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Die Familie in der DDR

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Die Straßen von Chemnitz quollen über von Blauhemden. Das war im Maii vergangenen Jahres, Zum großen „Jugendparlament” waren sie zusammengekommen, Zehntausende in Sonderzügen. Spruchbänder, Fahnen, Chöre, Kapellen — man hatte keine Mühe gescheut, um die jungen Leute aus der FDJ zu begeistern. Die Reden peitschten zum Haß gegen Westdeutschland auf.

Im selben Monat versammelten sich die Jungen und Mädchen einer ostdeutschen Landeskirche. Im letzten Augenblick waren die versprochenen Sonderzüge abgesagt und selbst die in Aussicht gestellten Omnibusse gestrichen worden. Statt der erwarteten viertausend evangelischen Jugendlichen rechneten die Verantwortlichen mit höchstens der Hälfte der Besucher. Es geschah aber das Unfaßbare: Die Straßen und Plätze, die Massenquartiere und Privatwohnungen füllten sich. Als am Sonntag der Gottesdienst auf dem Marktplatz begann, standen an die Zehntausend ernst und gesammelt dort, sangen, beteten und opferten.

Auf demselben Platz — es war wohl mehr als ein Zufall — fand einige Monate später eine staatliche Feier aus Anlaß der 150. Wiederkehr jenes Tages statt, an dem junge Männer auf der Wartburg sich zum Burschenschaftsfest zusammengefunden hatten. Die Kinder wurden mit Fackeln ausgerüstet, von allen Seiten bewegten sich die Konvois und verliehen der Stadt einen festlichen Glanz. Wiederum standen mehrere Tausend unter der Tribüne, vorn die Fahnenträger. Wiederum tönten Stimmen aus dem Lautsprecher: Haß, Vergeltung, Selbstbehauptung.

Die echte Freiheit

Drei Bilder, aber mehr als dies. Wohin gehen die jungen Menschen in der DDR (Deutschen Demokratischen Republik)? Natürlich auch zu ihren Vergnügungen, die meisten obendrein in die Veranstaltungen der FDJ. Sie wissen, was sonst auf dem Spiel steht; Versetzung und Vorwärtskommen sind ebenso gefährdet wie Lehrlingsstelle und Studienplatz. Aber die ständige Uberfütterung mit großen Phrasen stumpft ab, macht lässig und fordert Kritik heraus. Darum gehen viele lieber in kirchliche Jugendkreise, in denen menschlich geredet wird. Nicht aus Reaktion — dazu gibt sich kaum ein junger Mensch mehr her, der weiß, daß er auf unabsehbare Zeit unter diesem System leben muß. Aber die verschlissenen Vokabeln Liebe, Gemeinschaft, Brüderlichkeit bekommen hier ihre Leuchtkraft zurück, hier werden Aufgaben am Mitmenschen gezeigt, hier ist wirklich Freiheit.

Die Eltern dieser jungen Menschen haben es schwerer. Sie sind in einer Zeit jung gewesen, da die Mehrzahl der Deutschen gleichfalls mit großen Phrasen gespeist wurde — und ihnen meist auch willig Gehör schenkte. Auf die Fragen ihrer Kinder, wie denn alles zu dem katastrophalen Kriegsende und der neuen Diktatur kommen konnte, haben sie darum keine befriedigende Antwort parat. So sicher die rqte und die braune Ideologie sich voneinander unterscheiden — so sicher konnte die rote nur siegen, weil die braune das Land in die Katastrophe geführt hatte. Familie war im Dritten Reich klein geschrieben, der Staat vereinnahmte die Menschen und führte sie seinen Zwecken zu. Daran hat sich in den kommunistischen Staaten nichts geändert.

Die jungen Menschen von heute spüren, daß sie von ihren Eltern mehr als nur materielle Starthilfe erwarten müssen — zumal der Staat sich in berufliche Fragen, Ausbildungsbeihilfen und finanzielle Absicherung sehr entscheidend einschaltet. In den schweren Jahren war es leichter. Da mußten die Kinder mithelfen, ein Mindestmaß an Nahrungsmitteln, Beheizung und Bekleidung zu beschaffen.

Die Notgemeinschaft bewährte sich und stellte keine großen Probleme. Weiterleben, oben bleiben, so gut und so schlecht es ging — das prägte die familiäre Sphäre, das erlebte der Gast aus dem Westen immer aufs neue, das hob die Familie drüben in unseren Augen zu einsamer Größe. Diese Jahre sind vorüber. Die Kleiderschränke füllten sich, Mann und Frau haben beide fleißig gearbeitet, die Löhne stiegen und die Ausbildungskosten für die Kinder waren gering. Jetzt heißt es, bei gehobenem Lebensstandard sich den gleichbleibenden Ansprüchen einer omnipotenten Staatsordnung anzupassen. Beide, Staat und Bürger, haben sich dabei noch nicht arrangieren können. Jetzt schlägt die Stunde der Familie.

Kontakte über TV

Der Bauer Wilhelm Dreher ist einer von den letzten seines Dorfes, der diesen Titel verdient. Er gehört dem sogenannten Typ I an. Auch seine Feldęr hat der Staat enteignet — und übrigens dabei eine erkleckliche Entschädigungssumme gezahlt —, aber in seinen Ställen stehen eigene Kühe, Kälber und Schweine. Seine Frau arbeitet, wie er, tagsüber auf den LPG-eigenen (Landwirtschaftliche Produktionsgemeinschaft) Feldern. Während dieser Zeit versorgt die achtzigjährige Großmutter das Anwesen. Die beiden Töchter kommen erst, wie die Eltern, abends von der Arbeit. Dann beginnt die gemeinsame Stallarbejt.

Und dann gehört ihnen der Abend. Er ist nicht lang, aber das reicht bei diesen fünf Menschen, um die innere und äußere Zusammengehörigkeit zu erneuern. Natürlich haben sie einen Fernseher, haben sie ein Radio, wie sollten sie sonst den Kontakt mit dem Westen behalten? Aber der Apparat hat bei ihnen, wie in den meisten Familien, die ich drüben kennenlernte, durchaus dienende Funktion. Das Vertrauen der Kinder zu ihren Eltern, bei aller gegenseitigen Kritik, ist groß, die Ablenkung durch billiges Amüsement gering; je intensiver der Staat die Wertordnung auf den Kopf stellt, desto klarer arbeitet diese Familie Menschlichkeit, Offenheit, Treue und Hilfsbereitschaft als Grundfunktionen gedeihlichen Auskommens in ihren Beziehungen heraus.

Wilhelm Dreher existiert in hunderttausendfacher Auflage in der DDR, in bäuerlichen wie kleinbürgerlichen Verhältnissen.

Den Spielraum nützen

Der Arbeiter Karl Lehmann kommt nach der Frühschicht um 15 Uhr nach Hause. Er ist seit vier Jahren verheiratet, seine Frau gerade 22 Jahre alt. Die beiden Kinder sind in der Krippe, ab 5.30 Uhr morgens, wenn die beiden Eltern in die Fabrik gehen. Der Lohn reicht für einen allein nicht aus. Die Wph nungen sind billig, die Lebensmittel erschwinglich, aber der Kühlschrank kostet 2000 Mark und das Motorrad, ihre ganze Sehnsucht, sogar dreitausend. So legen sie das Geld zusammen, gehen höchstens einmal zum Fernsehen in die nachbarliche Kneipe und im übrigen, wenn sie gerade gemeinsam frei haben, mit Kinderwagen und Kleinkind an der Hand spazieren. Um zehn Uhr abends liegen sie meist im Bett. Bücher lesen sie selten, Karl Lehmann hat sich im Keller eine Werkstatt eingerichtet und verdient sich mit hübschen Messingarbeiten noch Geld dazu.

Der Arzt Dr. Emst Knappe gehört zu den Privilegierten dieses Staates, ohne jedoch eine Spur stärker politisch engagiert zu sein. Seine Kinder, drei an der Zahl, dürfen studieren, das jüngste geht noch zur Schule. Geselligkeit ist bei Knappes groß geschrieben, aber die Auswahl dafür streng. Hier wird ernsthaft und mit Leidenschaft abends diskutiert rm man weiß, wer der Gast ist. Die Kontakte zum Westen sind stark, viele Kollegen sind drüben, uncj auf Reisen haben die Eltern früher Österreich, Italien und die Schweiz lieben gelernt. Sie wissen, daß sie Gefangene sind, aber sie wollen nicht ständig darauf angesprochen werden. Sie nützen den Spiel- rauip, der ihnen bleibt, möglichst sinnvoll.

Die Beispiele wäret irreführend, würde nicht gleich hinzugefügt, daß der größer werdende Wohlstand von zahllosen lediglich zu größerer Ausschweifung mißbraucht wird. Es gibt keine Ventile für den Überdruck an Lebensfreude, als Alkohol und Sexualität. So konstatiert der Gast aus dem Westen, daß, entgegen der landläufigen Meinung, „drüben” die Moral bedenklich im Sinken ist. Di Scheidungen werden leicht gemacht, ihre Ziffer ist hoch. Uneheliche Kinder sind völlig den ehelichen gleichgestellt, und die Erzeuger haben wenig Pflichten für sie. Frühehen sind an der Tagesordnung, und je teurer die Hotels sind, desto weniger ist man daran interessiert, ob die Gäste verheiratet sind. Die Familie ist bedroht: Von außen durch die Ansprüche des omnipotenten Staates. Diese Bedrohung ist aber auch zugleich ihre Chance, wir sahen: Viele nehmen sie wahr. Aber sie ist in zunehmendem Maß auch von innen bedroht. Jetzt erst, nach zwanzig Jahren, erweist sich, daß die radikale Säkularisierung, die der Staat betreibt, langsam aber sicher auch die wertsetzenden Maßstäbe des Glaubens beseitigt. Er kann sich dessen gewiß nicht freuen, hat auch nichts Gleichwertiges anzubieten und weiß wohl, warum er, wenn auch nur halben Herzens, die Jugendarbeit der Kirchen nicht völlig unterbindet Zehntausend junge Menschen bei einem öffentlichen Gottesdienst — das sind vielleicht schon übermorgen fünftausend junge, intakte Familien.

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