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Die entfremdeten Brüder

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Nicht nur Individuen des Tier- und Pflanzenreiches verändern sich unter dem Einfluß einer neuen Umgebung mit veränderten Lebensbedingungen, verlieren für unabänderlich gehaltene Eigenschaften, um seltsam-andersartige Züge an den Tag zu legen, auch menschliche Einrichtungen folgen ähnlichem Gesetz. Ein zur Nachdenklichkeit anregendes Exem-pel kann die britische und die nordamerikanische Presse bilden. Sosehr haben sich die Brüder auf beiden Seiten des Atlantiks voneinander entfernt, so weitgehend sind sie einander fremd geworden, daß es gar nicht leicht fällt, auf den ersten Blick die immerhin noch vorhandene Familienähnlichkeit zu erkennen. Anderes Papier, andere Annoncen, selbst ein anderer Zeitungsgeruch. Äußerlichkeiten, gewiß. Ferner eine völlig verschiedene Raumeinteilung, Rubriken, die man nicht mehr miteinander vergleichen kann, eine andere Auffassung der Wichtigkeit der Dinge, schließlich andere Pressegesetze, Moralbegriffe und Ehrenkodexe.

Aber die Aufzählung der Unterschiedlichkeiten läßt solange unbefriedigt, als sie nicht mit dem Vorbehalt geschieht, daß die britische und amerikanische Presse sich in zwei verschiedenen Entwicklungsstufen befinden und daher ohne gewisse Vorbehalte überhaupt nicht verglichen werden sollten. Keine der bedeutenden Zeitungen Englands weist nämlich mehr lokalen oder provin-

ziellen Charakter auf, fast keine der großen amerikanischen Zeitungen hat bisher nationalen Charakter angenommen.

überdies haben die englischen Zeitungen und Zeitschriften etwas an sich, das das Gefühl gibt, man habe es mit einem völlig durchgezüchteten Endtyp, etwa dem Vollblutpferd vergleichbar, zu tun. Nicht nur die „Times“, auch der „Obser-ver“, „Spectator“ und viele andere Publikationen scheinen Endformen journalistischen Bemühens zu sein, eine Verbindung von Teamgeist und Tradition bestimmt den Charakter jeder einzelnen Nummer. Selbst eine so vehemente Persönlichkeit wie Lord Northcliffe konnte sich, nachdem er die Mehrheit der .Times“ erworben hatte, nur allmählich und im Verlauf mehrerer Jahre gegen den ,old gang* von Printing House durchsetzen. Demgegenüber wird die amerikanische Presse viel stärker von Einzelgestalten beherrscht, wenn sich dies auch nicht immer so deutlich wie im Fall der „Chicago Tribüne“ und der Hearst-Blätter demonstrieren läßt; weder die Aufmachung der Zeitung noch die allgemeinen Grundsätze redaktionellen Wirkens scheinen ein für allemal festgelegt, und eine Neigung zu Experimenten ist unverkennbar. Dazu kommt noch die grundsätzliche Verschiedenheit wirtschaftlicher Bedingungen; während die Amerikaner aus dem vollen schöpfen und Tageszeitungen bis zu 40 Seiten, die Sonntags oft auf 100 anschwellen, keine Seltenheit sind, leidet die englische Presse unter einem würgenden Mangel an Rotationspapier. Kaum ein Drittel der Vorkriegsmenge steht der Fleetstreet gegenwärtig zur Verfügung, viele Artikel müssen zu Extrakten gekürzt werden, und freischaffende Journalisten sind kaum mehr imstande, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Amerikaner, welche die Ansicht, daß die Presse der USA im wesentlichen aus lokalen Blättern besteht, zu widerlegen suchen, machen fast immer auf drei Zeitungen aufmerksam. Auf die „New York Times“, die „Chicago Tribüne“ und den „Christian Science Monitor“. Ganz abgesehen davon, daß hier, aus der Uberfülle des amerikanischen Presselebens, nur drei, allerdings besonders markante, Blätter herausgegriffen werden, trifft diese Behauptung im Grunde genommen nur auf den „Christian Science Monitor“ zu, dessen Niveau und liberale Gesinnung nicht darüber hinwegtäuschen sollen, daß hier die lokale Gebundenheit nicht durch die Belange der Nation, sondern die Interessen einer Sekte, eben des „Christian Science“, überwunden wurde.

Was indes die „New York Times“ anbelangt, so werden sie allerdings auch in anderen Unionsstaaten gelesen und in den europäischen Redaktionen mit Aufmerksamkeit studiert, aber die Exemplare, die außerhalb New Yorks verkauft werden, machen nur einen Bruchteil der Gesamtauflage aus, und dasselbe gilt für die .Chicago Tribüne“ des Obersten McCormick.

Der schlüssigste Beweis für die angefochtene Behauptung aber liegt natürlich in dem Umstand, daß die amerikanische Presse gar nicht über jenen hochmodernen Apparat verfügt, der es in England möglich macht, daß alle Bewohner der Insel zur selben Zeit eines der großen Blätter in die Hand nehmen können. Trotz der geringen Entfernungen hat es sich auch hier als notwendig erwiesen, Zeitungen gleichzeitig an mehr als einem Ort zu drucken. Die .News Chronicle“ geht beispielsweise gleichzeitig in London und Manchester In Druck, die „Daily Mail“ in London, Manchester und Edinburgh, der „Daily Express“ in London, Manchester und Glas-

gow. Für Nachahmung dieser Beispiele fehlt in Amerika der wirtschaftliche Anreiz. Während es in England zur gebieterischen Notwendigkeit wurde, Auflagen herauszubringen, die, wenn möglich, die Millionenziffer überschreiten sollten, finden die Amerikaner bei dem enormen Volumen ihres Anzeigenteil mit sehr

viel kleineren Auflagen ihr Auskommen. Was indes in Zukunft der amerikanischen Presse allmählich doch den Charakter einer nationalen Institution geben wird, sind nicht nur die großen, zentral geleiteten Nachrichtenagenturen, sondern jene ungeheuer einflußreichen amerikanischen Journalisten,

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