6772894-1969_10_01.jpg
Digital In Arbeit

Die Einkreisung

Werbung
Werbung
Werbung

Da diese Zeilen in Druck gehen, dürfte die deutsche Bundespräsidentenwahl schon abgelaufen sein. Und sie dürfte ohne Zwischenfälle in Berlin durchgeführt worden sein. Alle Befürchtungen, daß diese Bundespräsidentenwahl der Anlaß zu einer neuen Krise zwischen Ost und West sein könnte, haben sich wahrscheinlich als unrichtig erwiesen. Darüber hinaus gab diese Krise den Westmächten Gelegenheit, ihre Übereinstimmung zur Verteidigung der freien Welt zu bekunden, und sie gab Nixon die einmalige Chance, Amerika für Europa zu engagieren. Und warum hat Rußland dies alles hingenommen? Hier stößt man vielleicht auf den Schlüssel der gesamten russischen Politik von heute.

Russische Politik ist durch Jahrhunderte gleichgeblieben und wird wahrscheinlich durch Jahrhunderte gleichbleiben. Die Triebfeder aller russischen Politik ist eine ewige Existenzangst, die Rußland durch alle möglichen Sicherungen zu bannen versucht. Der Zug von Messia-nismus, der so oft die russische Politik durchzieht, und der Zug von reinem Imperialismus, der russische Politik so oft zu beherrschen scheint, ist nur ein Versuch, diese Existenzangst zu verbrämen, Rußlands großes Trauma ist die Auseinandersetzung mit China, und der letzte Zwischenfall an der russisch-chinesischen Grenze zeigt, daß dieses Trauma nicht unbegründet ist. China ist kein kommunistisches Land, wie es offiziell heißt, sondern ein nationalsozialistisches Reich, ähnlich wie das Dritte Reich Adolf Hitlers, und von einem ähnlich messianischen Zug gegen Rußland beherrscht wie der NS-Staat. Die Bevölkerungsexplosion in China, die nach neuen Wohnplätzen für die überschüssigen Millionen sucht, ist die reale Grundlage dieser chinesischen Aversion gegen Rußland.

Das zweite große Trauma Rußlands ist die Wiedervereinigung Deutschlands, das nach der Ansicht Rußlands ein viertes nationalsozialistisches Reich mit vehementen Revanchegelüsten gegen Rußland sein wird.

Diese Wiedervereinigung wird Rußland unter allen Umständen verhindern und ist bereit, alle ideologische Politik über Bord zu werfen. Es ist In die CSSR einmarschiert, obwohl es wissen mußte, daß damit der Kommiunismus der freien Welt in eine schwere Krise kommen werde, nur um sichere Grenzen gegen ein solches eventuell vereinigtes Deutschland zu besitzen. Es hat die Kommunisten in Frankreich glatt fallengelassen und de Gaulle zu einem einmaligen Sieg verhelfen, weil dieser de Gaulle ein entschiedener Gegner der Wiedervereinigung Deutschlands ist.

Und Rußland hat die Wahl in Berlin benützt, um wahrscheinlich eine neue Krise hochzuspielen, die aber nichts anderes nach sich ziehen konnte als die Stärkung der NATO und das Engagement der Amerikaner in Europa. Solange die NATO existiert, wird Westdeutschland ein wichtiger Bestandteil dieses Militärbündnisses sein, aber es wird nicht zu einer Wiedervereinigung Deutschlands kommen. Solange die NATO besteht und Amerika in Europa engagiert ist, wird es Mao unmöglich sein, sich in Europa festzusetzen, wie er es in den Unruhen dm Sommer 1968 doch schon versucht hat. Rußland will unbedingt in Europa Ruhe haben, um den Rücken freizuhalten für die kommende Auseinandersetzung mit China. Rußland sucht auf eine merkwürdige Art China einzukreisen, damit es entweder gar nicht, zu einer militärischen Auseinandersetzung kommt oder Rußland für sie bestens vorbereitet ist.

Die Waffenlieferungen Rußlands an Nordvietnam sind unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten. Solange Nordvietnam Waffen von Rußland bekommt, muß Amerika weiterhin gigantische militärische Anstrengungen machen und gigantische Rüstungen produzieren, um den Krieg in Vietnam durchzustehen. Auf diese Weise zwingen die Russen die Amerikaner, in Vietnam zu bleiben, deren Anwesenheit sie in Wirklichkeit gar nicht ablehnen, sondern begrüßen. Denn diese amerikanische Armee in Vietnam kann einst am Tag X ein starker Verbündeter Rußlands werden.

Unter diesem Gesichtspunkt müssen auch die Waffenlieferungen der Russen an die arabischen Staaten betrachtet werden. Wie der israelischarabische Krieg zeigte, waren diese Waffenlieferungen — im harten kaufmännischen Jargon gesprochen — eine Fehlinvestition. Aber durch diese Waffenlieferungen machte sich Rußland die ganze arabische Welt zu Freunden und zwingt anderseits die Israelis, eine enorme Armee aufrechtzuerhalten — und, die freie Welt, den Israelis Waffen zu liefern. Wenn Israel nicht existieren oder, wie es der Fall ist, seine Existenz durch eine große Armee aufrechterhalten müßte, würden die Araber sofort die Verbündeten jener Macht werden, die ihnen am meisten zahlt. Und das könnte leicht auch China sein. Rußland hat aber keine Lust, südlich seiner Grenzen chinesische Satelliten zu sehen. Solange die Araber die Freunde Rußlands sind, kann Rußland Flottenstützpunkte an der ägyptischen Küste erhalten, und von diesen Flottenstützpunkten aus wäre es dann leicht, den chinesischen Satelliten Albanien in Schach zu halten oder sogar einmal zu vernichten.

Und Rußland hat gar nichts dagegen, daß sich die Amerikaner weiterhin für Südkorea engagieren, denn auch damit ist ein Stück Einkreisung Chinas weitergetrieben.

So versucht Rußland nicht nur einerseits sich Ruhe in Europa zu verschaffen, sondern auch anderseits auf eine merkwürdige Weise China einzukreisen. Auf eine merkwürdige Weise, weil es sich doch scheinbar überall seine Feinde einnisten läßt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung