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Die deutsche Gefahr

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Das Echo auf die Berner Rede des früheren Kölner Oberbürgermeisters und jetzigen Präsidenten des westdeutschen Vorparlaments ist das Symptom einer Geisterscheide angesichts des deutschen Problems. Die Antworten auf die bitteren Wahrheiten, mit denen der alte rheinische Volksmann vo, die Weltöffentlichkeit trat, sind seitens jener, die sie angingen, auch dann nicht freundlicher geworden, als Dr. Adenauer Entstellungen seiner Rede berichtigte. Denn nicht berichtigen konnte er sein Argument für die These, daß die Alliierten mit dem Entzug der deutschen Souveränität auch die Pflicht der realen Obsorge für Deutschland übernommen haben und damit für den gegenwärtigen desolaten Zustand wesentlich mitverantwortlich seien. Nicht einmal ein Besetzungsstatut hat man nach jetzt bald vier Jahren etabliert, und von den übrigen Londoner Empfehlungen, die nun auch schon über ein Jahr alt sind, neben dem Ruhrabkommen nur die Wohnungsreform mit ihren guten und bösen Folgen ausgeführt.

Vielleicht hat Dr. Adenauer ein psychologisches Versehen begangen. Die Welt betrachtet ihn und die wenigen anderen Namen, die aus der deutschen Nachkriegsquarantäne bekanntgeworden sind, als Vertreter des besiegten Hitler-Deutschland. Das tun auch jene, welche das Wort von der Kollektivschuld vermeiden, nachdem sie schon früher die diabolische Gleichsetzung von Kerkermeister und Gefangener, von Naziregime und deutschem Volk, abgelehnt hatten. Dessenungeachtet sind die deutschen Politiker für sie die Repräsentation des historisch-politischen Zustandes, wie er nun nach zwölf Jahren Hitler-Diktatur und vier Jahren Occupatio bellica für Deutschland faktisch besteht. — Nun aber haben die Sprecher des heutigen Deutschland das letzte halbe Menschenalter meist in der Emigration, im KZ oder in einer ausgesprochenen Abseitsstellung verbracht. Sie haben dort, soweit sie nicht resignierten, still auf ihre Stunde gewartet. Jedenfalls haben sie der Usurpation nicht die Hand gereicht, wie das andere taten, Alliierte wie Neutrale. Weder zur nationalen noch zur internationalen Kollaboration haben sie gehört. Seit 1945/1946 aus der Versenkung emporgestiegen oder aus der Emigration zurückgekehrt, haben diese Adenauer, Kaiser, Schumacher, Högner, Ehardt usf. die zwölf Jahre Hitler-Herrschaft, die sie nu- aus der Opposition kannten, weggestrichen und das deutsche Leben wieder an die Zeit vor der großen Zäsur, an die Zeit der deutschen Republik, die 1933 versank, angeknüpft. Diese deutschen Demokraten, ob Konservative, Liberale oder Sozialisten, denken, sprechen und handeln aus dem deutschen Staatsbewußtsein, wie es v o r 1933 trotz der anschwellenden radikalen Woge im Gefolge der Arbeitslosigkeit wirklich obgewaltet hat. Die Parteien der Weimarer Koalition waren besonnene, arbeitsame, friedliebende, vielleicht etwas schwunglose Repräsentanten eines geordneten, industriestarken, handelstüchtigen, reinlichen und gebildeten Volkes, das sich von den Verlusten der Jahre 1918 und 1923 rasch erholt und zu einem wohlgeachteten Partner des europäischen Güter- und Geistesaustausches emporgearbeitet hatte. Das deutsch-französische Verhältnis, der politische Seismograph Europas, war selten so ausgeglichen, ja hoffnungsvoll, wie Anfang der dreißiger Jahre. Die Maginotlinie erschien allmählich wie ein kostspieliges Petrefakt. Auch die übrige Welt tat mit. Brünings Junktim von budgetärer Sanierung und außenpolitischer Revision wurde akzeptiert, die Reparationen wurden gestrichen. Die angelsächsische Welt bewunderte ihn förmlich, da er den Mut zu einer zweijährigen, nur dem Gemeinwohl verpflichteten und auf eine konstruktive Zusammenarbeit mit London ausgerichteten, unpopulären Politik hatte, was noch kein Nadikriegskabinett, weder an der Themse noch an der Seine, fertiggebracht hatte. Diese Brüning und Braun und Severing und Stegerwald und Adenauer und Wirth waren wirkliche Köpfe, deutsche und europäische Mandatare. Hätte man ihnen doch eine größere Chance gegeben! Sie sahen weiter, so wie es etwa heute Schuman, der französische Außenminister, tat, der aus ähnlichem Holz geschnitzt ist. Sie hatten ein Konzept, das einzige seit Locarno in Europa. Leider zerschlug man es. Der wirklich große Versuch, England ins europäische Konzert endlich führend hineinzubekommen, scheiterte. Die Zollunion des Empire von Ottawa (1932) schlug die Tür zu; der Versuch, das Problem der kontinentalen Arbeitslosigkeit in einem europäischen Rahmen zu lösen, zerschellte. Und knapp ein Jahr später marschierten die braunen Bataillone. Kann man sich da wundem, daß solche Männer, denen man 1933 das Heft aus der Hand nahm, und zwar nicht bloß von innen, sondern auch von außen, nunmehr nach dem großen, von ihnen rechtzeitig vorhergesehenen und einsam eingedämmten Sturm, ein etwas tieferes, vom Leid ihrer bitteren Erfahrungen geprägtes politisches Ethos bekunden als geschäftige und smarte Funktionäre der Programm- und Hilflosigkeit? Daß sie zum zweitenmal den Kassandraruf erheben? Ehe es wieder zu spät ist. A stitch in time saves nine! Wenn sich doch die Berufenen an solhe kluge Sprichwörter hielten!

Die Lage ist nämlich nicht erst brenzlich, seitdem auch einzelne westdeutsche Politiker sich mit Emissären aus dem Osten unterhalten oder hie und da ein Publizist sich dessen erinnert, daß beispielsweise Talleyrand als großer Patriot in seinem Volk geachtet ist. Wichtiger als solche Anzeichen, daß die politische Phantasie in einem ermüdeten Volk doch nicht ganz erstirbt, ist ein Blick auf die zugrunde liegende Situation;

Nach dem ersten Weltkrieg schrieb Franz Herwig seinen Roman „Die Eingeengten“. Die Lebensenge des in Mietskasernen wohnenden, in Fabriken arbeitenden und in überfüllten Verkehrsmitteln dahinsausenden modernen Städters, dem vor allem die Weite des inneren Menschen verlustiggegangen ist. war darin geschildert. Und doch, wie idyllisch mutet solches im Angesicht der politischen Despotie und des sozialen Chaos von heute und gestern an! Die Elendsprognosen eines Karl Marx sind überholt. Totalität, Kollektiv und Krieg haben einen Tiefpunkt der proletarischen Situation in Deutschland hervorgerufen, wie wir ihn bislang vergleichsweise nur bei Hungerkatastrophen in China oder bei der Ausrottung von Kolonialvölkern kannten. Die weiße Rasse dezimiert sich in ihren historischen Kernländern mit fortschreitender Rasanz. Ės scheint, als ob man die großartige Ausbreitung der europäischen Zivilisation der letzten Jahrhunderte nun binnen einem Menschenalter durch eine Auskratzung des ‘ abendländischen Mütterschoßes endlich zum Stillstand bringen wollte. Die Vernichtungskraft der modernen Waffen auf dichtbesiedeltem Raum und die Unerbittlichkeit des totalen Einsatzes verbanden sich mit dem Fanatismus der Glaubenskriege und dem Nihilismus der moralfreien Diktatoren. Der erste Weltkrieg kostete rund dreieinhalb Millionen Menschen das Leben, der spanische Bürgerkrieg mordete zwei Millionen Menschen; beim zweiten Weltkrieg zählt man bis jetzt über dreizehn Millionen Tote. Das kleine Österreich betrauert allein 600.000 Menschenverluste.

Die Todeskurve geht weiter. Starben früher neben den Kombattanten meist ebenso viele Menschen an den Seudien im Gefolge der Kriegshandlungen, so wütet heute die kalte Fortsetzung des nationalistischen oder imperialistischen Vernichtungswillens in Form von Evakuierungen, Deportationen, Säuberungen, Konzentrationslagern… Der demagogische Zynismus drapiert solche summarischen Vorgänge als Umsiedlung, Rückführung, Umerziehung. Wie überhaupt die Heuchelei die sozialethische Belastung unseres demokratischen Heute gegenüber der brutalen Tyrannei von gestern ausmacht. Gustav Stolper hat kurz vor seinem Tod (1948) in den USA ein Buch veröffentlicht, welches nachweist, daß das deutsche Volk in einem Menschenalter nur noch 40 Millionen Köpfe zählen wird. Ist es da wirklich schwer zu verstehen oder uneuropäisch, wenn der 72jährige Adenauer darauf rekurriert? Der Menschenbedarf der Neuen Welt wird späterhin auf das deutsche Volk nicht mehr zurückgreifen können.

Warum diese Vorhalte? — Weil das Unvermögen der Mächte, dem Nachkriegschaos politisch und wirtschaftlich zu steuern, auf die Dauer zum Untergang der europäischen Mitte führt. Deutschland war ein Industriestaat, und zwar neben England der bedeutendste in der Alten Welt. Das deutsche Volk lebte seit den sechziger Jahren immer mehr von Gewerbe, Industrie und Handel. Davon existierten rund 50 Millionen Menschen, und nur 20 Millionen fanden ihr Auskommen in der Landwirtschaft. Die letztere Ziffer sinkt im heutigen Rumpfdeutschland auf sechzehn Millionen bei optimaler Rechnung (Aufteilung auch der mittleren Bauernwirtschaften, Doppelbesetzung der Höfe, Landarbeitersiedlung usw.). Das ist zum Beispiel die Meinung des altangesehenen Nationalökonomen A. Weber. Was geschieht nun mit dem übrigen Teil, das heißt mit dem Großteil des deutschen Volkes? Der Entscheid über die deutsche Industrie wird zum Urteil auf Leben oder Tod für die auch heute noch zahlenmäßig größte europäische Nation! Man sollte sich doch wohl darüber Rechenschaft geben, ob es so ganz riskenlos ist, Millionen Menschen das Reststück Existenz fortzunehmen, das der Krieg ihnen hoch belassen hat.

Selbst Hitler, der das deutsche Volk in seinen eigenen Untergang hineinzureißen unternahm, leider mit schrecklichem Erfolg, bebte vor der Vernichtung der deutschen Existenz zurück, er ließ sich . jedenfalls die Rücknahme des Zerstörungsbefehls gegen die deutschen Industrieanlagen in einer lichten Minute abringen. Mögen seine Nachfolger mit ihren Demontagelisten sich nicht von ihm beschämen lassen. Roosevelt ist tot, und Morgenthau ist nicht mehr Leiter der amerikanischen Handelspolitik. Möge es den neuen Männern noch rechtzeitig gelingen, die Kehrtwendung in der Außenpolitik auch bis zur letzten Verwaltungsstelle in den besetzten Gebieten zu vollziehen. Wird das Übereinkommen der Militärgouverneure Englands und der USA, das der deutschen Wirtschaft neues Leben einzuflößen verspricht, die Zustimmung der entscheidenden Stellen erhalten? Darf man die Freigabe der Sperrkonten, die das Amerikanische Amt für Auslandshilfe in Deutschland zugunsten von langfristigen Investitionen ansagte, als erstes Anzeichen dafür nehmen? Aber der Dollar allein tut es nicht. Und viel Zeit besteht nicht mehr.

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