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Die Bedeutung der Präsidentenwahl in Amerika

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Für den Europäer ist es nicht leicht, die Bedeutung einer Präsidentenwahl in den Vereinigten Staaten voll zu ermessen, denn obwohl er oft einen zutreffenden Begriff von der Macht und dem Einfluß der Vereinigten Staaten hat, so fehlt ihm doch zumeist eine genauere Kenntnis der amerikanischen Verfassung. Diese ist seit über 150 Jahren mit ganz wenigen Abänderungen unverändert geblieben und es muß betont werden, daß bei ihrem Entwurf eine Demokratie nie beabsichtigt gewesen ist. Die „Urväter" der amerikanischen Verfassung waren mit wenig Ausnahmen resolute Antidemokraten mit liberalen Neigungen und daher ist in der Verfassungsurkunde nicht nur der Ausdruck „demokratisch" oder „Demokratie“ vermieden, sondern auch die Bezeichnung „Republik“ ist nirgends zu finden. Die Sklaverei wurde einstweilen beibehalten, das allgemeine Wahlrecht (der mündigen Männer) lediglich im Staate Vermont eingeführt. Später, nach 1828, tauchen „Demokraten“ lediglich als eine Partei in der amerikanischen Union auf. Auch die „Republikaner“ sind nur eine politische Partei.

Die Grundidee der amerikanischen Verfassung ist die einer gemischten Regierungsform, in der demokratische, aristokratische und monarchistische Elemente sich gegenseitig die Waage halten und dazu noch einer juridischen Kontrolle unterworfen sind. Das demokratische Element findet im Volksvertretungshaus (House of

Representatives) seinen sichtbaren Ausdruck. Hier herrscht auch das System pro- portioneller Vertretung und (relativer) Gleichheit. Vorbild war hier das britische House of Commons. Das House of Lords hat sein Gegenstück im Senat mit dem Unterschied, daß die Privilegien des Senats seit 178 praktisch unverändert blieben, während das britische Oberhaus. in seinen Befugnissen fortwährend eingedämmt wurde. Der Senat sollte eine Elite darstellen und ursprünglich wurden die Senatoren, zwei für jeden Staat, von den Vertretungen der Gliedstaaten delegiert. Heute aber werden sie von der Bevölkerung der Gliedstaaten direkt gewählt. Erstaunlicherweise hat Nevada mit seinen 90.000 Einwohnern genau so viele Senatoren (zwei) wie der Staat New York mit 11,000.000, wodurch das Prinzip staatsbürgerlicher Gleichheit völlig aufgehoben ist. Die Demokratisierung der Senatswahl hat dieses „Oberhaus" seines Elitecharakters zum großen Teil beraubt. In Sachen der Außenpolitik ist der Senat ungleich wichtiger als das Repräsentantenhaus. Beide Häuser formen jedoch eine gewisse Einheit und werden der Kongreß genannt.

Von Anfang an und auch heute noch wird der Präsident von sogenannten „Wahl- männem" (über 400 an der Zahl) gewählt. Diese „Electors" durften es sich einst überlegen, wen sie zum Präsidenten haben wollten, heute aber sind sie verpflichtet, ihre Stimme dem Mann zu geben, für den sie kandidierten. Doch ist es auch heute immer noch möglich, daß, eine Minderheit von Wählern eine Mehrlknt von Elektoren erkiest. So wurde zum Beispiel Präsident Wilson im Jahre 1916 von einer Minderheit von Wählern in Amt und Würden gebracht, denen er, wie Präsident Roosevelt, versprochen hatte, die Neutralität Amerikas zu erhalten.

Nur eine europäische Republik kopierte das amerikanische Prinzip der Volks wähl. Die Kopie war nicht photographisch genau, denn das Elektorenkollegium wurde nicht übernommen und eine strenge, vollkommen demokratische Proportionalität eingeführt. Dieses Land war das Deutsche Reich nach 1918. Der Vorschlag zu dieser Adoption des amerikanischen Systems kam von Max Weber. Dank dieser Einführung wurde Präsident Hindenburg gewählt, der im Deutschen Reichstag nie eine Mehrheit erhalten hätte.

Der amerikanische Präsident, einmal gewählt, ist aber nicht nur Staatsoberhaupt,

sondern auch Regierungsoberhaupt, das heißt Präsident und Ministerpräsident in einer Person. Eine Verfassungsmacht, die sich mit der des amerikanischen Präsidenten vergleichen läßt, gibt es in Europa nicht. Die Ausnahme bildet Hitler nach dem August 1934; als Hindenburg starb, wurde Hitler Reichskanzler und Reichspräsident, Regierungschef und Staatschef. Dieselbe Stellung hatte Mussolini nach der Errichtung der 1. italienischen Republik.

Der Präsident der Vereinigten Staaten ist deshalb bedeutend mächtiger als ein konstitutioneller Monarch des 20. Jahrhunderts. Seine Machtbefugnisse können nur mit denen des Königs von England im 18. Jahrhundert verglichen werden. Er ist auch oberster Kriegsherr, ernennt nicht nur das gesamte Kabinett, sondern auch die meisten Unionsrichter, die Diplomaten, die höheren Beamten und füllt auch die Sedis- vakanzen des Verfassungsgerichtshofes aus. Seit den Tagen Jacksons (1828), der das sogenannte Spoilssystem (Beutesystem) einführte, besetzt der neuerwählte Präsident tausende von niederen Stellen, wie etwa die Postmeisterstellen in der ganzen Union. Diese fallen natürlich nicht an Berufsbeamte, sondern an Leute (Männer oder Frauen), die sich um die Partei des Präsidenten verdient gemacht haben. Und was von den Postmeistern in kleinen Städten Arizonas und Nord-Dakotas gilt, gilt ebenso von den Ministern, den Gesandten und Botschaftern, die nur in den seltensten Fällen Berufsdiplomaten sind. Die Mehrzahl der Vertreter der Vereinigten Staaten sind Parteileute, die große Summen für Wahlkampagnen vorstreckten. (Anders ist es freilich mit den Berufsdiplomaten in den niederen Stellen, die auf Grund sehr strenger Prüfungen aufgenommen werden, doch nur in Ausnahmsfällen in die erste Rangsklasse aufrücken.)

Besonders wichtig ist es jedoch, sich daran zu erinnern, daß das Kabinett (und auch die Unterstaatssekretäre) vom Präsidenten ernannt werden und daß es eine Vertrauensfrage nach europäischem System in Amerika nicht gibt. Das Repräsentantenhaus wird alle zwei Jahre neu gewählt, der Präsident alle vier Jahre, ein Drittel des Senats alle zwei Jahre, so daß ein Senator eine sechsjährige Funktionsdauer hat. Es kann daher leicht Vorkommen, daß ein demokratischer Präsident einem stockrepublikanischen Kongreß gegenübersteht oder daß ein republikanischer Präsident von einem republikanischen Repräsentantenhaus unterstützt, jedoch von einem demokratischen Senat sabotiert wird. Der jetzige Kongreß zum Beispiel ist überwiegend republikanisch, aber der Präsident und sein Kabinett sind demokratisch. Gerade diese Zeiten, wenn Präsident und Kongreß zwei verschiedenen Parteien angehören, sind von größter politischer Unsicherheit.

Heute steht für Amerika die Frage der Außenpolitik im Vordergrund. Die beiden Parteien sind übereingekommen, diese Probleme im Geiste der nationalen Einheit zu lösen und sie nicht in den Streit einzubeziehen. Dieser „Pakt" datiert noch aus der Zeit der vorhergehenden Wahlen, die den Republikanern kn Kongreß in den Sattel halfen. Staatssekretär General Marshall ist kein demokratischer Parteigänger, sondern ein „Sachverständiger", ein „Beamter“ in einem Parteikabinett. Um aber die Koordination. m vervollständigen, ernannten die tn 'Kongreß herrschenden Republikaner einen „Berater“ in der Person John Foster Dulle , der ab führend - protestantischer Lai betrachtet werden kann. (Gegen seine Ernennung protestierten die Katholiken nicht. Kürzlich ist übrigens sein Sohn Katholik geworden und ins Jesuitennoviziat St. Andrew eingetreten.)

Es darf nicht vergessen werden, daß es in der republikanischen Partei einen stärkeren isolationistischen Flügel gibt ab in der demokratischen Partei und daß der ganze Marshall-Plan und die gesamte Außenpolitik Präsident Trumans nnd seines Kabinetts im Kongreß nicht unbedingte Unterstützung findet. Der Unterschied zwischen der Außenpolitik Bevins und der Marshalls Hegt schon darin, daß Bevin mit größter Autorität auftreten kann, denn die Partei- disztplin kn englischen Parlament ist bekannt streng und Bevin redet ja auch im Namen einer Mehrheitspartei, die in der nächsten Zukunft unmöglich gestürzt wer den kann. Neuwahlen in England sind noch nicht in Sicht.

Staatssekretär Marshall hingegen drückt in seinen Reden lediglich die Hoffnung aus, daß seine Vorschläge im Kongreß angenommen werden. Ein direktes Vorschlagsrecht hat die „Regierung" in Amerika überhaupt nicht und die Verfassung verbietet es überhaupt, daß ein Kabinettsmitglied zugleich juch Senator oder Mitglied des Repräsentantenhauses ist. Daher bewegt sich bei der strengen Trennung zwischen „Legislative“ und „Exekutive“ dte amerikanische Politik schwerfällig vorwärts und besonders bei einem scharfen Gegensatz zwischen „Regierung" und Kongreß stockt das Räderwerk und man muß sich oft auf Überraschungen gefaßt machen. Es ist zum Beispiel wohl recht unwahrscheinlich, daß der Kongreß gegen den Marshall-Plan stimmen würde, höchst unwahrscheinlich — aber es wäre nicht völlig undenkbar, und es liegt sogar im Bereich der Möglichkeit, daß er Streichungen durchführen würde.

Bei aller Macht des amerikanischen Präsidenten darf man nicht vergessen, daß sein Veto gegen mit Zweidrittelmehrheit gefaßte Beschlüsse der beiden Häuser machtlos ist, daß zu einer Kriegserklärung die Zustimmung beider Häuser erforderlich ist und daß Friedensschlüsse vom Senat begutachtet werden müssen. Amerika konnte trotz Wilsotu Anstrengungen den Vertrag von Versailles (einschließlich des darin enthaltenen Beitritts zum Völkerbund) nicht unterzeichnen, denn der damalige repubH- kanische Senat verwarf dieses Dokument Selbstverständlich sind auch alle Abmachungen Präsident Roosevelts, wie zum Beispiel die Verträge von Teheran, Yalta und Potsdam, null und nichtig, solange sie vom Senat nicht gutgeheißen werden. Nicht nur Westeuropa, sondern auch Rußland kann noch Überraschungen erleben, die alle dieselbe Ursache haben: die weitreichende Unkenntnis über die amerikanische Verfassung. Zu den erwähnten „Unsicherheitsmomenten“ kommt noch die Frage des Ausganges der im November 1948 statt- f findenden Wahlen, in denen der Präsident, das Repräsentantenhaus und ein Drittel der Senatoren gewählt werden. Ein weiteres problematisches Element ist die „Flügelbildung" in den Parteien. Isolationismus und Interventionismus, „rechts" und „links“ sind Begriffe, die bei beiden Parteien vertreten sind. Marshalls Idee hat Feinde und Freunde in beiden Lagern. Daher auch die Mannigfaltigkeit der „Kandidaten für die Präsidentschaftskandidatur".

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