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Die Angeklagten von Mailand

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„Wo viel Licht ist, ist starker Schatten.“ Auf den zweiten „Südtirolprozeß“ in Mailand bezogen, muß die Betonung bei diesem Goethe-Zitat eindeutig bisher auf dem Wort Schatten liegen.

Der Mailänder Sprengstoffprozeß, der seit 12. Jänner in der welt- offenen Atmosphäre der lombardischen Handelsmetropole abgehalten wird, hat das Thema Südtirol in seiner düstersten Seite aufgerollt. Angeklagt sind Verführer wie Verführte, Männer, denen Liebe zur Heimat man Glauben schenken kann, Abenteurer, die in jeden „heißen“ Winkel der Welt passen würden, nur nicht nach Südtirol, und unverbesserliche Phantasten, die von den bitteren Lehren zweier Weltkriege anscheinend unberührt geblieben sind.

Die Atmosphäre, die geistige Kulisse, vor der dieser Sprengstoffprozeß abläuft, muß gespenstisch wirken: Südtiroler, Österreicher und Bundesdeutsche stehen vor Gericht. Standen im ersten Sprengstoffprozeß aber 57 Südtiroler in Mailand, also eine homogene Gruppe, die, angeführt vom inzwischen im Gefängnis von Verona Ende 1964 verstorbenen Sepp Kerschbaumer, durch ihr aufrechtes Verhalten dem Gerichtshof augenscheinlich demonstrierte, daß es ein Südtirolproblem in all seiner Komplikation wirklich gibt, so wurden diesmal zehn Angeklagte in Ketten vorgeführt, die nur sehr wenig miteinander zu verbinden scheint und die mit dem Wort Südtirol recht verschiedene Assoziationen verknüpfen. Im ersten Mailänder Prozeß überwog das Licht, im zweiten das Dunkel.

26 Südtiroler sind Angeklagte auf freiem Fuße.

Das Rätsel: Andergassen

Als Hauptangeklagter in Haft gilt der Innsbrucker Komponist und Musikprofessor Dr. Günther Andergassen. Andergassen ist eine sehr komplexe, fast seltsame Erscheinung: Geborener Südtiroler, österreichischer Staatsbürger, von Beruf Musikprofessor am Mozarteum in Salzburg und am Konservatorium zu Innsbruck, anerkannter Komponisl sakraler Musik, von Papst Johannes XXIII., vor dem er eine seinei Messen aufführen durfte, zweimal ln Privataudienz empfangen, Doktor auf Grund einer Dissertatidn übet Puccini, ausgezeichneter Kenner dei Italienischen Kultur. Als solchei führte er dutzendemal anglo-ame- rikanischie Touristengruppen naci Italien, tief religiös, schwärmerisd- veranlagt, „beheimatet zwischer Traum und Wirklichkeit“. Für sein

Heilig-Geist-Messe ist ihm erst kürzlich der Kulturpreis der Stadt Innsbruck verliehen worden. Als Mensch und Künstler ist Andergassen unantastbar.

Andergassen war anfangs April 1964 in Venedig verhaftet worden, als er gerade mit einer amerikanischen Touristengruppe in einem Hotel das Mittagsmahl einnahm. In seinen ersten Vernehmungen, die allerdings auf eine recht eigenartige Weise geführt wurden, deklarierte er sich als leitender Exponent des BAS (Befreiungsausschuß für Südtirol) und lieferte den italienischen Sicherheitsbehörden viel belastendes Material. Später wiederrief er jedoch den größten Teil seiner ersten Aussagen und Niederschriften, die er (wie er nun vor dem Gerichtshof erklärte) „in einem Zustand der Verwirrung, der höchsten Erregbarkeit und tiefster seelischer Depressionen“ gemacht hatte.

Die Wurst und der Staat

Andergassen nannte vor allem zwei Motive für sein Handeln: die Folterungen von Südtiroler Häftlingen 1961, die auf ihn und seinen Freundeskreis einen erschütternden Eindruck gemacht hätten, und die Sympathie für Leute wie Kerschbaumer, die bereit gewesen seien, für ihre Heimat jedes Opfer zu bringen. „Man hoffte auf die Autonomie und verzweifelte an dieser Hoffnung“, sagte der verträumt wirkende Künstler, der bei seiner Vernehmung sehr nervös war und sich mehrmals zu widersprechen schien.

Der Untergrundbewegung BAS, der er jedoch nie in einer leitenden Stellung angehört habe (was sehr glaubhaft erscheint), seien vor allem zwei Ziele zugrunde gelegen. In erster Linie die Weltöffentlichkeit auf das noch immer ungelöste Südtirolproblem im Herzen Europas hinzuweisen, in zweiter Linie für Südtirol eine Landesautonomie im Rahmen des italienischen Staates durchzusetzen, die es den Südtirolern ermöglichen würde, sich in der eigenen Heimat wieder richtig daheim zu f ühlen.

„Aber die Propaganda des BAS“, wandte der sehr geschickt operierende Präsident des Schwurgerichtes ein, „ging doch auf Selbstbestimmung des Landes und auf Annexion durch Österreich.“ — „In der Diplomatie ist es oft so“, antwortete Andergassen nicht sehr diplomatisch, „daß man die ganze Salami verlangt, um die halbe zu bekommen.“ — Darauf der Präsident lächelnd: „Das aber doch wohl nur für die Wurst, nicht aber für den Staat!“

Die Milch schäumte so seltsam…

Die Art, in der das Geständnis Dr. Andergassens 1964 vor der Polizei zustandekam, erscheint mehr als aufklärungsbedürftig. Sie ist neuerdings geeignet, ein grelles Licht auf die oft seltsamen Methoden der italienischen Polizei und des Geheimdienstes zu werfen. Bei der Einvernahme des Bozner Polizeikommissars Dr. Benevento am 2. ds. wurden diesbezüglich eigenartige Dinge bekannt: Auf präzise Anfragen des jungen Bozner Rechts anwaltes Dr. Hugo Gamper, der Andergassen mit Geschick verteidigt, mußte der als Zeuge einvernommene Kommissar zugeben, daß der Angeklagte 36 Stunden (!) pausenlos verhört wurde, bis ein „Geständnis“ Vorgelegen sei. Während dieser Zeit wurde dem sowieso sehr sensiblen Musikprofessor nicht nur der Schlaf vorenthalten, sondern auch jegliche Nahrung, sieht man von etwas Milch und Keksen ab, die ihm „spontan“ (!) von den Vernehmuhgsbeamten gereicht wurden.

Die Milch, so hatte Andergassen ;chon bei seinem ersten Gespräch nit seinem Rechtsanwalt (der erst [8 Tage nach dessen Verhaftung zu hm gelassen wurde!) erklärt, habe n ihm später sofort den begründe- ;en Verdacht erweckt, daß darin eine Droge gewesen sei. Sie habe „so seltsam geschäumt“, und nachher habe er sich völlig willenlos ge- iühlt. Es sei ihm später trotz aller Anstrengungen unmöglich gewesen, sich an diese pausenlosen Einvernahmen beziehungsweise an seine Aussagen zu erinnern.

Starke Beachtung bei den zahlreichen in- und ausländischen Pressevertretern fand auch die Frage Dr. Gampers an den Angeklagten, ob es wahr sei, daß er auch während seiner Gefängnishaft und ziur Zeit der Einvernahme durch ien Untersuchungsrichter in Bozen laufend von Vertretern des italienischen Geheimdienstes besucht und „befragt“ worden sei. Andergassen bestätigte dies. (Die italienischen Gesetze verbieten jedoch diese Besuche kategorisch!)

Nomen est omen …

Waren in den Aussagen Doktor Andergassens, dem die Anklage vorwirft, verschiedene Südtiroler für Sprengstoffanschläge und Terrorakte angeworben zu haben, doch noch bedeutsame Lichtpunkte enthalten (gewesen — bei der Vernehmung des heute 22jährigen Angeklagten Lothar Dunkel aus Stuttgart herrschte nicht nur Dunkel, sondern totale Finsternis. Der hochaufgeschossene Mann, der am Vorabend des ersten Mailänder Prozesses im Dezember 1963 bei der Grenze in Ohiasso festgenommen worden war — sein Volkswagen war mit 16 Kilogramm Sprengstoff vollgestopft —, hat Südtirol, dem er in Überschwang seiner verworrenen, neonazistisch angehauchten Ideen helfen wollte, einen wahren Bärendienst erwiesen.

Dunkel hatte in der Voruntersuchung von der „Bildung eines Großdeutschen Reiches“ gesprochen, zu dem Österreich und das mit ihm wiedervereinigte Südtirol gehören sollen. In den Protokollen ist weiter von „Rassenideen“ und von der Aufzüchtung „junger, blonder und blauäugiger Deutscher“ die Rede. Die Norditaliener kommen noch ganz gut davon, sie seien, erklärte der Angeklagte damals, ja Nachkommen germanischer Stämme aus der Zeit der Völkerwanderung. Ab Florenz beginnt jedoch die „biologisch minderwertige Rasse“, und die Sizilianer sind für Dunkel, der bezeichnenderweise aus dem Kreis Dr. Norbert Burgers stammt und nach seinen eigenen Aussagen von ihm angestiftet wurde, schon nur noch „halbe Neger“. Präsident Dr. Lantieri, selbst geborener Sizilianer, spielte bei der Einvernahme Dunkels, der ohne viel Erfolg seine „Witze“ (wie er es nannte) abschwächen wollte, lachend auf diese Behauptung an.

Tatsächlich ist das Wort „Witz“ für so viel Dummheit, Unfug und für so viel mißbrauchten, weil in eine völlig falsche Richtung geleiteten jugendlichen Idealismus am Platz.

Der Prozeß läuft fort.

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