserer menschlichen Gesellschaft.“ —-—-

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Gemessen an den Diskussionen, die gegenwärtig in der römischkatholischen Kirche mit dem Ziel einer Anpassung an die heutige Gesellschaft stattfinden, befindet sich die lutheranische schwedische Staatskirche bereits seit langem im „Raketenzeitalter“. Daß sie aber nach Ansicht einiger führender Theologen in diesem Lande noch immer hinterherhinkt und nicht wahrhaben will, was die schwedische Gesellschaft bereits seit langem akzeptiert hat, wie etwa die Schwangerschaftsunterbrechung, den vorehelichen Geschlechtsverkehr, die Familienplanung durch Verhütungsmittel oder etwa die Homosexualität, ist in einer Denkschrift deutlich geworden, die vom sozialen Ausschuß des Zentralrates der schwedischen Kirche angeregt und zusammengestellt worden ist. „In einer Zeit“, so sagte ein Befürworter jener Denkschrift, „in der Menschen auf anderen Weltgestirnen landen, müssen auf der Erde zwangsläufig alle Tabus fallen, vor allem in unserer menschlichen Gesellschaft.“ —-—-

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So heißt es in dem Bericht, den eine geachtete, bürgerliche Wiener Zeitung über die skandinavischen Reiche gebracht hat. Wir nennen den Autor absichtlich nicht, um den Schein zu vermeiden, als wollten wir uns zu Ketzerrichtern machen über einen Text, der als Fremdenverkehrsinformation, und wahrlich nicht als moraltheologische Untersuchung gemeint ist. Doch anderseits ist es unendlich bedeutsam, unendlich bezeichnend, was da alles unbewußt, ganz selbstverständlich angenommen wird. Insofern ist das Berichtete ebenso wichtig als die Worte des Berichtes.

Schaudernd blicken wir auf eine Entwicklung des menschlichen Denkvermögens, welche es einem anscheinend nicht belanglosen, nicht analphabetischen Zeitgenossen erlaubt, solcherart zu urteilen, zu schließen: Man kann einen Menschen auf den Mond schießen, folglich müssen auf der Erde alle Tabus fallen — „vor allem in unserer menschlichen Gesellschaft“. Zumal vor dem Sinn letzterer Worte steht man ratlos. Müssen die Tabus vor allem in der menschlichen Gesellschaft fallen, aber immerhin auch in der Gesellschaft der Hühner (die also jetzt nicht mehr das Schwimmen vermeiden sollen)? Oder heißt es, die Tabus müssen vor allem in der Gesellschaft fallen, aber immerhin auch im privatesten Leben — in der berühmten Intimsphäre? Wahrscheinlich ist letzteres gemeint; auch dann ist der Gedanke von atemberaubender Unsinnigkeit. Weil die Menschen Weltraumflugzeuge bauen können (für so viel Geld, daß dafür jeder Biafraner einen Gugelhupf bekommen könnte), müssen zwar alle Tabus im persönlichen Verhalten fallen, vor allem aber alle bisherigen Sitten in der Gesellschaft. Herr Lehrer, wie kommt das zu dem?

Zugelassen?

Ernsthafter ist die Vorstellung, daß Kindesmord und Knabenschändung zugelassen sind „nach Ansicht einiger führender Theologen“ einer Landeskirche, welche der ökumenischen Bewegung angesehene Mitarbeiter, ja Urheber und Leiter gegeben hat. Freilich „Ökumenismus“: Hier stock' ich schon, würde Doktor Faustus sagen. Unsere katholischen Väter arbeiteten für den „Unionismus“, dieses Wort sagt, was der Zweck der Übung sein soll — die Einheit, die Vereinigung, die Erfüllung des Herrenwortes: „Ut omnes unum sint“. Dagegen „ökumenis-mus“ heißt wörtlich „Bewohnte Weltbewegung“; was die ganze Bevölkerung der bewohnten Welt denn tun soll, muß man sich erst erkundigen. Dann freilich erfährt man Erbauliches — man will die Wiederherstellung der kirchlichen Einheit, wie sie bestand zur Zeit der ersten ökumenischen Konzilien, der großen Kirchenversammlungen der gesamten besiedelten und geordneten (römischen) Welt; es sollen also die Christen der ganzen Welt miteinander reden! Das sollen sie auch; wir werden gerne mit evangelischen Mitchristen reden, wenn, ja wenn es eben evangelische sind: bibelgläubige Christen.

„Contra principia negantem non est disputatio“, meinten unsere Urahnen in der Scholastik; ohne gemeinsame Grundlagen kann ich mit einem Menschen nicht reden. Gemeinsame Grundlage für Christen war bisher jenes Buch, das wir die Heilige Schrift nannten; die Evangelischen betonten sogar — die Schrift allein. Und was sagt die

Schrift über die Tabus, oder vielmehr über all das, „f/as die schwedische Gesellschaft bereits seit langem akzeptiert hat“? „Irret Euch nicht!“ schrieb St. Paulus den Korinthern; in jener Hafenstadt mit ihrem berühmt aufwendigen Nachtleben konnte man sich nämlich irren — oder vielmehr, es war weltkundig, was alles die levantinische Gesellschaft bereits seit langem akzeptiert hatte. Und dazu sagte der Apostel: „Irret Euch nicht! Weder Unreine noch Götzendiener noch Ehebrecher noch Weichlinge noch Knabenliebhaber noch Diebe noch Habsüchtige noch Säufer noch Verleumder noch Räuber werden teil haben am Reich Gottes.“ Wenn also die schwedische

Staatskirche das alles „nicht wahrhaben will“, müssen wir Gott danken und uns freuen, daß ein Dialog mit dieser Kirche für uns eben doch noch möglich, sinnvoll ist. Allerdings stehen wir dabei fassungslos vor dem Gedankenbrei, der hinter der zitierten Ausdrucksweise steht. Was heißt denn das? Welche Vorstellung verbindet sich mit der Aussage, daß die Staatskirche „nicht wahrhaben will“, was der Autor — und vor ihm St. Paulus — so deutlich schildert? Auf deutsch heißt es doch so, daß ich etwas leugne, abstreite, wenn ich es nicht wahrhaben will. Darnach hieße also jener Satz: Die Staatskirche verneint, daß in Schweden Abtreibung usw. geübt wird. Das verneint sie nun ganz gewiß nicht; sie verneint, Gott sei Lob, daß diese Dinge geübt werden dürfen, sollen! Aber da sind wir bei der

Fehlerquelle, bei dem grundlegenden Irrtum angekommen. Wenn ich behaupten will, daß man Knaben nicht schänden dürfe, dann darf ich eben nicht wahrhaben, daß man sie schändet; denn zugeben, daß etwas geschieht, zugeben, daß die Gesellschaft etwas seit langem akzeptiert hat — und dennoch behaupten, daß man das nicht darf: Das geht nicht! Das tut kein heutiger Mensch.

Anpassung?

Tut es am Ende doch der Katholik? Er tut es noch immer, und sei es nur, indem er besagten Paulus-Brief in der Kirche anhört. Freilich müßte der Katholik aufhören, etwas abzulehnen, was die Gesellschaft akzeptiert hat, wenn es stimmen würde, daß unsere Diskussionen „mit dem Ziel einer Anpassung an die heutige Gesellschaft stattfinden“. Wenigstens dann nämlich, wenn diese „Anpassung“ im üblichen Sinn verstanden würde: Adjustment, Appea-sement. Es gibt freilich auch einen anderen Sinn, den man bei besagtem Apostel lernen kann — oder auch beim stillen Herd zur Winterszeit. Indem ich nämlich dieses schreibe, gibt es zehn Grad Kälte; und diesem Winterwetter muß ich mich anpassen. Wie mache ich das? Reiße ich die Fenster auf, damit es in meinem Zimmer auch zehn Grad minus wird?

Ziehe ich Jacke und Hose aus, damit meine Temperatur auf zehn Grad minus sinkt? Ist das die richtige Anpassung? Nein; ich heize, was ich heizen kann, damit es bei mir schön warm bleibt; das ist die richtige Anpassung an das Winterwetter. Und als St. Paulus schrieb, daß er „allen alles geworden war“, da meinte er nicht, daß er bei jüdischen Gastfreunden ein gutes koscheres Gansl essen, aber bei den feschen heidnischen Korinthern Gruppensex treiben und bei den Galatern in Kleinasien Hanf rauchen würde. Er meinte nur, daß er sich diesen und jenen verständlich ausdrücken würde; bei den jüdischen Volksgenossen zitierte er Moses und die Propheten, bei den Griechen Aratos und Menander. Auch würde er sich da und dort an die angestammten Tischsitten halten; aber die christliche Lehre würde er predigen „zur Zeit und zur Unzeit“. Das war die Anpassung der Apostel!

„Mit dem Ziel einer Anpassung an die heutige Gesellschaft“ können wir also das Glaubensbekenntnis Pauls VI. anstatt des Athansiani-schen sprechen, oder die Fachausdrücke des Anquinaten durch neuere ersetzen oder eine Großstadt in Standespfarren statt Flächenpfarren aufteilen. Schon dabei ist allerdings Vorsicht geboten. Zwischen den Pfarrgemeinden zu Sankt Peter und St. Augustin wird es kaum Streit geben; einen Raufhandel zwischen der Studentenpfarrei und der Arbeiterpfarrei kann ich mir sehr gut vorstellen... Bei Fragen des Vokabulars muß man erst recht aufpassen; mit der Gemeinverständlichkeit ist es nicht getan, die Begriffe müssen auch richtig sein. Wäre ich — zum Beispiel — kirchlicher Zensor, ich würde eine Prüfung einführen für jeden, der Wörter wie „tabu“ und „sakral“ benützen möchte; und wenn er nicht genau nachweisen kann, daß er weiß, wovon er spricht, bliebe ihm der Gebrauch dieser Ausdrücke untersagt ... Nun, es muß andere Mittel geben, um Genauigkeit des Ausdrucks zu gewährleisten. Und nur dann, wenn sie gewährleistet ist, kann ein Dialog einen Sinn haben und einen Nutzen bringen.

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