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Die Fanatiker sind unter uns

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Schwierigkeiten mit Fanatikern hatte die Menschheit zu allen Zeiten. Heute sehen wir von neuem rund um uns Fanatismen ihre blutige Spur ziehen. Ob im als .sanft und verständnisvoll gerühmten hindui-stischen Indien, im moslemischen Raum, im phlegmatischen England, der biederen Schweiz oder unserem gemütlichen Österreich. Gewalt, Terror und blinder Mord aus Uberzeugung quellen ins gesellschaftliche Gefüge. Bis hin zu einer neuen Überschwemmung der Welt mit fanatischer Gewalt?

Günter Hole, Psychiater und Theologe, hat in einem kleinen, aber gewichtigen Band („Fanatismus -Der Drang zum Extrem und seine psychologischen Wurzeln”) Ursachen und Wirkungsweisen definiert und über die Analyse historischer und aktueller Beispiele, von den Wiedertäufern von Münster über Calvin, Robespierre, Hitler und Kho-meini bis zur deutschen RAF und den Skinheads, verständlich gemacht. Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, sich der Erscheinungsformen des Fanatismus dauernd zu erwehren? Wie wird man Skinheads, islamistischer Ritualmörder oder der Bombenmörder von Oberwart Herr?

Häufig wird Fanatismus mit Fun-damentalismus gleichgesetzt. Ein Irrtum, meint Hole. Fundamentalismus definiert er als „überzeugungs-geleitete Einstellung auf einen vorgegebenen Grundwert, eine Grundanschauung ... die nicht mehr in Frage gestellt werden dürfen”. Fanatismus dagegen sei „eine durch die Persönlichkeitsstruktur mitbedingte, auf eingeengte Inhalte und Werte bezogene persönliche Überzeugung von hohem Identifizierungsgrad, die mit stärkster ... Konsequenz ... verfolgt wird, wobei Dialog- und Kompromißunfähigkeit mit anderen Systemen und Menschen besteht, die als Außenfeinde ... in Konformität mit dem eigenen Gewissen bekämpft werden können”. Also bis hin zum Ritualmord, zur Gaskammer oder dem kollektiven Selbstmord.

Leute wie du und ich

Letzterer zeigt, mehr als alle exotischen Beispiele, wie nahe auch uns der Fanatismus kommen kann, daß in jedem von uns ein mehr oder minder großes Stück Fanatismus schlummern kann. Wie ist es möglich, daß ein solider kanadischer Bürgermeister, eine brave Journalistin, ein Schweizer Bankdirektor zusammen mit ein paar Dutzend ähnlichen Personen rituale Morde und schließlich kollektiven Selbstmord begingen, geschehen in der Schweiz und Kanada im letzten Jahr? Der Fall zeigt übrigens, wie nützlich dieses Buch zur konkreten Einschätzung von sonst unverständlichen dramatischen Erscheinungen des Fanatismus sein kann. Zwei Grundtypen stellt Hole heraus: den „essentiellen Fanatiker”, der führt, und den „induzierten Fanatiker”, der nachläuft.

Bei den Mitgliedern des Schweizerisch-kanadischen Ordens der Sonnentempler weist der Sektenführer Josef Di Mambro alle Züge des essentiellen Fanatikers auf: ein Mensch, der „primär den Drang entwickelt, überzeugende Ideen welcher Art auch immer fanatisch zu verfolgen”. Ebenso die oben erwähnten induzierten Fanatiker, die aus „zunächst unauffälligen, psy-

chisch durchschnittlich strukturierten und sozial angepaßten Menschengruppen” stammen. Aber heißt das, daß wir alle potentielle Fanatiker, also Ritual- oder Selbstmörder sind? Schließlich, die NSDAP bestand ja auch nicht aus ein paar Psychopathen, sondern vor allem aus zunächst unauffälligen, durchschnittlich strukturierten und sozial angepaßten Deutschen und Österreichern.

Wenn man sich die Liste der Eigenschaften ansieht, welche den potentiellen Fanatiker ausmachen, gibt es eine Gemeinsamkeit bei führenden und mitlaufenden Typen: „Menschen, die fanatisch ergriffen werden, haben hohe Werte und Ideale auf ihre Fahnen geschrieben. Sie sind überzeugt, ... an der ... Beglückung der Menschheit mitzuwirken”. Und vor allem, sie sind von inneren Schwächen und Zweifeln geplagt, die sie überkompensieren. Doch bald trennen sich die Typen.

Die Führer sind durchwegs „stoßkräftige, expansive Ideen-Fanatiker, teilweise auch aktive persönliche Interessen-Fanatiker”. Für sie „darf nichts existieren, was ... die für sie typische Kompromißlosigkeit gefährden könnte”. Sie „kennen nur die Möglichkeit schroffer Abgrenzung und der Entweder-Oder-Einstellung ... Im Zuge der fanatischen Intensität und Durchsetzung wird daraus dann ... die Ausrottung des ,Bösen'”.

Typologie des Mitläufers

Dahinter kommen in Holes Einteilung dann die Typen, welche das Heer der Mitläufer stellen. Die „stillen, introvertierten Überzeugungs-Fanatiker”, die „dumpfen, verschwommenen Gruppen-Fanatiker” und die „konformen, abhängigen Linien-Fanatiker”. Und natürlich gibt es die Mischtypen. Doch sie alle halten sich, „einfach ausgedrückt, für

,rein' und ,gut', weil das ,Unreine' und das ,Böse' projektiv an die Gegenseite delegiert ist und dort bekämpft wird, - im Sinn der ... Funktion des ,Sündenbocks'”.

Jede Gesellschaft ist gezwungen, will sie sich selbst erhalten, die Führertypen weitgehend zu neutralisieren. Das braucht nur im Extremfall mit Gewalt zu geschehen. Wenn einem Führer die Truppen weglaufen, wird der Führer schnell zum Sonder-

Ob in der Vergangenheit oder Gegenwart, so gut wie alle Fälle von fanatischen Ausbrüchen fallen in Zeiten gesellschaftlicher Krisen. Die Arbeitslosigkeit der dreißiger Jahre und damit verbunden der Zweifel an der Gültigkeit der gesellschaftlichen Werte gaben das fruchtbare Umfeld ab, in dem die Versprechungen der Nazis nicht nur aufnahmebereite Zuhörer fanden, sondern eine genügend große Zahl von Menschen, die bereit waren, ihr Leben hinzugeben, um der guten Sache zum Sieg zu verhelfen. Leider nicht nur ihr Leben hinzugeben, sondern auch das Leben derjenigen, die dem Endsieg im Wege stehen konnten.

Toleranz auf allen Ebenen

Ähnlich die Ausgangspositionen in anderen Gesellschaften. Bei der enormen allgemeinen Not in Indien war es den radikalen Hinduführern ein leichtes, im Dezember 1992 hunderttausende Gläubige nach Ayod-hya zu bringen, um eine Moschee zu schleifen und an ihrer Stelle einen Tempel zu Ehren Bamas zu errichten. Die Führer der extremistischen Parteien versprachen ein neues Hindu-Reich, wenn der Bau durchgeführt werde, ein neues goldenes Hindu-Zeitalter. Tausende Moslems und Hindus fielen dem Wahnsinn zum Opfer, brachten sich gegenseitg um, zweifellos auch sie „zunächst unauffällige, durchschnittlich strukturierte und sozial angepaßte” Menschen. Gesellschaftliche Krisen führen auch in vielen mohammedanischen Ländern zum Aufschwung fanatischer Heilsbewegungen, die bedenkenlos - weil guten Gewissens - Menschen

töten, die eine andere Meinung haben, etwa Frauen, die nicht willens sind, sich auf Küche und Kinder zu beschränken und einen Schleier zu tragen.

Trotzdem, die Führer samt ihren Mitläufer stellen stets nur einen geringen Prozentsatz der Bevölkerung dar. Ihr Ziel muß es daher stets sein, die jeweilige Gesellschaft zu destabilisieren, um im Chaos eine Möglichkeit zu finden, an die Macht zu kommen.

Günter Hole hat wenig leicht Durchführbares zu bieten, wenn es um die Abwehr des Fanatismus

f;ht. Er fordert, Toleranz auf allen benen zu praktizieren, vor allem die Erziehung unserer Kinder zur Toleranz verlangt er, deswegen aber noch lange keine Prinzipienlosigkeit. Auch er sieht klar die Grenzen der Toleranz, nämlich dort, wo sie der fanatischen Intoleranz gegenübersteht.

Einfallslose Intellektuelle

Doch Hole ist vornehmlich Psychiater und die gesellschaftliche Domäne ist nicht das Gebiet, das er in seinem Buch behandelt. Unsere heutige Gesellschaft schlittert zur Zeit in eine Sinnkrise, die vielen potentiellen Fanatikern den Nährboden für das gewaltsame Vorantreiben ihrer Heilsideologien bietet und weiter bieten wird.

Gleichzeitig ist festzustellen, daß die Intellektuellen, von denen stets neue Ideen kommen, welche von den Politikern dann in die Praxis umgesetzt werden können, erstaunlich einfallslos der Situation gegenüberstehen. Die Linken haben noch nicht verdaut, daß ihre Ideen auf Dauer nirgendwo positive Ergebnisse brachten, die Rechten verstehen die Welt insofern nicht mehr, als der offenbare Sieg ihrer Ideen in der Praxis das Gegenteil der erwarteten Ergebnisse bringt.

Im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert kam es zu einem Höhepunkt von Ausbrüchen dieser traurigen Seite der menschlichen Natur, und das zunächst bei den Deutschen, einem Volk, das wahrlich nicht als barbarisch bekannt war, sondern ganz im Gegenteil zur Gruppe der Völker gehörte, die man gemeinhin als an der Spitze kultureller Entwicklung stehend ansah. Einige Jahrzehnte lang schien die Menschheit genügend traumatisiert, um sich auf sanftere Lebensformen umzustellen.

Eine nach der anderen brachen die Machtstrukturen zusammen, die auf der Grundlage geeigneter Heilsideologien von Fanatikern errichtet wurden. Aller Überzeugung, absolut recht zu haben, zum Trotz, schafften sie es auf lange Sicht noch in keinem Fall, die Probleme ihrer Gesellschaften zumindest soweit zu lösen, daß deren Überleben sichergestellt werden konnte. Sie brachen nach einigen Jahrzehnten aus innerer Schwäche zusammen.

Die kommenden Jahre werden zeigen, in welcher Richtung die Menschheit auf die Herausforderungen der Krise reagiert - mit Entstehung und Sieg einer neuen Heilsideologie oder mit der Entwicklung von Ideen und konzeptuellen Werkzeugen, die es gestatten, die gesellschaftlichen Probleme bei aller Un-vollkommenheit soweit zu lösen, daß wir mit einiger Zuversicht ins neue Jahrtausend eintreten können.

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