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DIE ANTWORT

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Jede Stadt hat jene architekten, die sie verdient. Angebot und nachfrage regulieren die bauformen. Der, der dem wünsch der Bevölkerung am meisten entspricht, wird am meisten zu bauen haben. Und der tüchtigste wird vielleicht, ohne je einen auftrag erhalten zu haben, aus dem leben scheiden. Adolf Loos

(Die Potemkinsche Stadt, 1898)

Der Aufsatz in der „Furche“ vom 9. Februar „Der Architekt der Fußgänger“ hat starken Widerhall gefunden. Viele Zuschriften sind an die „Furche“ gekommen: solche zum Thema und solche zur Person Le Corbusiers: Briefe von „Laien“ (die Architektur nur erleiden, ohne sie ändern zu können) und Briefe von Architekten (die für Architektur verantwortlich sind): zustimmende und ablehnende. Dieses Echo, das allein ein kleiner einführender Aufsatz fand, zeigt, wie wichtig die Le-Corbusier-Ausstellung für Oesterreich war, die den Anlaß zu den in der „Furche“ veröffentlichten Zeilen bot.

Im letzten Absatz dieses Artikels wurde vom Mittelmaß gesprochen, das bei uns Triumphe feiert. Da hat sich nun aus der heimischen Architektenschaft Architekt G. Lippert zu Wort gemeldet Die „Furche" druckt diesen Brief nebenstehend vollinhaltlich ab, ohne ein Wort daran zu ändern. Im folgenden soll Punkt für Punkt auf die Ausführungen Architekt G. Lipperts eingegangen werden.

1.

G. Lippert zitiert den Titel des Aufsatzes „Der Architekt der Fußgänger“ falsch: „Der Architekt als Fußgänger.“ Das ergibt einen ganz anderen Sinn. Auch ein Architekt der Fußgänger kann selber einen Wagen fahren.

2.

G. Lippert schreibt, die Architektengeneration unserer Zeit kenne das Werk Pierre Jeannerets seit mehr als dreißig Jahren. Die Frage, wie weit jemand das Werk eines Mannes kennt, der nicht einmal den richtigen Namen des Urhebers dieses Werkes kennt, bleibe unentschieden. Hier sei nur festgehalten, daß Le Corbusier mit seinem richtigen Namen Edouard Charles Jeanneret und nicht Pierre heißt. Ingenieur Pierre Jeanneret hat bloß lange Zeit mit seinem Vetter Edouard Charles zusammengearbeitet.

3.

G. Lippert meint, Le Corbusier habe stärker durch Wort und Schrift, als durch seine Bauten überzeugt. Ohne seine Bauten hätte er aber tatsächlich wohl nur eine kleine Gemeinde Eingeweihter überzeugt. Erst die Verwirklichung seiner Ideen erwies ihre Kraft und ihre Verwendbarkeit. Erst ihre Verwirklichung ermöglichte die Erkenntnisse, auf denen die nachfolgende Architektengeneration aufbauen konnte.

4.

Wie Besucher berichten, waren fn der Wohnhausanlage von Le Corbusier in Marseille bereits 1955 alle Wohnungen vermietet. Es ist also nicht richtig, daß es „trotz Herabsetzung der Mieten nicht gelang, die Wohnungen anzubringen". Als schwer anbringlich erwiesen sich nur die Geschäfte. Siegfried Giedion schreibt dazu: „Leider verlangt der Eigentümer des Baues, der französische Staat, daß der Geschäftsinhaber den Laden käuflich erwirbt und ihn nicht etwa nur mieten kann, wie es sonst üblich ist. Das bedeutet ein sehr schweres Hindernis für die Belebung dieser inneren Kaufstraße, und man kann verstehen, daß der Geschäftsmann zögert, das Risiko ohne weiteres einzugehen."

Die Praxis hat auch ergeben, daß einige Hausfrauen der Unite lieber in der Umgebung einkaufen, um Tratsch von auswärts mitzubekommen. Die Planung der Ladenstraße, die in der Wohneinheit in Nantes fehlt, war vielleicht ein wenig sozial-utopisch.

5.

Zur Frage der „Gemeinschaftsbildung“ ist im 5. Band der Werke Le Corbusiers (W Boesiger, Zürich 1955) zu lesen: „Die Mieter der am 14. Oktober 1952 feierlich eröffneten ,Unite“ von Marseille haben nicht gezögert, sich zu einem Verein zusammenzuschließen und eine echte vertikale Gemeinde zu bilden, deren Zweck allerdings nicht politisch ist, sondern in der Verteidigung ihrer Interessen und in der Entwicklung menschlicher Werte innerhalb der Gemeinschaft besteht. Die Statuten des Vereins beziehen sich auf folgendes: Schaffung und Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen unter den Bewohnern der .Unite“ “ usw.

6.

G. Lippert schreibt, daß die Kosten je Quadratmeter Wohnfläche sechsmal so groß waren, wie es bei einem normalen Wohnbau sein dürfe. Wenn ein Architekt das Werk eines Kollegen in dieser Weise kritisiert und Maximen formuliert, stellt er seine eigenen Arbeiten zur Debatte. Greifen wir unter den Werken G. Lipperts eines heraus, das besonders bekannt und repräsentativ ist — den Heinrichshof in Wien (Opernringhof, linker Bauteil: C. Appel, rechter Bauteil: G. Lippert). Der Heinrichshof ist zum Teil Bürohaus, zum Teil Wohnhaus. Die Wohnungen liegen in dem der Elisabethstraße zugekehrten Teil des Komplexes.

Eine Wohnpartei hat für eine Durchschnittswohnung im Heinrichshof an die S 150.000 zu leisten. Eine Durchschnittswohnung in der .Unite“ (logis typique) kostet 5,25 Millionen Francs, das sind etwa 375.000 Schilling. Die Durchschnittswohnung im Heinrichshof umfaßt 2 Zimmer, 1 Kabinett, 2 Vorzimmer, Küche, mit insgesamt 94 Quadratmeter Wohnfläche. Sie ist eingeschossig, die Fenster gehen teils in den Hof, teils zur Elisabethstraße. Der „logis typique“ hat sechs Räume mit insgesamt 110 Quadratmeter Wohnfläche

Worin die Ablöse der Vormieter und difi Verteuerung durch den hohen Preis des Baugrundes enthalten sind.

(Loggias mit 14 Quadratmeter). Er ist zweigeschossig, die Fenster blicken nach Osten und Westen, auf die Berge und auf das Meer.

Wenn es richtig ist, daß Le Corbusier die Kosten je Quadratmeter Wohnfläche um das Sechsfache überschritten hat, dann darf eine Wohnung in den Ausmaßen des „logis typique“ nur S 62.500 kosten. Dann hat G. Lippert selbst diesen Betrag dreimal überschritten.

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7.

Wenn man die sicherlich hohen Kosten der Unite kritisiert, muß man loyalerweise immer bedenken, daß die neuen Ideen und Methoden Le Corbusiers an die auf die herkömmlichen Arbeitsweisen und Schemata eingefuchsten Firmen und Handwerker besondere Anforderungen stellten. So gab auch der ehemalige französische Aufbauminister Claudius-Petit zu bedenken, daß erst die Massenfabrikation die hohen Kosten der ersten Versuchsbauten hereinbringen würde. Die Planung und Verwendung vorfabrizierter Baueinheiten ist ja gerade im Hinblick auf eine mögliche Serienproduktion erfolgt. Ueber die Rentabilität von Serienprodukten zu sprechen, ehe die Serie ausgeführt wurde, geht aber nicht an.

Schließlich muß festgehalten werden, daß der Preis einer Wohnung in der Marseiller Unite bei uns höher erscheint, als er in Wahrheit ist. Nicht nur, daß Kurswert und Kaufkraft von Schilling und Franc differieren, liegen in Frankreich sowohl Baukosten wie Wohnungspreise relativ höher als bei uns. Der französische Bürger hat für das Wohnen einen höheren Prozentsatz der Lebenshaltungskosten aufzuwenden als der Oesterreicher.

Wenn „derartige Experimente“ in Oesterreich ausgeschlossen sind, ist das schade — für Oesterreich. In Berlin jedenfalls Und in verschiedenen französischen Orten (so in Meaux bei Paris) wird Le Corbusier bauen.

8.

Entscheidend ist aber nicht nur, was etwas kostet, sondern was für das Geld geboten wird. Sehen wir zu, ob das Werk G. Lipperts dem Le Corbusiers standzuhalten vermag.

In Marseille sind alle Wohnungen nach Osten, Westen und Süden, zur Sonne und auf den Park gerichtet. Nach Norden keine einzige. Im Heinrichshof sind ein Teil der Wohnräume auf die Straße (Elisabethstraße) gerichtet, so daß tieferliegende Wohnräume durch die gegenüberliegende Häuserfront beschattet werden — der andere Teil der Wohn- beziehungsweise Schlafräume geht in den Innenhof, außerdem nach Norden.

In einer Marseiller Wohnung sind die Küche und ihre Einrichtungen geplant und sinnvoll eingebaut (automatische Kehrichtentfernung direkt von der Küche aus). Einbauschränke, Schallisolierung und wohlüberlegte Installationseinheiten vorhanden, Loggias vor den Wohnräumen und den Schlafräumen. Eine Heinrichshofwohnung hat keine Einbauschränke, die Küche ist schwer einzurichten, die Betten in den Schlafräumen sind ungünstig zu stellen. Abwurfschacht vom Stiegenpodest aus.

Eine Marseiller Wohnung hat Wohnatmosphäre, ist räumlich stark differenziert, geht über zwei Geschosse. Die Heinrichshofwohnung ist verwinkelt angelegt, der erste Vorraum führt zu zwei Seiten durch einen Rundbogen (I) in je einen weiteren Vorraum. Wie man hört, gehen manche Wohnparteien daran, ihre Wohnungen umzubauen (indem sie Wände versetzen lassen usw.). Dazu kommen die Kosten der schwierigen Kücheneinrichtung.

Marseille ist vom Wohnen aus und für den Menschen entwickelt. Der Heinrichshof ist von außen, von der Repräsentation und Illumination her, entwickelt.

Human bauen heißt: für den Menschen bauen. Inhuman bauen heißt: Wohnungen an Verkehrsstraßen und Lärmzentren und ohne genügenden Abstand von gegenüberliegenden Häusern errichten. Wohnräume in hohe, enge Innenhöfe hineinplanen. Wohnräume zu planen, die nicht durchsonnt sind. Küchen zu planen, die schwer einzurichten sind. Die Außenwände mit Chiampo-Porifirico-Marmor zu verkleiden, wenn die Wohnungen nicht in Ordnung sind. Geld für Marmor, runde Bögen und Illumination auszugeben, statt für Dinge, die dem Menschen dienen.

Die „Furche" hat, als das Heinrichshofprojekt auftauchte, wiederholt davor gewarnt, an dieser Stelle ein Büro- und Wohnhochhaus zu errichten. Die Innere Stadt braucht Grünflächen und Luftreservoirs, keine Hochhäuser und Verkehrsfallen. Freilich hätte der Verzicht, Hier sslf fcäueii, auch für die mit dem Bau beauftragten Architekten ein finanzielles Opfer bedeutet. Ein Opfer, das andere Architekten zu bringen bereit sind, wenn ein Bauauftrag sich nicht mit ihrer Baugesinnung vereinen läßt. Le Corbusier selbst hat nie ein Gebäude als „Kapitalsanlage" der Auftraggeber gebaut. Er hat nie Wohnungen an die bedeutendsten Verkehrsstraßen und -kreuzungen einer Metropole geplant. Er hat so gebaut, wie es ihm sein Gewissen vorschrieb: human.

9.

G. Lippert versteht unter wirklichen Fachleuten, die über Probleme der Architektur schreiben sollen, wohl nur ausgebildete Architekten: also Kollegen, die selbst bauen. Gelte dieser Grundsatz auch auf anderen Gebieten, dann dürften nur Politiker über Politik, nur Musiker über Musik, nur Maler und Plastiker über bildende Kunst und nur Schriftsteller über Literatur schreiben. Kunstkritiker aber sind kunstverständige Laien: Menschen, die sich durch Studium oder Selbststudium Kenntnisse auf dem Gebiet der Kunst erworben haben, die sich über Kunst Gedanken gemacht und zu ihr Zugang gefunden haben. Eine Architekturkritik ist bei uns in Oesterreich leider noch viel zuwenig, ja fast gar nicht vorhanden. Sie zu fördern wird in Hinkunft ein noch stärkeres Anliegen der „Furche" sein als bisher.

Der Schaden, den in der Architektur das triumphefeiernde Mittelmaß anrichtet, ist ein dreifacher: Architektur wirkt durch ihre Erscheinungsformen ebenso wie das Plakat geschmackbildend: schlechte Architektur verdirbt den Geschmack Dann kann mißlungene Architektur nicht einfach beiseite geräumt werden wie ein mißlungenes Bild Zum psychischen Schaden kommt der physische: an Nerven, Gesundheit, Arbeitskraft. Diesem Schaden entgegenzuwirken, ist Aufgabe der Architekturkritik.

Dem Architekten aber, der das Werk Le Corbusiers, und insbesondere seine „Unite" herabzusetzen versucht, hat Walter Gropius, selbst einer der größten Architekten unserer Zeit, schon 1953 die richtige Antwort gegeben: „Der Architekt, der diesen Bau nicht schön findet, sollte besser den Zeichenstift weglegen.“

10.

G. Lippert zitiert am Ausgang seiner Ausführungen — aus dem Zusammenhang gelöste — Aeußerungen, die Professor Bonatz im Darmstädter Gespräch 1951 über „Mensch und Raum" getan hat. Bonatz hatte damals die Schule, die Professor Hans Scharoun gemacht hat, als ein Beispiel des Zerdenkens abtun wollen. Jose Ortega y Gasset erwiderte darauf kurz und prägnant: „Es ist nur ein einziges Wort, das ich dem Herrn Bonatz sagen möchte, nämlich: daß der liebe Gott den Zerdenker brauchte, damit die anderen Tiere nicht fortwährend in Schlaf fielen."

Ohne Le Corbusier deswegen als Zerdenker bezeichnen zu wollen: unsere Zeit hat ihn sicher gebraucht. Zu viele seiner Architektenkollegen wären sonst in Schlaf gefallen.

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