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Die dritte Probe

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Die weißen Wölkchen des Granatfeuers betupften nicht mehr den blauen Frühlingshimmel. Der Gegenstoß der am linken Donauufer gegen Nordwesten abziehenden SS-Divisionen war abgewehrt. Für einige Stunden hatte eine kritische Lage gedroht, lieber die abschließenden Kampfhandlungen um Wien hatte der Sprecher des Moskauer Rundfunks am 13. April in die Welt hinausgerufen:

„Die Bevölkerung Wiens und anderer Teile Oesterreichs hat der Roten Armee Unterstützung gewährt und die Deutschen daran gehindert, die Kämpfe zum Stehen zu bringen. Indem sie bei der Befreiung der Stadt also mitgeholfen haben, haben sie sich das große Verdienst erworben, kulturelle Denkmäler sowie lebenswichtige Einrichtungen gerettet zu haben: was aber wohl das Bedeutendste ist, sie haben die Eh red er österreichischen Nation gerettet.“

14 Tage später — am 27. April — proklamierte in feierlicher Kundgebung die provisorische österreichische Staatsvertretung „die Wiederherstellung der österreichischen Republik und ihrer Unabhängigkeit“; das Mandat dazu hatte die Not geschaffen. Denn es war keine unbestrittene verfassungsmäßig legitimierte Instanz vorhanden. In der Unterschriftenfertigung deuteten sich Wandlungen an, die sich in der inneren Struktur des österreichischen Parteiwesens vollzogen hatten. Das historische Dokument, das den Uebertritt aus dem Oesterreich der Lueger, Alois Liechtenstein, Schindler, Seipel, der Viktor und Friedrich Adler, Schu-meier und Otto Bauer in ein neues politisches und parteigeschichtliches Zeitalter und zugleich die Erprobung der politischen Kräfte beurkundet, trägt folgende handschriftliche Bezeugung:

Urkund dessen die eigenhändigen Unterschriften der Vorstände der politischen Parteien Oesterreichs:

Für den Vorstand der österreichischen Sozialdemokratie, nunmehr Sozialistische Partei Oesterreichs (Sozialdemokraten und Revolutionäre Sozialisten):

Dr. Karl Renner m. p. Dr. Adolf Schärf m. p.

Für den Vorstand der Christlichsozialen Partei bzw. nunmehr Oesterreichischen Volkspartei:

Leopold Kunschak m. p.

Für die Kommunistische Partei Oesterreichs: Johann Koplenig m. p.

Die Geschichte der ersten österreichischen Republik verzeichnet drei Verfassungslegislaturen: die Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920, die nach dem Ende des alten Reiches dem ersten Verflackern der Umsturzerscheinungen entrungen worden war; sie trug die Abzeichen der Parlamentsdemokratie an sich, des Ausmündens der höchsten Staatsautorität in den Spitzen der Volksvertretung. An deren Stelle war kaum neun Jahre später die Bundesverfassung vom 7. Dezember 1929 getreten, die den mit bedeutenden Vollmachten bekleideten Bundespräsidenten zum höchsten Träger effektiver Staatsgewalt erhob. Allen bisherigen Verfassungssystemen hatte die Verfassung vom 1. Mai 1934 ein Ende gesetzt mit ihrem Unternehmen, das berufsständische Gedankengut in eine Staatsreform einzubauen. Jedes der drei Gesetzeswerke wies in eine andere Richtung. Die Proklamation vom 27. April 1945 bezeichnete als Ziel „im Geiste der Verfassung 1920“ den Neuaufbau zu vollziehen. Aber schon das Verfassungsgesetz, das vier Tage später von der provisorischen Regierung erlassen wurde, spannt die Bundesverfassung von 1920 in „die Fassung von 1929“ und bezeugte damit ihren Willen, eine Art Mittelweg zu betreten.

So weit, so gut. Die Familienpapiere der zweiten österreichischen - Republik waren also in Ordnung, aber quälende Ungewißheiten umdrängten die staatliche Existenz. Sorgen um die Nahrung, um die Währung, um die Einrichtung der erneuten staatlichen Gemeinschaft, während das Land aus tausend Wunden blutete. Mit angstgepreßten Sätzen rief die Regierung das Volk auf: „Männer und Frauen von Oesterreich! In den Tagen größter Bedrängnis durch Krieg und Kriegsfolgen richten wir an Euch alle unser Wort: Rafft Euch auf, wirkt zusammen zu unser aller Befreiung, helft mit, das vormalige, unabhängige Gemeinwesen der Republik wieder aufzurichten.“ Es ging um eine neue Bewährung.

Aber Oesterreich hat auch diese zweite Probe bestanden und der christliche Mensch sagt dazu: Mit Gottes Hilfe! Und er baute darauf seine Zuversicht. Das österreichische Volk und seine Staatsmänner bedurften ihrer. Denn die zehn folgenden Jahre waren eine Kette von Widersprüchen gegen die von den Großmächten zuerst im Oktober 1943 zu Moskau erfolgten Verheißungen und Zusicherungen, mit denen in der Folge das österreichische Volk immer wieder vertröstet wurde. Das bedeutete mehr als eine bittere Enttäuschung für Oesterreich, das kein kriegführender Staat gewesen war und durch nichts die Folterbank verdient hatte, auf die man unser Volk bisher gespannt hält; es bedeutete weithin die Erschütterung des internationalen Rechtsbewußtseins, des Glaubens daran, daß auch über den diplomatischen Kanzleien der Mächtigen dieser Erde das Sittengesetz steht.

Endlich scheint nun aber doch der Tag nahe zu sein, da für Oesterreich und sein Volk die Befreiungsstunde schlägt. Der Ertrag des jüngst in Moskau geführten Staatsgespräches ist sehr bedeutend. Wenn alle Kontrahenten des abzuschließenden Staatsvertrages sich in demselben werkbereiten Willen vereinen, so wird der Welt die erste große Friedenstat seit dem Bestände der Vereinten Nationen geschenkt werden. Nicht, daß die in Moskau erhaltenen Zusagen schon des Lebens ungeschminkte Freude über den Staatsvertrag erwecken würden. Es sei daran erinnert, daß der Artikel 6 in seiner vorliegenden Fassung zum Beispiel Bestimmungen über den Aufenthalt von Deutschen in Oesterreich enthält, die mit den Grundsätzen der Vereinten Nationen im schärfsten Widerspruch stehen und überholt sind; daß der Artikel 9 selbst die seit der Napoleonischen Zeit bestehenden Tiroler Schützenbünde, eine echte Blüte bodenständigen Volkstums mit Vernichtung bedroht; daß der Artikel 10 die österreichischen Gesetzgeber zwingen würde, die Heimatberaubung jedes Mitgliedes und Nachkommen des gewesenen Herrscherhauses aufrechtzuerhalten, selbst dann, wenn damit dem einstimmig bekundeten Willen des österreichischen Volkes Gewalt angetan würde, und daß der Artikel 16 P. 4 es verbieten würde, nach Oesterreich gekommenen Flüchtlingen aus anderen Staaten die österreichischen staatsbürgerlichen Rechte zu gewähren. Es wird sich verlohnen, solche Bestimmungen zu revidieren, weil sie das Wort von der Unabhängigkeit und Souveränität zur hohlen Phrase machen müßten.

An diesen Vertragstexten hat wunderlicherweise die in den letzten Tagen in der Oeffent-lichkeit geführte Diskussion nicht Anstoß genommen, wohl aber an der von dem Ostpartner vorgeschlagenen „Neutralität“ des künftigen Oesterreichs. Seit wann ist der Wille eines Volkes, unbeteiligt zu bleiben an dem Streitgespräch der Großen und ihren gefährlichen Ballspielen und mit aller Kraft sich jeder Annäherung an die internationalen politischen Kampfzonen zu versagen, ein Verhalten, das dem Einspruch begegnen dürfte? Oesterreich hat nicht den Ehrgeiz der Schweiz, die heute 800.000 Mann, modern ausgerüstet, das gegenwärtig größte Kriegspotential eines europäischen Staates, zum Schutze ihrer Neutralität bereit hält, mit ähnlicher Hochleistung nachzueifern. Wohl aber wird das österreichische Volk seine Freunde dankbar nach dem Anteil bemessen, den sie, unbeirrt durch zweifelsüchtigen Pessimismus,für die Wiederherstellung eines unabhängigen Oesterreichs leisten. Auch dann werden unserem Volke noch schwere opferreiche Anstrengungen obliegen. Aber es wird auch diese dritte Probe bestehen, wenn man ihm die Freiheit läßt, auf seinem Posten, verantwortungsbewußt an dem Frieden Europas mitzuwirken.

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