6676186-1961_23_06.jpg
Digital In Arbeit

Die algerischen Führer

Werbung
Werbung
Werbung

Die „Provisorische Regierung der Algerischen Republik" — wie ihr offizieller Titel lautet — steht nun in Evian seit 20. Mai mit der französischen Regierung in Verhandlungen, die vielleicht von ebenso großer Bedeutung für die Zukunft Frankreichs wie für ein unabhängiges Algerien sind. Nahezu 15 Jahre ist es her, daß die algerischen Nationalisten den offenen Befreiungskrieg gegen Frankreich ausgerufen haben. Damit ist es erst zur politischen Einigung der verschiedenen algerischen Parteien in der F L N, der Nationalen Befreiungsfront, und zur Bildung einer provisorischen Regierung gekommen. Die nationale Bewegung wurde bis dahin hauptsächlich von zwei Parteien repräsentiert:

1. Die gemäßigte, „politische" „Demokratische Union des Algerischen Manifestes“ (U D M A in der französischen Abkürzung), die von Ferchat A b b a s, dem jetzigen Premier der provisorischen Regierung, geführt wurde.

2. Die einen zur „direkten, bewaffneten Aktion“ entschlossenen Kern enthaltende „Bewegung für den Sieg der Demokratischen Rechte“ (M T D L = Mouvement pour le Triomphe des Libertés Démocratiques“). Diese Bewegung wurde ursprünglich von dem langbärtigen Fanatiker Mes- sali Hadsch geführt, der jedoch wegen seiner diktatorischen Haltung aus der Bewegung ausscheiden mußte. Er hat seither eine eigene Partei gegründet, die „Algerische National-Be- wegung“ (MNA), die der FLN, in der sich UDMA und MTDL zusammengeschlossen haben, mit bitterer Feindschaft gegenübersteht.

Lieferte die UDMA ursprünglich die „Politiker“, so die MTDL die Militärs, die sich in zahlreichen terroristischen Akten und Bandenkämpfen erprobt hatten. Im Laufe des Krieges hat dieser Unterschied (auf den die französischen Politiker zeitweise große Hoffnungen in bezug auf innere Uneinigkeit der algerischen Rebellen vergeblich gesetzt hatten) zu bestehen aufgehört. Neun der dreizehn Minister des algerischen Kabinetts kommen aus der MTDL und sind ehemalige Guerillakämpfer und Bombenwerfer; heute aber sind sie alle erprobte Politiker und Staatsmänner und bereits in der internationalen Politik vielfach anerkannt.

Das Hanpt

Zu dieser Anerkennung hat in starkem Maße die Staatskunst des führenden Mannes der algerischen Revolution, des ernsten und würdig zurückhaltenden Ferchat A b b a s, beigetragen. Er ist heute 62 Jahre alt, von Beruf Apotheker, und schon seit seiner Studentenzeit politisch tätig. Er versprach sich ursprünglich viel von einer völligen Verschmelzung Algeriens mit Frankreich, weil er an dem Vorhanden-

sein ausreichender historischer und aktueller Grundlagen für eine eigene nationale Zukunft Algeriens zweifelte. Seihst als Abbas die Hoffnung aufgeben mußte, daß die Franzosen den mohammedanischen Algeriern jemals völlige Gleichberechtigung einräumen würden, strebte er noch immer eine mit Frankreich verknüpfte algerische Selbstverwaltung an. Dieses Streben Abbas’ haben die Franzosen durch Wahlbetrug und prohibitive Gesetze zunichte gemacht. Bar aller Illusionen, schloß sich Abbas mit seiner Partei, der UDMA, 1956 — zwei Jahre nach Ausrufung des nationalen Krieges! — mit den MTDL-Leuten zur Nationalen Front, zur FLN, zusammen. Zwei weitere Jahre später, 1958, wurde er zum Haupt der ersten provisorischen Regierung Algeriens gewählt. Sein Name ist seither zum Symbol der algerischen Volkserhebung geworden und ist ständig auf aller Lippen im ganzen Lande. Trotz kollektiver Führung ist es sein Wort, das in den Beratungen des Kabinetts den Ausschlag gibt.

Le petit caporal

Belkassem Krim ist stellvertretender Premierminister, Leiter der militärischen Operationen und zeitweiliger Außenminister der algerischen Regierung. Er ist der einzige in Freiheit befindliche von den neun „historischen Führern“, die das Signal zum Aufstand im November gegeben haben. Drei von ihnen sind tot und fünf sind Gefangene der Franzosen. 39 Jahre alt, klein, aber physisch unerhört zäh und kräftig (er ist ein Gebirgskabyle), desertierte Krim als 25jähriger Korporal aus der französischen Armee und lebte von 1947 bis 1957 illegal als Terrorist, Guerillakämpfer und -führet. 1954 wurde er zum Obersten und Kommandierenden der aufständischen Kräfte in Kabylien ernannt. Dann erfolgte seine Ernennung als Kabinettsmitglied. 1960 wurde er auch mit den auswärtigen Angelegenheiten betraut, die ihn häufig nach Kairo führten, wo sich heute noch der Sitz des algerischen Außenministeriums befindet, während die übrigen Ressorts wie die ganze Regierung in Tunis domiziliert sind.

Schüler und Schwager des Regierungschefs Ferchat Abbas ist dfcr 50 Jahre alte Achmed Francis. Er ist von Beruf Arzt und kommt wie Abbas aus der UDMA. Er ist der Finanz- und Wirtschaftsminister der Algerier und somit vor allem mit der Aufbringung der materiellen Mittel für die Führung des Kampfes betraut. Das geschieht einerseits durch Steuereinhebung bei der Bevölkerung, die jedoch — im Hinblick auf die Armut und Steuerpflicht der Fellachen gegenüber den Franzosen — nur in beschränktem Maße beisteuern kann. So ist’s kein Zufall, wenn Ferchat Abbas vor der Abreise seines Schwagers nach Moskau im März 1960 ironisch in einer Zeitschrift erklärte, daß die algerischen Aufständischen nicht dem amerikanischen Rate folgen könnten, „lieber sich durch westliche Waffen töten zu lassen, als sich mit östlichen zu verteidigen“. Ob Achmed Francis damals auch erhielt, was er sich von den Russen erhoffte, da sich Chruschtschow wegen de Gaulles Widerständen gegen die NATO zu einer passiven Haltung in bezug auf Algerien und die Kommunisten in Innerfrankreich verpflichtet hatte, ist eine andere Sache.

Innenminister mit 37 Jahren ist der kleine, magere und mit seinen geschlitzten Augen nahezu asiatisch aussebende Lakhda Ben T o b b a 1. Als Siebzehnjähriger schloß er sich bereits der MTDL an und ging 1950 in die Illegalität. 1954 gehörte er zu den 22 Führern der algerischen Widerstandsbewegung, welche die künftige Führung bestimmten. Er selbst war Kommandant der nördlichen Region von Constantine, welche die Franzosen kaum jemals zu pazifizieren imstande waren. 1957 wurde Ben Tobbal Innenminister. Ihm obliegt die gesamte innenpolitische Betreuung sowohl der ansässigen als auch der durch die Kriegsereignisse entwurzelten und über ganz Nordafrika verstreuten Algerier ebenso wie der in Frankreich befindlichen Landsleute. Er ist sowohl für den politischen Apparat als auch für die Verwaltung und Polizei der provisorischen Regierung verantwortlich. Er ist bekannt für seine soziale Gesinnung, da er 20 Jahre lang vor allem unter armen Bauern gearbeitet hat, und die Unabhängigkeit bedeutet ihm vor allem Boden und bessere Lebensbedingungen für die Fellachen.

Der Rundfunk als Kriegsmittel

1 Die algerischen Rebellen haben immer wieder durch das blitzschnelle Auf tauchen und Verschwinden ihrer Kampfgruppen die motorisierten, ja oft sogar auch die Fallschirnispringer- verbände der Franzosen übertrumpft. Das gelang vor allem durch ihr ausgezeichnet organisiertes Verbindungswesen und mit Hilfe des Rundfunks. Minister für Kommunikationen ist der 34 Jahre alte Abdelhafid B u s s u f, der wegen seiner organisatorischen Fähigkeiten und intimen Kenntnisse des ganzen Landes auf diesen Posten gestellt wurde. Er ist stark kurzsichtig, aber ein Büffel von einem Mann, und kommt aus dem gleichen Dorf in der Nähe von Constantine wie Ben Tobbal .und stammt ebenso wie dieser aus dem militärischen Kern der MTDL. Trotz seiner Stellung als Regierungsmitglied hat sich Bussuf in Tunis die Mentalität der Widerstandsbewegung bewahrt, und er betrachtet alle Diplomatie nur als eines der Mittel, mit denen die Algerier ihren Krieg gegen Frankreich gewinnen wollen.

Der vierte „Exoberst“

in der Regierung ist fia . lo hai m e d i als Staatsminister ohne (nä außen) näher definiertes’Ressort. Als Nachfolger Krims kommandierte er die kabylische Region. Die direkte Leitung des militärischen Kampfes untersteht jedoch dem Triumvirat Belkassem Krim, Ben Tobbal und Abdelhafid Bussuf.

Der „Amerikaner“ und der Gelehrte

Weder Militärs noch gebürtige Politiker sind die beiden folgenden Angehörigen des Kabinetts. Der hochgewachsene, bebrillte Mohammed J a s- s i d ist Informationsminister und offizieller Sprecher der algerischen Regierung, insbesondere in UNO-Kreisen. Er ist mit einer Amerikanerin verheiratet und beherrscht ausgezeichnet die ungezwungene amerikanische Art des Umganges mit Presseleuten. Er ist 38 Jahre alt und kommt aus einer Familie, die dem französischen Staat eine Reihe ausgezeichneter Offiziere geliefert hat. Jassid hat wegen verbotener nationalistischer Tätigkeit zwei Jahre Kerker in Algerien und vier Jahre als „U-Boot“ in Frankreich verbracht. Er gewann die endgültige Unterstützung Nassers für die algerische Sache im Jahre 1954 und war auch sonst der Vertreter der Rebellen bei vielen außenpolitischen Gelegenheiten.

Der Gelehrte des Kabinetts ist Ab- delhammid M e h r i, der 3 5 Jahre alte

Sozial- und Kulturminister. In Algerien gibt es bis zum heutigen Tag keine arabische Universität, doch konnte Mehri, obwohl ein Sohn armer Leute, in Tunis arabische Literatur und Geschichte studieren und gilt heute in der arabischen Welt als Autorität auf jenen Gebieten.

Die fünf Schattenminister

Als vier Minister der provisorischen algerischen Regierung im Oktober 1956 in einem marokkanischen Flugzeug nach Tunis fliegen wollten, wurden sie statt dessen von dem französischen Piloten in französische Gefangenschaft gebracht. Der bekannteste der vier ist Achmed Ben Bella, um die vierzig Jahre alt, ehemaliger und mehrfach ausgezeichneter Unteroffizier der französischen Armee im zweiten Weltkrieg. Ben Bella ist eine legendäTe Figur in Algerien. Bereits 1952 fiel er den Franzosen während eines Kampfes in die Hände und wurde zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt. Kurz darnach gelang es ihm jedoch, aus dem Gefängnis in Blida zu entfliehen. Er ging nach Kairo und spielte dort eine bedeutende Rolle bei der Vorbereitung und Führung des Aufstandes.

Auch die übrigen gefangenen vier Minister gehören der nationalrevolutionären Bewegung seit deren frühesten Anfängen an. Mohammed B u- d i a f fungierte als Verbindungsmann zwischen den Häuptern des Aufstandes und dessen Anhängern außerhalb Algeriens. Mohammed K a i d e r war mit der Arbeit in Kairo beschäftigt und wurde dabei von seinem jungen Bruder Hodschin Aid Achmed unterstützt, der für seine linksgerichtete Haltung bekannt ist. Rabah B i- t a t fiel den Franzosen schon 1955 als Kommandant der Region von Algier in die Hände.

Als es im Vorjahr zu den ersten Verhandlungen de Gaulles mit den algerischen Führern kam, bestand eine von deren allerersten Bedingungen darin, daß ihre gefangenen fünf Kameraden während der Verhandlungen konsultiert werden und mitentscheiden müßten. Das gleiche geschieht auch heute bei den Verhandlungen in Evian. Die fünf befinden sich gar nicht weit vom Verhandlungsort, auf einer Insel in der Nähe von Aix, interniert. Man nimmt an, daß sie nach fünf- respektive sechsjähriger Gefangenschaft vielleicht bald wieder die Freiheit genießen werden.

Der Tribun und der Kabinettschef

Nicht dem Kabinett angehörend, aber von besonderer Bedeutung sind zwei algerische Führer, die, jeder auf seine Weise, stark hervorgetreten sind. Der erste ist der 52jährige Rechtsanwalt Achmed Bumendschel, den man den Mirabeau und Danton der algerischen Revolution nennt. Er ist von klassischer Beredsamkeit und sprühendem Witz und in Frankreich als Verteidiger zahlreicher algerischer Angeklagter in politischen Prozessen bekannt. Die provisorische Regierung beauftragte ihn mit der Leitung der Delegation bei den Verhandlungen von Melun. Bumendschels jüngerer Bruder wurde von französischen Militärs bei einem Verhör dermaßen gefoltert, daß er Selbstmord beging. Man vermutet, daß Bumendschel insbesondere als halboffizieller Verbindungsmann der algerischen Regierung zu den Ostblockländern fungiert.

Einer der brillantesten jungen Leute der Rebellen ist der physisch zarte, aber durch durchdringende Intelligenz bekannte, dreißigjährige Mohammed Ben Dschadscha. Er war ursprünglich Vorsitzender der mohammedanischen Studenten Algeriens, später Delegierter bei den Verhandlungen von Melun, und ist nun der Generalsekretär der provisorischen Regierung und Kabinettschef bei Ferchat Abbas. Ben Dschadscha ist außerdem stark mit der Planung der künftigen Wirtschaft Algeriens, der Rückführung der hunderttausenden Flüchtlingen und Ausgewiesenen und einer künftigen wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Frankreich beschäftigt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung