6614985-1955_25_10.jpg
Digital In Arbeit

Die Entfesselung des zweiten Weltkrieges

19451960198020002020

(Eine Studie über die internationalen Beziehungen im Sommer 1939.) Von Walther Hofer. Veröffentlichungen des Instituts für Zeitgeschichte. München. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart. 222 Seiten.Preis 6.80 DM

19451960198020002020

(Eine Studie über die internationalen Beziehungen im Sommer 1939.) Von Walther Hofer. Veröffentlichungen des Instituts für Zeitgeschichte. München. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart. 222 Seiten.Preis 6.80 DM

Werbung
Werbung
Werbung

Der Schweizer Historiker Walther Hofer, welcher als Dozent für neuere Geschichte an der Freien Universität in Berlin tätig ist, hat versucht, auf Grund des bisher bekannten Qucllenmaterials das Problem der „Entfesselung des zweiten Weltkrieges“ zu entwirren. Konnte man im Jahre 1914 von einem „Ausbruch“ der ersten, nur teilweise globalen Auseinandersetzung sprechen, so erweist sich für den zweiten Weltkrieg die Tatsache als wesentlich, daß dieser durch die persönliche Verantwortung Hitlers „entfesselt“ wurde. Die letzte Phase der Augusttage .1939 ist quellenmäßig bisher, was die europäischen Großmächte betrifft, gut untermauert. Eine wichtige Lücke bleibt die noch ausstehende brauchbare Aktenpublikation von sowjetrussischer Seite.

Für Polens Stellungnahme hat Forst de Battaglia im ersten Band seiner Veröffentlichung „Zwischeneuropa“ (S. 77) die völlige Verkennung des militärischen Kräfteverhältnisses hinreichend und freimütig gekennzeichnet. Trotz der italienischen Veröffentlichungen fehlen Dokumentationen von französischer Seite für die letzten Phasen vor Ausbruch des Krieges; und dennoch scheint Hofers Bild „der fahrlässigen Tötung“ des Friedensengels 1939 richtig, wenn auch 1914 der gleiche Vorgang nicht allein durch einen „Unfall“, sondern wie jüngste Publikationen beweisen, durch eine bestimmte Lenkung, herbeigeführt wurde. Hofer hat besonders darauf hingewiesen, daß der deutsch-sowjetische Pakt gewissermaßen das Schlüsseldokument für die Entfesselung des zweiten Weltkrieges darstellt. Daraus ergab sich naturgemäß jene verhänignisvolle Verkkmmerung der russischen und deutschen Auf? fassungen über das Problem Polen. Denn in dem Pakt, den Molotow und Ribbentrop abschlössen, war ein Abkommen „über ein Erwerbsgeschäft auf Gegenseitigkeit“ enthalten. Die gleichzeitig unterschriebene Geheimkonvention, die erst durch die sensationelle Veröffentlichung im Nürnberger Prozeß bekannt wurde, beinhaltete die genaue Abgrenzung der Interessensphären Deutschlands und der Sowjetunion. Die Motive für diesen Vertragsabschluß sind wohl darin zu suchen, daß beide Partner die Zertrümmerung des polnischen Staates wollten, aber gleichzeitig die deutsche Diplomatie sich selbst die Hände band, indem sie die Frage, „ob die beiderseitigen Interessen die Erhaltung eines unabhängigen polnischen Staates erwünscht sein lassen und wie dieser Staat abzugrenzen wäre“, dem Lauf der weiteren Entwicklung überließen. Damit band sich Deutschland selbst, um nach dem Polenfeldzug das einzige Pfand gegenüber dem Westen, nämlich Polen, wenn auch in verkleinertem territorialen Ausmaß der Konzeption des Kremls zu opfern. Als geschichtliche Folge des Geheimabkommens vom 30. August 1939 bezeichnet Hofer mit Recht die Tatsache, daß die Macht der Sowjets bis heute nach Mitteleuropa reicht. Die Reaktion der alliierten Mächte war allzu deutlich, wenn auch in Berlin zuwenig beachtet. Chambertains Brief mit dem Hinweis auf das tragische Mißverständnis von 1914, da in Berlin Unklarheit über die Entschlossenheit zum Eingreifen bestand, hätte ernüchternd wirken sollen. Aber Hitler betrachtete nunmehr England auf Grund der Berichte Ribbentrops als dekadent und umgekehrt waren die französischen Vertragspartner der Ansicht, daß die Verpflichtungen gegenüber Polen unbedingt eingehalten werden sollten, obgleich die Nachkriegs-poleinik zwischen Bonnet und Gamelin die tiefen Auffassungsunterschiede bezüglich der französischen Wehrmacht darlegen. Die französische Politik spekulierte sogar noch nach dem 23. August 1939 auf Ausweichmöglichkeiten, wenn auch der französische Botschafter in Berlin schon am 24. August auf die Möglichkeit „streng geheimer“ Zusatzprotokolle zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt hinwies. Der Abfall des Achsenpartners Italien, vor allem Mussolinis Ohnmacht auf dem kriegswirtschaftlichen Sektor vermochte Hitlers Entschlossenheit zum Krieg nur zu hemmen, nicht jedoch sein diplomatisches Ziel, die britisch-französisch-polnische Koalition aufzulösen, zu verrücken. Das Eingreifen des schwedischen Industriellen Birger Dahlems, der vielleicht als Repräsentant der europäischen Industriellen, die kein Interesse an einer kriegerischen Entwicklung hatten, bezeichnet werden könnte, hatte nur episodenhaften Charakter. Sein Gesprächspartner Göring, innerlich durch seine Saturiertheit unheimlich berührt von dem fanatischen Kriegswillen der Gruppe Hitler-Ribbentrop-Himmler, konnte kaum durchdringen, ja er war nur ein fragwürdiges Instrument der raffinierten Ablenkungspolitik bis zur letzten Stunde, da „Ernst und Bluff“ einander die Waage hielten. Auch die deutsch-französischen Gespräche zwischen Daladier und Hitler in Briefform, in denen deutlich auf die Sowjetunion als die künftige mitbestimmende Macht der ostmittcleuropäischen Staatenwelt hingewiesen wurde, konnten nicht das Unheil verzögern. Bei allen Gesprächen war die neugefestigte deutsch-russische Freundschaft auf Kosten Polens die Voraussetzung, letzten Endes eine Bindung, die sich stärker erwies als alle Versuche der Diplomaten, die zwischen dem 25. und 30. August das permanente Kriegslager in der Reichskanzlei zu Beilin vom wirklichen Ernst der Lage zu überzeugen versuchten. Wenn auch Veröffentlichungen der jüngsten Zeit (Fritz Hesse: „Das Spiel um Deutschland“, Ribbentrop: „Zwischen London und Moskau“) versuchten, den Widerstandswillen der britischen Regierung durch Informationen der deutschen Widerstandskreise zu untermauern, so ergibt sich doch eindeutig, daJ5 der „sterbende Friede“ nicht zu retten war. Der unbändige Kriegswille Hitlers war letztlich entscheidend, wie er bereits gegenüber Schuschnigg bei der Unterredung am 12. Februar 1938 durchklang: „Es wäre geradezu unverantwortlich und vor der deutschen Geschichte nicht zu vertreten, wenn ein Instrument, wie es die deutsche Wehrmacht ist. nicht benützt werden würde.“ (Schuschnigg: „Ein Requiem in Rot-Weiß-Rot“, S. 50.)

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung