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Die Botschaft vom roten Frieden

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Drei Wochen vor der Weihnacht 1960 haben die zum Moskauer Konzil versammelten „Vertreter der kommunistischen und Arbeiterparteien aus fünf Erdteilen“ einen Appell an die Völker der Welt gerichtet. In großen, roten Lettern leuchten seine Titel im kommunistischen Zentralorgan: „Arbeiter, Bauern, Geistesschaffende! Menschen guten Willens in der ganzen Welt.“ „Menschen guten Willens“: wer erinnert sich da nicht der christlichen Weihnachtsbotschaft an die Menschen, die guten Willens sind.. .7

Bevor wir uns mit dieser Botschaft des roten Friedens näher auseinandersetzen, müssen wir festhalten: eben diese Botschaft ist ein zweiter Teil, der nur mit der ihm vorangehenden Kundmachung einige Tage zuvor, mit dem Abschlußkommunique der dreiwöchigen Moskauer Tagung, zu lesen und zu verstehen ist. Der Revers, die Rückseite der Münze, die da als Friedenswährung der einen Welt angeboten wird, ist mit dem Avers, mit der Vorderseite, zu vergleichen. Wobei die Bemühung der Hauptarrangeure beider Erklärungen an die Adresse der Weltöffentlichkeit eben die ist, die Rückseite als Vorderseite auszugeben; die zweite Erklärung soll die erste überblenden. In dieser ist nämlich trotz großer Bemühungen deutlich sichtbar geworden: innerhalb des heutigen Weltkommunismus stehen sich zwei große Pole und Lager gegenüber, Moskau und Peking. Satz für Satz läßt sich in der Klitterung dieser Texte nachweisen, wo der eine und wo der andere Pol vorstößt und seine Ansicht durchsetzt. Gewiß, beide wollen ein letztes gemeinsames Endziel: den Sieg des Kommunismus auf der ganzen Erde. Die Methodenftage ist aber von allerhöchster Bedeutung. Da Bewegungen von weltgeschichtlicher Bedeutung sich nur mit anderen Bewegungen von weltgeschichtlicher Bedeutung vergleichen lassen, ist der Hinweis erlaubt: auch die sich jahrhundertelang blutig, in heißem und kaltem Krieg befehdenden christlichen Konfessionen des konfessionellen Zeitalters, Calvinismus, Katholizismus und Luthertum, kämpften für das „Reich Gottes“: wie dieses aber zu erreichen sei, über die Weee und Methoden, ging man sehr aufeinander und griff mehr als einmal zum Schwert des Glaubens und zur Waffe.

Die großen, in Moskau wieder einmal aufgebrochenen Gegensätze zwischen chinesischen und russischen Kommunisten haben zunächst einmal dazu geführt, daß beide sich in gemeinsamer Reaktion fanden zunächst gegen Abweichler und Sektierer des Kommunismus, so vor allem gegen Jugoslawien. Scharf und genau haben die Kommunisten in Belgrad dies beobachtet und in ihrer Polemik mit Peking aufgegriffen. Derselbe tiefe innere Gegensatz soll aber nun noch stärker überdeckt und überdacht werden durch eine gemeinsame Offensive nach außen. Die nichtkommunistische Welt steht heute .-.nicht zuletzt deshalb vor einer neuen Offensive des Kommunismus, weil die einander mißtrauisch und zum Teil spinnefeind, gegenüberstehenden russisch-roten und chinesischroten Erzhäupter die Gemeinsamkeit nur durch gemeinsame Aktionen und Proklamationen retten zu können meinen. Diese ihre Hucht nach vorne kann sehr verschiedene Formen annehmen.

„Das sozialistische Weltsystem ist in eine neue Etappe seiner Entwicklung eingetreten. Die Sowjetunion verwirklicht erfolgreich den umfassenden Aufbau der kommunistischen Gesellschaft. Die anderen Länder des sozialistischen

Lagers legen erfolgreich das Fundament des Sozialismus; einige von ihnen sind bereits in die Periode des Aufbaus der entwickelten sozialistischen Gesellschaft eingetreten.“ Wer in diese in fetten, schwarzen Lettern gedruckten Sätze der ersten Moskauer Erklärung hineinsieht, bemerkt unschwer, wie schwierig es für dieses nach außen hin sich geschlossen gebende System ist, den Gleichschritt im Aufbau des Kommunismiis in den einzelnen Ländern und Völkern sicherzustellen. Um weltgeschichtlich in allen Kontinenten auf Gleichschritt zu kommen, wird im zweiten Teil, im „Appell an die Völker der Welt“, die Vision des roten Friedens der Welt vorgestellt.

Diese Vision, diese Verkündigung des roten Friedens, pendelt wieder um zwei Pole: Verheißung und Schrecken. Der große Friede wird verheißen allen „Menschen guten Willens in der ganzen Welt“: „Wir Vertreter der kommunistischen und Arbeiterparteien appellieren an die Männer, Frauen und Jugendlichen, an die Angehörigen aller Berufe und Gesellschaftsschich-ten, an alle Menschen, unabhängig von ihrer politischen Überzeugung und ihrem Glaubensbekenntnis, unabhängig von ihrer Nationalität und Hautfarbe, an alle, die ihre Heimat lieben und den Krieg hassen: Fordert das unverzügliche Verbot der Versuche mit Kernwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen sowie ihres Einsatzes und ihrer Produktion. Fordert den unverzüglichen Abschluß eines Vertrags über allgemeine, vollständige und kontrollierte Abrüstung.“

Emphatisch, prophetisch, mit der Überzeugung von Glaubenskämpfern, die in einen heiligen Krieg für ihren Frieden ziehen, wird in diesem Appell mehrfach versichert, daß es hier um eine heilige Sache geht. „Wir Kommunisten halten es für unsere heilige Pflicht, alles zu tun, was in unseren Kräften steht, um die Menschheit vor den Schrecken eines modernen Krieges zu bewahren.“ Untrennbar mit dieser Verheißung ist aber der Schrecken, die Drohung verbunden. So wie einst ,Sultane und andere Führer des Dschihad, des heiligen Krieges des Islams, allen „Ungläubigen“ Krieg in Permanenz androhten und mit jenen rechtlich nur Waffenstillstände schlössen, genau so wird hier ein langes sakrales Scheltregister aufgestellt, das alle jene Bösen auf Erden nennt, die sich den Segnungen des roten Friedens verwehren. Zu diesen Bösen gehören „die herrschenden Kreise der Vereinigten Staaten von Amerika, Japans, Pakistans, Südkoreas, die holländischen, belgischen, portugiesischen Kolonisatoren“, last, not least „die westdeutschen Militaristen und Revanchisten“. Allen diesen wird feierlich erklärt: „Des Kolonialismus letzte Stunde schlägt!“

Am Ton und Inhalt dieser Botschaft des roten Friedens ist dies so bedeutsam: Hier sucht Moskau, der Kreml, den Anschluß an die heiße Sprache des östlichen und außereuropäischen Messianismus und an die Sprache seiner eigenen Frühzeit. Offensichtlich haben die Russen Sorge, vom chinesischen und südamerikanischen Radikalismus übertrumpft, überschrien, überstimmt zu werden. Der Moskauer Dezemberappell an die Völker der Welt spricht die Sprache des frühkommunistischen russischen und des heutigen asiatischen und außereuropäischen Messianismus. Aus der Not innerer Zwiste und Spannungen soll eine große Tugend gemacht werden: man möchte die großen Heilshoffnungen, von denen erfüllt die Jungkommunisten 1P17 bis 1920 in den Bürgerkrieg ritten in den Weiten des zerfetzten russischen Reiches, wiedergewinnen und dergestalt den Anschluß gewinnen an die Dynamik, die Hitze und die Heilshoffnungen der „erwachenden“ Völker in Asien, Afrika, Südamerika.

Im „Appell an die Völker der Welt“ steht in roten Lettern der Satz: „Der Sozialismus braucht keinen Krieg.“ In der „Erklärung der Beratung von Vertretern der kommunistischen und Arbeiterparteien“ steht in schwarzen Lettern: „Der volle Zusammenbruch des Kolonialismus ist unabwendbar. Der Zerfall des Systems der Kolonialsklaverei unter dem Ansturm der nationalen Befreiungsbewegung ist seiner historischen Bedeutung nach die wichtigste Erscheinung nach der Entstehung des sozialistischen Weltsystems.“ Beachten wir sorgsam diese beiden Sätze im Zusammenhang. Um sie recht zu würdigen, ist eine Erinnerung gut. Der Weltkommunismus ist, so reich er sich in aggressiven Parolen und gelegentlichen Freundlichkeiten an die Adresse von Gegnern und Partern erzeigt, sehr sparsam, ja ängstlich knapp im Ausdruck dort, wo es darum geht, in den fixstehenden Heilsplan Neuerungen aufzunehmen. Lenin und lange Zeit noch Stalin haben den Völkern Afrikas, Südamerikas und Asiens trotz aller Kominform-tätigkeiten keine, dann erst lange Zeit nur eine geringe Aufmerksamkeit gewidmet. Eine große Ausnahme bildete China. Der Kampf um den Endsieg schien in Deutschland, im Ringen um Deutschland und Westeuropa zur Entscheidung zu kommen. Die Anerkennung der heilsgeschichtlichen Bedeutung der „Befreiungskämpfe“ dieser außereuropäischen Völker verdient unsere höchste Aufmerksamkeit. Mit ihrer Hilfe will man die Welt gewinnen.

Die Herausforderung an die nichtkommunistische Welt, die in beiden Moskauer Erklärungen enthalten ist, ist so groß, daß ihr mit Phrasen oder kurzatmigen Abwehrreaktionen in ieiner Weise zu begegnen ist. Begegnen kann ihr von unserer Seite her, im Bewußtsein der Verpflichtung, die uns Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auferlegen — wir vermeiden bewußt das Attribut „heilig“, nachdem es soeben die Genossen des roten Friedens auf ihre Bemühungen bezogen haben —, schlicht nur eben dies: eine unkündbare Allianz von Glaube und Vernunft. Eines Glaubens also, der sich nicht in falsche Ängste und falsche Hoffnungen einwiegt, und einer Vernunft, die der ungeheuren Möglichkeiten. Potenzen und Chancen gewahr wird, die einzelne und Völker in ihrem Schoß erschließen können, wenn sie sehr große Herausforderungen sehen und annehmen. \

Die Vereinigten Staaten sind, unter neuer Führung, entschlossen, in diesem Sinne die klügsten, nüchternsten und erfahrensten Köpfe ihres Landes an die erste Front der Auseinandersetzungen in UNO und Außenamt, in Afrika und Asien zu schicken. Es ist hoch an der Zeit, daß wir hier in Europa, und nicht zuletzt in Österreich, auf unsere Weise und mit unseren Mitteln alle unsere guten Kräfte mobil machen: für die Auseinandersetzungen, die uns allen, mitgejten. Der destruktive Sinn unserer „reinen“ Konsumkultur und unserer Politik des Von-der-Hand-in-den-Mund-Wirt-schaftens, unseres ungesunden Autoritarismus und Cliquenwesens wird überhell beleuchtet durch die Moskauer Blinklichter dieses Weltadvents.

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