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Die ehrliche Rede des tapferen Obersten

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Oberst von Pleskow und sein Adjutant Bellmann wurden noch in den letzten Tagen des Krieges verwundet. Auf der Fahrt in das Lazarett gerieten sie in amerikanische Gefangenschaft. Es war ein ehemaliges Offiziersgefangenenlager, in dem es jetzt von deutschen Generalen, Obersten und Majoren wimmelte.

Oberst von Pleskows Wunde heilte schnell, aber auch Bellmanns Bein war nach einigen Tagen so, daß er schon am Stocke humpeln konnte. Kaum hatte er es jedoch so weit gebracht, als er sich wieder auf Wanderschaften begab. „Was ist mit Ihnen?“ fragte ihn Pleskow, „was haben Sie vor?“ Aber Bellmann machte nur geheimnisvolle Augen, ließ sich diesmal zu nichts verlocken.

Am Ende der ersten Woche war es endlich so weit, lüftete er mit gespanntem Gesicht sein Geheimnis. „Sie werden von einem großen Kreise gebeten“, sagte er fast feierlich, „heute abend über den 20. Juli zu sprechen!“

Pleskow starrte ihn an. „Hier?“ fragte er nur.

„Jawohl!“ sagte Bellmann. „In einer leeren Baracke, die dafür vorbereitet wird.

„Nein!“ sagte Pleskow entschieden.

„Aber, Herr Oberst… Einmal müssen wir anfangen, hier aber ist ein Boden, wie es keinen besseren gibt! Nie wieder finden Sie einen so bereiten Samengrund, denken Sie doch, in der furchtbaren Erschütterung dieser ersten Tage! Es ist doch unsere Aufgabe, Herr Oberst, ist doch unser Vermächtnis! Herr Oberst haben damals selbst gesagt, in der Silvesterrede, nur einem wollten Sie noch dienen…“

„Gut, Bellmann!“ sagte Pleskow.

Als sie gemeinsam in die Tür der Unterrichtsbaracke traten, sahen sie, daß sie von etwa dreihundert Offizieren gefüllt war. Es gab zwar nirgends einen Stuhl, alles saß in bunten Gruppen auf dem Boden, aber trotzdem spürten sie augenblicklich, daß eine innere Bereitschaft vorlag.

Pleskow ging rasch bis zur Schmalseite vor, blieb an einer freigelassenen Stelle stehen. Bellmann hockte sich fast zu seinen Füßen nieder, sah noch einmal zu ihm auf, daß es in seinen dicken Brillengläsern blitzte.

„Kameraden!“ begann Pleskow klar. „Wollte heute jemand zum deutschen Volke sprechen, so müßte es sein erstes sein, ihm reinen Wein einzuschenken, ihm eine in jedem Sinne ungeschminkte Bilanz vorzulegen. Diese Bilanz würde schlechtweg lauten: Soundso viele Deutsche fielen, soundso viele Deutsche wurden verkrüppelt, soundso viele Häuser wurden zerstört, soundso viele Fabriken vernichtet. Millionen werden wir aus den Ostgebieten aufnehmen müssen, für dies Leben wird keiner mehr eine eigene Wohnung haben. Unsere Ernährung wird für lange Zeit unzureichend bleiben, die Arbeitslosigkeit kaum gänzlich zu verbannen sein. Da im übrigen die besten Jahrgänge unserer Männer nie wiederkehren, wird jede Frau, jeder Greis bis zum letzten Tag für ein paar Kinder mit- arbeiten müssen. Wer Deutschland wahrhaft helfen wollte, müßte das zuvor unfrisiert aussprechen. “

Pleskow hielt kurz inne, ließ seine Augen über die dichten Gruppen gleiten, die meist mit untecgeschiagenen Beinen vor ihm saßen, viele Verwundete darunter. In den ersten Reihen sah man meist Stabsoffiziere, dann kamen Hauptleute, danach erst in bunter Würfelung das junge Volk. Auch hier hielt man also noch in alter Art die Ränge ein, hielt das Korsett der langen Jahre sie noch umschlossen.

„Die erste Aufgabe müßte alsdann sein“, fuhr Oberst von Pleskow alsbald fort, „dem Soldaten beizubringen, daß seine Opfer praktisch sinnlos waren! Daß in keinem Augenblick Sinn hatte, selbst bei dem Siegeszug in Frankreich nicht, was er alles so treulich auf sich nahm: die Trennung von der Frau, das Fernsein von den Kindern, die Nächte auf kalter Erde, das hündische Frieren im Schnee, der Hunger auf vorgeschobenem Posten, die Todesangst in zahllosen Stunden, der Verlust der besten Kameraden! Daß fünf Lebensjahre sinnlos vertan wurden, daß sie dies alles zudem nicht nur für eine falsche, sondern auch noch für eine schlechte Sache hingab en!“

Pleskow vernahm das erste Murmeln, es war noch schwächlich, so konnte er leicht tun, als habe er nichts davon gehört. Dies Murmeln kam übrigens aus allen Schichten, lief von vorn bis hinten gleichmäßig durch.

„Ich schweige von den Eltern, die fünf Jahre in Angst um ihre Kinder lebten, ich schweige von den jungen Frauen. Ich schweige auch von den Müttern, die mit ihren Kindern in den Bunkern saßen, sie im Bombendonner an sich preßten. Darüber finde ich noch keine Worte, nein, darüber finde ich sie noch nicht… Darüber aber muß man sie schon heute linden: Daß man uns alle schmählich mißbrauchte! Wer von diesen aber wird das offen zugeben, nachdem er jahrelang unsäglich dafür litt? Haben sie nicht alle ihr Bestes dafür hingegeben, im guten Glauben, daß es keinen anderen Weg aus diesem Engpaß gäbe? Fünf Jahre lang das Beste für eine Sache zu opfern, die von vornherein falsch war — gab es jemals eine Tragödie, die sich mit dieser unseres Volkes messen könnte? Es will einen angesichts ihrer Größe scheinen, alp ob Menschenzungen nicht ausreichten, diese versteinernde Verkrampfung jemals zu lösen! Denn wo man diesen Komplex auch anfassen mag, es geht überall auf einen guten Kern zurück. Das war doch das Diabolische dieses Systems, daß es als Antriebskraft für alles Gedanken nahm, die seit Jahrhunderten als Werte in uns lebten! Wurde hier nicht die deutsche Sendung proklamiert, die gerechte Forderung auf ausreichenden Lebensraum, das unabdingbare Recht auf den Platz an der Sonne? Waren diese Dinge vielleicht falsch? — werden Sie jetzt noch denken. Haben die anderen Völker das nicht alles schon längst — warum durften wir uns nicht auch einmal dazu anschicken? Wir durften es, sicherlich durften wir es, wir durften es nur nicht s o! Auf diese Weise haben wir aus Recht Unrecht gemacht, haben wir sogar das mitzerstört, was man für Deutschland ehrlich fordern konnte! Dies aber ist nun seine Folge, daß wir jetzt nicht einmal mehr fordern können, was jedem Volke der Erde billig ist! Wenn Sie mir aber darauf entgegnen wollen: die anderen sind auch schlecht, begehen ebenfalls tausend Irrtümer — was nützen uns solche halben Wahrheiten, wir wollen nicht nur im Vergleich nicht schlecht, wir wollen an sich nicht schlecht sein! Wir müssen diese Relationen endlich einmal verlassen, endlich wieder absolute Wertungen einführen! Denn es wird auch hier mit uns sein, wie es überall mit uns sein wird: Wir werden keine Werte mehr entwickeln können, außer den inneren, denn äußere werden wir nicht mehr erleben! Solche Werte sammelt man aber niemals im Relativen — solche sammelt man immernur im Absoluten! Als absolute Werte der vergangenen Jahre aber sehe ich vor allem jene Leistungen, die im Widerstand gegen die amoralischen Auswüchse dieses Staates vollbracht wurden. Nur ein paar konservative Menschen stemmten sich gegen jene Doktrinen, die das ganze heutige Leben unserer Gesellschaft umformen wollen. Nur ein paar tausend wahre Menschen, nur ein paar letzte Humanisten … Aber was sollten diese wenigen, durch die Erziehung eingeengt, durch ihr Gefühlsleben behindert — Moral, Ehre, Haltung — gegen diese Kräfte erreichen, die einmal völlig amoralisch, zum andern ungehemmt brutal waren? Im Grunde war demnach jeder Widerstand dieser Art zum Tode verurteilt.., Weil er aber von vornherein tragisch war, zeigte er eben auch noch absolute Werte. In höchster Form aber zeigte diese Werte — die Erhebung der Männer vom zwanzigsten Juli!“

„Oho!“ rief jemand. „Oho!“ rief ein Dutzend. „Ohol“ riefen ganze Reihen. Diesmal kamen die Rufe aus der zweiten Hälfte, vor allem aber aus dem letzten Drittel.

Pleskow machte mit dem gesunden Arm eine souveräne Bewegung, wischte diese Rufe auch seltsamerweise wie mit einem Schlage weg.

„Welch eine Verwirrung der Begriffe!“ fuhr er um ein weniges schärfer fort. „Sie spricht mich schon beispielhaft aus dem an, was mir soeben als Protest entgegenschlug. Verwirrung der Begriffe vor allem deswegen, weil diese Rufer glauben, sie protestieren mit gutem Recht. Aber es gibt keine Treue als Moralbegriff an sich, das wäre nur jene Nibelungentreue, die schon öfter unsere nationale Tragik war. Es darf sie zum mindesten nicht mehr in solchen Zeiten geben, in denen sich Knipperdollinge den Königspurpur erschleichen können! Einst waren es immerhin noch Könige, denen solche Treue bis zum Tode galt — ohne jede Rücksicht auf ihr persönliches Objekt, weil sie diese in keinem Fall mißbrauchten —, heute handelt es sich um Strauchdiebe, die solche Nibelungentreue von uns verlangen. Es gibt aber keine Treue zu Verbrechern. So ist es wahrhaftig ein schweres Unterfangen, den biederen Deutschen heute davon zu überzeugen: Daß jene Generale die Treue hielten, die sie aber äußerlich brachen — jene sie aber brachen, die sie äußerlich bis zum letzten hielten!“

Das Murmeln stieg von neuem drohend an, diesmal deutlich aus den vordersten Reihen.

Pleskow hielt eine Weile ruhig inne, wartete fast spöttisch ab, fuhr dann mit neuer Steigerung fort: „Uber das Unternehmen selbst sollte es keine Debatte mehr brauchen, es liegt inzwischen schon zu klar vor unser aller Augen! Ganz gleich wie es auch ausgegangen wäre, selbst mit einem Bürgerkrieg, es wäre immer besser für uns gewesen. Die Front im Osten stand in Weißrußland, stand in Rumänien, stand in den baltischen Ländern. In keinem Falle wären die Russen nach Deutschland hineingekommen, denn alle Feldarmeen hätten sofort zur Ostfront umgeschwenkt. Aber selbst wenn die Armeen zerfallen wären, für den Osten hätten sich sogar genügend Freiwillige gestellt, er wäre in jedem Falle gehalten worden. Im übrigen ist es eine alte Erfahrung der Weltgeschichte: Wo die Truppen im Augenblick eines Kriegsendes stehen, werden alle bisherigen Abmachungen zum Fetzen Papier. Was heißen dann noch Interessensphären, heißen dann noch Einflußabgrenzungen? Besetzte Gebiete gelten in allen Fällen mindestens als Faustpfänder, die teuer zurückgehandelt werden müssen, in diese Lage hätten jene Männer die Angloamerikaner in jedem Falle versetzt. Aber selbst wenn sie den Russen jene Zonen trotzdem noch zugesprochen hätten, die sie ihnen lange danach in Jalta gaben — was wohl jeder bezweifelt —, so hätten sie diese nicht erobert, wären sie im schlechtesten Falle nur nichtkämpfend in sie einmarschiert! Was das schon allein für einen Unterschied gegen das bedeutet hätte, was sich im Osten in den letzten Monaten abspielte, das brauche ich den Ostsoldaten unter euch wohl nicht mehr zu sagen. Keine der Städte wäre mehr zerstört, Millionen wären nicht gefangen worden, sowohl im Osten wie im Westen. In welchem Umfange man dadurch Zerstörungen verhindert hätte, geht wohl jedem Zweifelnden schon daraus hervor, daß es heute bereits feststeht, daß die Zerstörungen ab zwanzigsten Juli größer sind, als es die Zerstörungen des gesamten Krieges bis dorthin waren. In den letzten neun’Monaten also mehr — als in den achtundfünfzig Monaten bis zu dem Tag! .Und die Millionen Menschen, die noch keiner gezählt hat? Und Würzburg und Dresden und Potsdam — genügte das nicht schon allein? Im Psychologischen käme noch jene Verbitterung hinzu, die unsere gänzlich zwecklose Ardennenoffensive hervorrief, weil sie den Amerikanern nochmals schwerste Verluste beibrachte, sie werden wir daher noch in besonderem Maße bezahlen. Im Politischen aber an erster Stelle: es hatte noch kein Jalta gegeben! Vom westlichen Gegner war bis dahin noch nichts verschenkt, Churchill wäre dadurch so stark geworden, daß er von dem Tage an auch nichts mehr verschenkt hätte. Und Roose- velt hätte den Südosten sicherlich anders ausgehandelt, hätte sich jene ganzen Völker nicht gegen Phrasen abnehmen lassen. Die Welt hätte heute also ein anderes Gesicht, wenn jenen Männern ihr Wollen gelungen wäre. Soweit das Sachliche — wer spricht von euch dagegen?“

Pleskow hielt fragend inne, aber niemand rührte sich. Pleskow schob die Binde seines Armes etwas zurecht, sah einen Atemzug ins Leere. Trug ihre Tat nicht im Grunde schon den Lohn dadurch in sich, dachte er, daß jene Männer dies traurige Bild nicht mehr zu erleben brauchten? Wie sie hier vor ihm saßen, auf nacktem Boden, wie Landstreicher zusammengefangen?

„Ich hoffe schon mit dem Bisherigen erreicht zu haben“, fuhr Pleskow fort, „daß alle oberflächlichen Aburteilungen den Boden verloren. Wer in die wahren Verhältnisse dieses Staates Einsicht hat, wird immer bewundern, daß sich Männer fanden, die sich gegen diese Riesenmaschinerie aufbäumten. Denn es war ein Aufbäumen einer Handvoll Menschen — gegen die tausend Fangarme eines Leviathanpolypen! “

Pleskow hielt mit einem Gesichtsausdruck inne, als lausche er diesen Namen horchend nach. Sie klangen auch hallend durch den weiten Raum, denn es war jetzt mit einemmal sehr still.

„Das Furchbarste am zwanzigsten Juli“, fuhr er dann fort, „ist jedoch nicht einmal sein Mißlingen. Das Furchtbarste daran ist vielmehr, daß man im gleichen Augenblick, in dem eine letzte Elite durchstieß, diese schon wieder aufs Schaffot führte! Ste hatte sich all die Jahre tapfer gehalten, unkorrumpiert in ihren Seelen, unangegriffen von aller Verführung, war so der kostbarste Teil unseres Volkes: denn sie ging durch alle Schichten hindurch, von der geistigen Spitze bis zum Bürger, vom Gewerkschaftsführer bis zum Arbeiter — da fiel sie noch im letzten Augenblick, von jener großen Schere erfaßt, die bis dahin ohnedies alles laufend nivelliert hatte! Hier erst erwies sich unser Untergang als wirklich total, denn eigentlich wissen wir erst durch diesen Tag, daß wir noch nicht hätten zu verzagen brauchen, im Schoße unseres Volkes noch eine letzte Elite bewahrt lag. Eines wird trotzdem bleiben — sie schuf wieder absolute Werte — schleuderte damit einen Funken! Der wurde nicht verlöscht, der glimmt leise weiter. Und mein Amt ist es — ihn stetig zu schüren…“

Damit wollte Pleskow schließen, wandte er sich schon, um den Raum zu verlassen.

Da schrie plötzlich eine Stimme, ganz Von hinten, aber mit schneidender Klarheit: „Und trotzdem Verräter…“

Pleskow wandte sich langsam zurück — über sein Gesicht ging ein Lächeln. Es war zwar mehr eine Grimasse, eine Grimasse der Verachtung, aber sie wirkte als Lächeln, ein Lächeln aus unerreichbarer Höhe.

Dann hob er jählings den Arm, zeigte ruckhaft dorthin, woher der Ruf gekommen war. „Oh, ich habe es gewußt“, rief er, „einige bleiben hoffnungslos! Wie sollte es auch anders sein, Rom wurde nicht an einem Tag erbaut! Da dies Wort nun aber schon fiel“, fuhr er mit unheimlicher Steigerung fort, zog die Oberlippe hoch, daß seine Vorderzähne förmlich bleckten, „sollt ihr auch die Antwort haben: Wenn durch die Hilfsmittel der Regierungsgewalt ein Volkssturm dem Untergang entgegengeführt wird, dann ist die Rebellion eines jeden Angehörigen eines solchen Volkes nicht nur Recht — sondern sogar Pflicht! Wo steht dieser Satz wohl — meine Herren — in eurer Bibel .Mein Kampf! Warum handelt ihr denn nicht nach dieser Bibel, ihr buchstabengetreuen Schildknappen aller Grade, sie galt doch wohl in erster Linie für euch!

Gibt es in diesen fürchterlichen Tagen wirklich deutsche Menschen des Glaubens, es benötigte erst noch eines Verrats, um ein Volk endgültig niederzuwerfen, das nur mehr mühsam atmete, unter dem Schutt seiner Städte erstickte, während die übrige Welt mit ihren Flugzeugen den Himmel verdunkelte? Brauchte es wirklich erst noch eines Verrats, um eine Armee zu vernichten, die gegen eine dreißigfache Übermacht kämpfte? Brauchte es wirklich erst noch des Verrats irgendeiner Seite, um eine politische Staatsfonm niederzuwerfen, die sich im Gegensatz zur ganzen Welt gesetzt, deren Vertreter sich ihr gegenüber als Analphabeten erwiesen hatten? Nein, ich fürchte sie nicht, fürchte sie diesmal nicht, die Dolchstoßlegende von 1945: So geistesarm kann kein Mensch sein, als daß sie noch Nährboden fände …“

Er unterbrach sich zum letzten Male, wurde danach wieder unheimlich ruhig. „Ich warte jetzt nur noch auf einen Einwurf“, sagte er dann in jene Ecke, aus welcher der Ruf erklungen war, „den Einwurf der berühmten deutschen Uber- objektiven: Haben wir denn überhaupt schon genügend Abstand, um das historisch gerecht beurteilen zu können? Diesen aber antworte ich, hört jetzt gut zu: Ich brauche keinen Abstand, um die Tümmer unserer Städte, unsere verhungerten Kinder zu sehen! Ich brauche keinen Abstand, um die Lügen eines Goebbels zu empfinden, die Verworfenheit eines Himmlers festzustellen. Ich brauche keinen Abstand, um den genialsten Feldherm aller Zeiten zu durchschauen, ein Blick auf den Kriegsverlauf sagt alles. Ich brauche nicht erst ein Jahrhundert abzuwarten, um die Orgie dieses Dilettantismus zu beurteilen. Man brauchte ein Jahrhundert, um Friedrich von Preußen richtig zu sehen, ein ganzes Menschenalter, um Bismarck zu erkennen, über ein Jahrzehnt, um Wilhelm II. gerecht zu werden — für Adolf Hitler braucht man kein Jahr, braucht man keinen Tag, nicht einmal eine Stunde.“

Er brach ab, schrie plötzlich auf: „Weil man es fühlt!“

Pleskow hatte noch nicht wieder Atem geholt, als ein Tumult ausbrach, unter dem die ganze Baracke erzitterte.

„Söldner, Käufling, Uberläuferl“ schrie es von hinten.

„Was hat die Rede gekostet?“ schrie es aus der Mitte. „Wieviel Dollars brachte sie?“

Bellmann war aufgesprungen, trat vor seinen Obersten, als müsse er ihn schützen. Er blieb jedoch nicht allein, ganze Gruppen scharten sich mit ihm um seine Gestalt, wie er zum Letzten entschlossen.

Aber Pleskow stand steil wie ein Baum, sah einen Augenblick kalt in das Toben, drehte sich dann kurz auf dem Absatz, ging langsam zur Baracke hinaus.

Aus „Wenn die Dämme brechen“, Verlag Weisermühl, Wels.

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