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Die Augen waren auf den Lehrer gerichtet

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In diese Situation traf die politische Propaganda. Sie breitete — teilweise mit Hilfe religiöser Begriffe und Vorstellungen — ihre antijüdische Hetze aus. Sie lenkte den Blick in die Gegenwart, von der religiösen auf die politische Ebene. Dadurch wurde die Gefahr eines antijüdischen Vorurteils in ungeahntem Ausmaß aktualisiert. Die politische Propaganda lautete: Alle Juden sind hinterhältig, brutal und feige, außerdem arbeitsscheu. Das war für unsere jüdischen Zeitgenossen ein klares Verdikt.

Die Propaganda bediente sich besonderer Lieder, um für ihre Ideen zu werben. Die Lieder sollten Werbung und Schulung sein. Die Hitler-Jugend wurde zum bevorzugten Ort dieser politischen Schulung bestimmt. Die „Lieder der Bewegung“, die wir lernten, führten in weitem Ausmaß die Sprache der Gewalt, von Krieg, Sieg und Erschießen war die Rede. Rotfront und Reaktion waren nach dem Text des „Kampfliedes“ die mörderischen Feinde des Regimes. Als Hintermänner dieser Feindschaft galten die Juden. Der Dienst in der Hitler-Jugend ergänzte unser Wissen vom Kampf gegen deren berüchtigte Reaktion. Eines der Lieder lautete: „Es zittern die morschen Knochen der Welt vor dem großen Krieg.“ Die Strophe ließ ein Unbehagen in uns zurück, aber wir konnten es in der Schule und zu Hause nicht ausdrücken. Manches blieb daher unverstanden, wurde nicht berichtigt und geklärt.

Der 9. November 1938 war ein Wendepunkt, sofern die antijüdische Propaganda in offener Gewalttat zum Ausdruok kam. Nach der „Kristallnacht“ sahen wir auf dem Weg zur Schule die zerschlagenen Geschäfte der Juden, von Männern der SA und SS bewacht. In der Klasse waren daher unsere Augen erwartungsvoll auf die Lehrer gerichtet. Da wir verwirrt waren, suchten wir ihre — der Lehrer — Autorität Man gab keine Erklärung. Die Lehrer enthielten sich jeglichen Kommentars. Ein Lehrer war an diesem Morgen besonders aufgeräumt. Er schien Genugtuung zu empfinden. Ohne Verlegenheit schrieb er unsere Beobachtungen an die Tafel, um daraus eine Art Klassenaufsatz zu machen. Als wir nach Schulschluß durch die Stadt zogen, stieg der letzte Rauch aus den Trümmern der Synagoge. Eine Lampe, die unversehrt in den Ruinen hing, wurde von den Hitler-Jungen zertrümmert. Wir staunten, schienen aber zu einer tieferen Regung nicht fähig zu sein. Das ist wohl nur auf dem Hintergrund der allseitigen Propaganda verständlich. Das neue Geschichtsbuch zeigte die entsprechende Tendenz: Die jüdische Rasse galt als minderwertig, wir sollten uns daran gewöhnen, Juden wie Aussätzige zu behandeln. Film, Presse und Rundfunk wurden zur Verbreitung dieser Haltung eingesetzt. Wir hörten, lasen die Reden Hitlers, in denen er sich gegen die Juden ausließ und eine Verschwörung des „internationalen Judentums“ gegen Deutschland behauptete. Das „internationale Judentum“ wurde als eine Verbrecherclique dargestellt.

Als zu Anfang des Krieges im Kino deportierte Juden beim Straßenbau gezeigt wurden, lachte das Publikum. Man war so weit, daß man sich darüber öffentlich amüsieren konnte. Wir sollten — noch als Schüler — den Abgrund des Judenhasses erleben. Ein junger Lehrer kam vom östlichen Kriegsschauplatz in die Schule zurück. Wir baten ihn, von der Front zu berichten. Da begann er ohne Umschweife zu sprechen, Spannung und Selbstzufriedenheit in der Stimme. Sein Thema war: die Erschießung der Juden. Er hatte sie miterlebt und war in der Lage, eine detaillierte sadistische Schilderung abzugeben. Es war vielleicht das erste Mal, daß eine Schulklasse in dieser Weise über den Judenmord unterrichtet wurde. Die Klasse blieb stumm, weil das Gehörte ihre Fassungskraft überstieg.

Als- wir gegen Ende des Krieges zum Wehrdienst einrückten, herrschten auch dort die bekannten Parolen. Die Auslassungen des Ausbilders gegen die Juden waren grotesk. Schuld an allem Unglück — hieß es — seien die Juden. Die Zeit der Siegfanfaren und flotten Marschlieder war vorüber, da wurde — dem antisemitischen Wunschdenken entsprechend — in der Truppe ein Lied verbreitet, das die geschichtliche Wirklichkeit in seltsamer Weise verkehrte: es besang den Untergang der Juden im Roten Meer. Wenige Wochen später schlugen die Wellen der Kapitulation über der Truppe zusammen. Den Strom der Gefangenen ordnete ein amerikanischer Soldat. Es hieß, er sei ein Jude — aber noch rechtzeitig emigriert.

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