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Die erste Bürgerpflicht

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Diese Spätherbstwochen 1956 werden in unserem Gedächtnis tief eingegraben bleiben. Es gibt( wohl kaum eine elendere Situation als jene: Aus dem in hellen Flammen stehenden Nachbarhaus dringen die ersterbenden Stimmen der Verlorenen. Man selbst aber muß sich in seiner menschlichen Schwäche — wo bleibt nur die Feuerwehr? — darauf beschränken, das Ueber-springen der Feuerzungen auf das eigene Dach zu hindern und den Entkommenen Erste Hilfe zuteil werden zu lassen ...

Während unsere Herzen nach wie vor bei dem schwergeprüften, leidenden ungarischen Volk sind, wird es Zeit, einmal Umschau zu halten im eigenen Lande. Wie hat Oesterreich die ernste Prüfung bestanden? Der erste Jahrestag der völligen Freiheit und der hoffnungsvoll verkündeten Neutralität duldete Oesterreichs Regierung und sein Volk nämlich nicht bei Fest und Feier, er rief gebieterisch alle Mann an Bord des Staatsschiffes.

Vielleicht ist es am Platz, hier nochmals dem gesamten österreichischen Volk dem ihm gebührenden Respekt zu bezeugen. Die Welle der Sympathie und der menschlichen Hilfsbereitschaft, die auf die ersten Nachrichten aus Ungarn durch alle Schichten, Parteien und Konfessionen ging, hatte etwas Imponierendes. Wer, wie der Schreiber dieser Zeilen, davon zunächst im Ausland erfuhr, darf diese Worte aussprechen. Sie beinhalten kein Eigenlob. Sie sind bloß die Stimme dessen, was er in jenen Tagen alles an Gutem und Schönem über die spontane Hilfsbereitschaft des österreichischen Volkes gehört und gelesen hatte. Dabei war es doch eine Selbstverständlichkeit:, ein Volk, das vor elf Jahren, noch selbst in tiefer Not, Hilfe aus aller Welt in Anspruch genommen hatte, zahlte jetzt die Zinsen ab.

Aber auch das offizielle Oesterreich war auf seinem Posten. Wir sprechen von der ruhigen, völlig unprovokanten Note, die die österreichische Regierung — lange bevor der mit seinen eigenen Sorgen beschäftigte „freie Westen“ die Sprache fand — an die Regierung der UdSSR richtete. In ihr stand nichts als die dringende Bitte, dem Blutvergießen in Ungarn Einhalt zu gebieten. Hiermit mußte Oesterreichs Hilfe, seinem völkerrechtlichen Status entsprechend, ein Ende haben. Jenseits der Leitha und von Nickelsdorf verstand man das wohl. Neben bitteren Worten über das Zögern der UNO vernahm man später von Flüchtlingen immer wieder den einen Satz: „Wien war uns in diesen Wochen so nah wie vielleicht noch nie in unserer Geschichte.“ Wir werden ihn tief in unseren Herzen bewahren. Als eine Verpflichtung.

Nach der Hochstimmung des ungarischen Aufbruches aber kam Suez, die Weltlage wurde von Tag zu Tag düsterer, und dann setzten sich auch die Panzer vor Budapest in Marsch ...

In Wien registrierten die Seismographen mit Nachdruck das dumpfe, unheilverkündende Grollen der fernen und nahen Beben. Die Schatten der Vergangenheit drohten neues Leben anzunehmen. Ein Jahrzehnt ist eine zu kurze Zeit, um ein Volk vergessen zu lassen, was das Wort „Krieg“ in allen seinen Konsequenzen bedeutet. Dem Mitgefühl für den Kampf des Brudervolkes gesellte sich das Bangen um die eigene Zukunft hinzu. Warum es leugnen: der Welle der Hilfsbereitschaft folgte eine Spanne nervöser Unruhe. „Kommen sie — oder kommen sie nicht?“ Die Frage war mitunter in dieser deutlichen Form zu hören, wobei kein Zweifel bestand, wer unter „sie“ gemeint waren. Angstkäufe setzten ein, und wüßte man es nicht durch eigenen Lokalaugenschein bei Bekannten, man weigerte sich, es zu glauben: in Einzelfällen wurde sogar der Koffer reisefertig ans Bettende gestellt. Vorbei die schönen Tage des „Besatzungsbiedermeier“. Wer es noch bis gestern nicht wußte oder es dank einer jahrzehntelangen Gängelei an verschiedenfarbigen Bändern vergessen hatte, daß die Freiheit nicht ohne Risiko ist, der erfuhr es drastisch in diesen Wochen.

Man schelte jedoch nicht mehr den kleinen Mann, der um sein bißchen mühsam erarbeitete Habe bangt, der kaum einen anderen Wunsch hat als den einen: in Frieden leben. Man halte sich vielmehr an jene, die ein gerütteltes Maß an Schuld an der Nervenkrise von Teilen der österreichischen Bevölkerung auf ihr Konto verbuchen müssen.

Während die Regierung und in seiner Mehrheit auch das Volk von Oesterreich- die Prüfung der letzten Wochen bestanden hat, kann man dies von einem.Teil der österreichischen Presse — wir möchten nicht deutlicher werden — kaum behaupten.

Nichts gegen die Verdoppelung der Auflage einer Zeitung: Wir haben auch dafür volles Verständnis, daß ein Boulevardblatt keine intellektuelle Monatsrevue ist: aber Blut, Angst und Schrecken sind wahrhaftig kein honettes Geschäft^ Dabei wollen wir gar nicht annehmen, daß es zunächst den bewußten Redaktionen vor allem um den Kommerz gegangen ist. Die Leidenschaft eines entfesselten Journalismus mag dabei auch eine Rolle gespielt haben, die Jagd Kopf an Kopf mit dem Konkurrenzblatt kam hinzu — und der Verlagsdirektor hatte sicher gegen eine Erweiterung der Verdienstspanne nichts einzuwenden. Indessen war aber der Kässensaldo für Oesterreich passiv; die Nacfirrchtenzuträger im Lager des österreichischen Kommunismus an eine ausländische Macht bezogen ihr Rohmaterial nicht zuletzt aus den Spalten der bewußten Presseerzeugnisse. Ganz zu schweigen über die seltsamen, ja mitunter schon grotesken Interpretationen des völkerrechtlich eindeutigen Begriffes Neutralität in jenen Organen. Die Mahnung der Journalistengewerkschaft und dsn ernsten Appell des Bundeskanzlers sollte man “sich in bestimmten Redaktionen hinter den Spiegel stecken.

Denn das ist die eine Lehre dieser bewegten Wochen für Oesterreich. Mehr Selbstdisziplin aller, deren Beruf es ist, in der Oeffentlichkeit das Wort zu führen. Keine Silbe für eine Pressezensur, allein die verantwortungsbewußte Staatsführung könnte sich sonst gezwungen sehen, Mittel und Wege zu suchen, um in einer neuen Krisensituation ähnliche journalistische Amokläufe, die niemandem nutzen, sondern nur allen schaden, zu unterbinden. Und das wollen wir doch alle nicht;

Die vergangenen Tage haben auch erneut die Aufmerksamkeit auf das Bundesheer gelenkt. Der Ausbau einer kleinen, aber schlagkräftigen österreichischen Armee im Verein mit einer einsatzbereiten Exekutive hat seine Bestätigung gefunden. Nur muß man diesen auch wirklich ernst nehmen. Und das heißt Opferbringen, finanzielle Opfer. Die berechtigte Forderung nach Aufnahme von Waffenübungen in das Wehrgesetz hat außerdem psychologisch eine gute Stunde.

Nicht zuletzt aber beschleunigte die ungarische Tragödie auch einen ideologischen Klärungsprozeß dort, wo er bisher noch nicht ausgereift war. Durch den in Fachkreisen wohl bemerkten Schritt eines bekannten an der Spitze der Avantgarde stehenden Künstlers dürfte das österreichische Zentrum des P E N - K1 u b s jene Klärung nicht länger aufschieben, auf die nicht nur unsere McCarthys in Taschenformat warten.

„Was können wir tun?“ Nicht einmal, dutzendmal im Tag konnte man diese Frage im . düsteren November 1956 hören. Und die Antwort? Sie ist bescheiden, aber kaum durch eine andere, bessere, zu ersetzen.

Helfen, wo es geht und wie einer kann: das ist Menschenpflicht.

Unangefochten von aller Hysterie und Panikmacherei sein Tagwerk wachen Sinnes besorgen: Ruhe ist noch immer die erste Bürgerpflicht.

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