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Die besiegten Sieger

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Der Regierungschef der ungarischen „revolutionären Arbeiter- und Bauernregierung“, Janos Kadar, ließ in der vergangenen Woche verkünden, daß in naher Zukunft freie und geheime Wahlen in Ungarn stattfinden würden. Er hätte nichts dagegen, wenn Imre Nagy, wie die Budapester Arbeiterräte es fordern, die Regierung wieder übernehmen würde, nur müßte dieser zuerst das Gesandtschaftsgebäude einer ausländischen Macht in Budapest verlassen, dann erst könne man mit ihm verhandeln. Auch werde man alle Parteien wieder zulassen, wenn diese nur versprechen, daß sie den Sozialismus als leitende Idee des Staates anerkennen. Die bestehenden Handelsverträge mit der Sowjetunion würden veröffentlicht. Die Sowjetunion hätte versprochen, keine Deportationen von aufständischen Arbeitern und Jugendlichen durchzuführen. Auch über den Abzug der sowjetischen Truppen ließe sich verhandeln, wenrr zuerst die Ruhe und Ordnung wiederhergestellt werden würde. Alles wäre bald gut, wenn nur die Arbeiter die Arbeit wieder aufnähmen.

Die ganze Welt ist Zeuge dieses ergreifenden, erschütternden Schauspiels: Die Fabrikarbeiter, Bergarbeiter, Eisenbahner, Kraftfahrer eines Neunmillionenlandes, sie selbst an die zwei Millionen an der Zahl, streiken. Sie gehen auf den Straßen auf und ab, stellen sich an das Ende der langen Menschenkolonnen, die vor den halb heruntergezogenen Rollbalken der Lebensmittelgeschäfte tagaus, tagein auf die neae>i lAnlieferung wartenr-'-Sie stehen1 in“ den Fabrikhö*en und -ballert herum, diskutieren, mättcliiwal1 halten isie Versammlungen- ab.' Sie schicken Deputationen än die Regierung, welche dieser die letzten Forderungen der Arbeiterschaft überbringen sollen. Die Verhandlungen über diese Forderungen dauern tagelang. Am Ende stimmt die Regierung fast allen im Prinzip zu. An der Lage ändern diese Zusicherungen kaum etwas, denn niemand will den Verlautbarungen der Regierung Glauben schenken. Und der Streik geht weiter.

Mit seinen letzten Zugeständnissen hält die Regierung Kadar ungefähr dort, wo die Regierung Nagy vor dem Einströmen der sowjetischen Truppen nach Llngarn, Anfang November, gestanden war. Heute sagt man in Budapest, Imre Nagy wäre es damals gelungen, die Einheit der Nation wiederherzustellen, hätten die russischen Panzerkolonnen ihn nicht an der Durchführung seines Programms gehindert. Heute beschwören Kadar und die Mitglieder seiner Regierung die „Werktätigen“, die Verwirklichung eines so verheißungsvollen Regierungsprogram-mes nicht zu verhindern. Kadar erklärte,; er rechne damit, daß aus den Wahlen die Kommunisten als „eine Splitterpartei“ hervorgehen würden. Reisende aus Budapest berichten, daß die neugegründete Kommunistische Partei, die den Namen „Sozialistische Arbeiterpartei“ trägt, so gut wie keine Mitglieder hat. Niemanden gibt es, der nach den Ereignissen der letzten Wochen noch Lust hätte, sich einer Partei, welche von der Bevölkerung so einmütig abgelehnt und verurteilt worden war, zu verschreiben.

Diese Vertrauenskrise in Ungarn allem gegenüber, was mit dem kommunistischen Regime etwas zu tun hat, ist selbstverständlich nicht neu. Die Schuld dafür trifft die bisherigen kommunistischen Führer und die Regierungen, welche die Meinung des Volkes so sehr verachteten, daß es ihnen gleichgültig war. wenn zwischen ihren Worten, ihren Propagandareden und den harten Tatsachen der Wirklichkeit ein unüberbrückbarer Gegensatz bestand. Die Bauern hatten in diesem Herbst trotz damals noch gültigen rigorosen Ablieferungsverpflichtungen so wenig abgeliefert, daß nach Schätzungen informierter Kreise Ungarn nur noch bis Ende dieses Kalenderjahres mit seinen Lebensmittelvorräten das Auskommen finden wird. Nach der unerhörten Kraftanstrengung, nach den rasch aufeinanderfolgenden Gefühlsaufwallunsren der Revolutionstage zwischen Hoffnung. Freudentaumel und Verzweiflung versank das ungarische Volk in Lethargie, aus der es nicht leicht erweckt werden können wird. Nach Zeugnis derselben Kreise sei die Erbitterung gegen die Mächte, in Ost und West in Ungarn groß, obwohl man von den Russen „niemals etwas Gutes“ erwartet hätte. Um so mehr aber vom Westen! Nun hätten die westlichen Propagandasender, allen voran der Sender Free Europe, seit Jahren, so sagen sie, zum Widerstand gegen das System aufgerufen. Als sie nun am Wort genommen wurden, flüchteten sie in allgemeine Tiraden über Heldenmut und moralischen 5ieg ...

Nach Berichten informierter Kreise aus Ungarn erwartet man dort „für nachher“ von einer kräftigeren wirtschaftlichen Hilfe des Westens nicht viel. Man weist auf das Beispiel Jugoslawiens hin. Dieser Staat sei trotz massiver wirtschaftlicher Unterstützung, die es von Amerika erhalten hat, wirtschaftlich noch keineswegs über dem Berg. Da die kleineren und größeren Wirtschaftsführer, die in dem letzten Jahrzehnt Ungarn wirtschaftlich nicht so weit konsolidieren konnten, daß dies eine merkbare Hebung des Lebensstandards der Bevölkerung mit sich gebracht hätte, voraussichtlich im allgemeinen weiterhin auf ihren Plätzen bleiben, sei mit einer Besserung in wirtschaftlicher Hinsicht kaum zu rechnen.

Nach zahlreichen übereinstimmenden Berichten verdächtigen viele Ungarn die westlichen Regierungen der Gewinnsucht und des moralischen Nihilismus und behaupten, niemals hätten die Sowjets am 4. November in Llngarn so rücksichtslos durchgegriffen, hätten sie nicht das Vorgehen der Briten und Franzosen in Aegypten als Beispiel und als moralisch entlastendes Moment vor sieh gehabt. Kaum einer versucht es schließlich, sich in die politischen Vorstellungen und Nöte der Amerikaner hineinzuversetzen. In diesen Wochen hat der Westen in den Herzen der Ungarn eine Schlacht verloren. Wer hat sie aber gewonnen? Die russischen Soldaten in Budapest und die zahlreichen russischen Ratgeber, die während der Revolution aus ihren Budapester Wohnungen kurzerhand hinausgeworfen wurden, bestimmt nicht.

' pa die Studenten, die auf den Barrikaden kämpften, und die russischen Panzer stürmten, überwiegendi-Arbeiter* und zu einem * ansehnlichen Teil auxh Bauernsöhne waren — junge Leute aus der bürgerlichen Klasse durften bis vor kurzem nicht auf Hochschulen inskribieren —, sind die eigentlichen Träger des Russenhasses diesmal nicht etwa „ehemalige Horthy-Offiziere“, sondern jene Arbeiter und Arbeiterfrauen, deren Söhne mit russischen Panzerkanonen beschossen wurden. Dieser immense Haß sei auf den Budapester Straßen spürbar vorhanden und sei von den verschreckten, verkrampften Gesichtern der russischen Fahrer und Wachposten deutlich abzulesen. Viele von diesen Burschen erlitten einen Schock, als sie merkten daß sie nicht gegen „imperialistische Eindringlinge“, sondern gegen die Sohne und Töchter von Fabrikarbeitern in deren Heimat eingesetzt wurden.

Rußland selbst sei sehr arm, und es muß so vielen armen Ländern in Osteuropa und in Asien unter die Arme greifen, es kann Ungarn unmöglich besser helfen als den eigenen Völkern selbst. Diese Worte stammelte ein sowjetischer „Ratgeber“, dem man in einer Budapester Wohnung ohne Worte die Tür gewiesen hat. Wie auch die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Ungarn sich in der Zukunft gestalten werden, über die Erfahrungen der letzten Wochen werden sich weder Russen noch Ungarn so bald hinwegsetzen können.

Noch ein Bild sei zitiert. Ungarn schickte Vertreter des Ungarischen Roten Kreuzes nach Wien, und zwar ausnahmslos nur beste Fachleute, unter ihnen international bekannte Mediziner. Nach der Pressekonferenz des Roten Kreuzes in Wien bezeichneten mehrere Journalisten diese Delegierten aus Budapest als „dunkle Existenzen“, denen „nicht zu trauen“ sei. Einer dieser ungarischen Abgesandten konnte die „eisige Atmosphäre der Furcht und des Mißtrauens“ nicht mehr länger ertragen und blieb, wie er sich vor seinen Verwandten in Wien äußerte, den weiteren Veranstaltungen aus diesem 'Grunde fern. Die Liste dieser Berichte ließe sich noch lange fortsetzen. • -Die militärisch besiegte, aber im Geistigen und Moralischen durchaus und nicht zuletzt auch aus diesem Grund als Siegerin anzusehende ungarische Revolution — wozu sich noch die politischen Aspekte dieses Aufstandes gesellen, die ebenfalls ein Fortdauern der Errungenschaften und Erkenntnisse dieser Budapester Wochen vorausahnen lassen —, diese große Revolution des 20. Jahrhunderts (wenn man ihre Zeichen nur richtig zu lesen versteht) droht im Schmutz und Schlamm des Mißtrauens und des Hasses zu ersticken, wenn nicht im letzten Moment noch ein Wunder geschieht. Dieses Wunder geschieht heute schon täglich um uns und in uns, in Form der vielen Autokonvois und Waggonladungen aus bisher 37 an der Internationalen Rotkreuzaktion für Ungarn beteiligten europäischen und außereuropäischen Ländern. 500 Tonnen Sachspenden lagern abholbereit in diesen Tagen allein in Wien! Der Schwerpunkt des Angriffs zum Abbau des Mißtrauens und des Hasses müßte jedoch im Politischen liegen. Dazu wäre zuallererst eine radikale Absage an alle politischen Klischees und gedankenlos nachgeplapperten Vorurteile sowie an eine Gesinnung, Menschen wie Schachfiguren auf dem Brett einer höheren Politik zu behandeln und sich über ihre Nöte und Wünsche hinwegzusetzen, unbedingt notwendig. Es geht nicht an, daß etwa der so kluge und manches richtig sehende und beim Namen nennende jugoslawische Staatschef Marschall Tito in einem Atemzug die Revolution in Ungarn zwar als eine legitime und durchaus berechtigte „Er< hebung des ganzen Volkes gegen den Sozialismus und die Sowjetunion“ erkennt, den zweiten Eingriff der Sowjettruppen in Ungarn aber zwar für einen ..Fehler“, aber doch für eine ,,Notwendigkeit“ hält, weil dadurch „der Sozialismus gerettet werden kann“, obwohl er in derselben Rede sagt, in der Sowjetunion herrsche noch immer die irrige Ansicht, wonach „die bewaffnete Kraft alles“ sei. Diese Rede Marschall Titos, die. er vor Funktionären seiner Partei in Istrien am IT. November gehalten hat, wurde fast eine Woche später im Radio Budapest täglich' mehrmals im Wortlaut vorgelesen. Es ist undenkbar, daß die inneren Widersprüche dieser Ausführungen das bestehende Mißtrauen in Ungarn auch einer sogenannten „titoistischen Lösung“ gegenüber abbauen helfen können. Der Hebel müßte tiefer angesetzt werden.

Der jugoslawische Marschall kam auch noch auf die Spannungen zu sprechen, die im Kreml selbst zwischen Befürwortern des ..stalinistischen Standpunktes“ und der übrigen, reformwilligen Kräfte bestünden. Er führte aus, es sei noch immer möglich, daß in diesem Wettstreit schließlich die ersteren, die Stalinisten, oben bleiben. Er gab aber zu bedenken, ,,w i e stark doch ein Volk ist, das mit bloßen Händen für seine Unabhängigkeit kämpft ... Die Sowjetunion befindet sich in einer schweren Lage. Ihre Führer sehen jetzt, daß die sowjetischen Truppen in Ungarn gegen die Arbeiter, gegen eine ganze Nation kämpfen“. Er könne in dieser Situation nur eines sagen: Mache doch die Sowjetunion die begangenen schweren Fehler wieder gut! Dann werden das viele Blut und die großen Opfer des ungarischen Volkes eine positive Wirkung haben. Denn „den Sozialismus traf hier ein gewaltiger Schlag, er wurde vor der ganzen Welt kompromittiert . . .“.

Es ist bemerkenswert, wie sehr die ersten Worte, mit denen der jugoslawische oppositionelle Kommunist Milovan Djilas die Vorgänge in Ungarn in der amerikanischen Zeitschrift „The Leader“ kommentierte, mit denen des Marschalls- Tito übereinstimmen. Djilas geht aber in seinen Schlußfolgerungen wesentlich weiter:'

„Die Wunde, die der ungarische Aufstand dem Kommunismus geschlagen hat, kann niemals wieder heilen.“ -Die Ereignisse in Ungarn stellten ein „neues Phänomen“ dar, „das vielleicht nicht weniger Bedeutung hat als die Französische oder, die Russische Revolution“. Dic;e Prophezeiung des Jugoslawen Djilas könnte zur Wirklichkeit werden und das Neue, das in Ungarn zuerst in geistiger Anstrengung der Initiatoren des 23. Oktober, dann aber in viel Blut und bei großem Opfermut geboren wurde, könnte Bestand haben und sich bei Bemühen aller Beteiligten in täglicher Klein-prbeit entfalten, wenn man nur vor dem mutigen Ectreten neuer Wege der politischen, sozialen i:nd geistigen Erkenntnis nicht zurückschrickt.

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