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Die „Faust im Nacken“

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Kennzeichen des amerikanischen Kapitalismus ist, höchsten Gewinn nicht durch höchste Preise, sondern durch größten Umsatz anzustreben. Das führt zum Siege der Quantität über die Qualität, zum Vordringen der guten Mittelware: in Essen, Kleidung, Wohnung, Bildung. Das erfordert große Konsumentenmassen mittlerer Einkommen. Die unteren Schichten werden in sie hinaufgezogen, die oberen, durch Steuern und Verteuerung von Ausnahmsgütern- und -leistungen, in sie heruntergedrückt. Die Pyramide verflacht sich, die Unterschiede im Konsum von oben und unten verringern sich, man nähert sich dem Ideal der Wirtschaftsdemokratie.

Nutznießer dieses Prozesses sind die 64 Millionen Dienstnehmer, Arbeiter und Angestellten. Man ist entweder arbeitslos — heute nur 2 unter 165 Millionen, und auch das ist keine echte, sondern eine erzwungene oder Scheinarbeitslosigkeit — oder hat als Dienstnehmer ein Einkommen, das trotz der teuren Preise ein behagliches Dasein sichert. Es übersteigt das der unteren Schichten der Arbeitgeber. Das Durchschnittseinkommen des Arbeiters bewegt sich um 5000 Dollar, Einkommen zwischen 10.000 und 15 000 Dollar sind für qualifizierte Arbeiter durchaus erreichbar. Die Union der Cadillac-Verkäufer wies kürzlich anläßlich eines Streiks auf Durchschnittseinkommen von 17.000 und Höchsteinkommen von 40.000 Dollar hin. Das ist dadurch möglich, daß jeder Arbeiter durchschnittlich auf einem Kapitalsockel von 12.000 Dollar steht, der dem Kapitalisten, der ihn beistellt, im Jahr nur etwa 600 Dollar trägt und sich um 300 Dollar erhöht — die Dollarentwertung nicht berücksichtigt.

Diese Dienstnehmer sind nicht Proletarier, sondern Bürgerliche. Der Unterschied liegt in der Anlegung von Reserven. Sie haben ihre Häuser und Autos, Versicherungspolizzen und, in jüngster Zeit, Aktien, die sie in Raten abzahlen. Das Ende jeder Periode sieht sie reicher als der Anfang. Das schützt sie gegen den Charakterfehler des Proletariats, den Neid, und öffnet sie dem des Kapitals, der Gier. Der starke Auftrieb, der die Vereinigten Staaten so gehoben hat, läßt den Dienstnehmer mit dem besten Einkommen nicht zufrieden sein, er will mehr haben. Mehr, um mehr Konsumgüter zu kaufen, um seine Ersparnisse zu vergrößern, um seine Kinder ins College zu schicken, um sich selbst und seiner Familie zu beweisen, daß er vorwärts kommt.

Diese Erfolge mußten aber teuer, manche sagen, zu teuer, erkauft werden. Die Hörigkeit gegenüber dem Dienstgeber, die noch vor zwei Generationen bestand, aber durch die Freiheit des Dienstwechsels gemildert war, hat sich in eine Hörigkeit gegenüber der eigenen Organisation, verschärft durch Hemmungen der Freizügigkeit, gewandelt.

Eine Substitution des Grundes hat, unbemerkt von den meisten, Wesen und Ziele der amerikanischen Unions geändert. Von Organisationen zur Vertretung vgn Arbeiterinteressen sind sie Geschäftsunternehmen geworden, deren Betriebskapital diese Vertretung ist, deren Anlagekapital Vermögensansammlungen sind — heute schon über 10 Milliarden, jährlich steuerfrei um eine halbe Milliarde vermehrt —, die nur zum Teil Arbeiterzwecken dienen. Ihr Ziel hat sich verengt: es ist nicht mehr das Interesse der Arbeiterschaft wie zur Zeit von Gompers, sondern mehr Geld für die eigenen Mitglieder, auf Kosten anderer Dienstnehmer, mehr Macht für ihre Führer, in Geschäftskonkurrenz mit ande-

ren Arbeiterführern. Die Mittel dazu sind: nach außen Monopol, nach innen blinder Gehorsam.

Dem Monopol .dienen: closed shop, union shop (die mit dem bei den Vereinten Nationen so hoch gepriesenen „Menschenrecht auf Arbeit“ nicht vereinbar sind), jurisdiktionelle und sekundäre Streiks. Das alles zielt darauf ab, Mitgliedern anderer Unions oder freien Arbeitern (immer noch drei Viertel der Dienst-

nehmer) Arbeit wegzunehmen. Nur der soll arbeiten dürfen, der sich dieser und keiner anderen konkurrierenden Union anschließt, das heißt voll und ganz unterwirft.

Der blinde Gehorsam wird mit Mitteln angestrebt, die an die übelste Zeit der Finanzbarone erinnern. Unbotmäßigkeit, ja bloße Kritik, wird mit Geldstrafen und Ausschluß unterdrückt, auch wenn er den Verlust des Broterwerbes bedeutet; die Gerichte gewähren keinen Schutz gegen diesen Mißbrauch der „Unionsautonomie“. Keine Steuer wird so drakonisch eingetrieben wie der Unionsbeitrag und Beiträge zu diktierten, mitunter politischen, Sonderzwecken, die das Mitglied keineswegs zu billigen braucht. Wirkliche Vereinsdemokratie ist eine Ausnahme; viele Unions werden von einer kleinen Gruppe beherrscht, Vereinsversammlungen werden jahrelang nicht abgehalten, Rechenschaft wird nicht erstattet, Stellen werden auf Jahre, ja Jahrzehnte hinaus verteilt. Treue zur Union wird allen Bürgerpflichten vorangestellt, der Schutz der Verfassung für den amerikanischen Bürger gegen seine Regierung versagt für das Unionsmitglied gegenüber seiner Unionsleitung. Unbotmäßigkeit, ja bloß das von der Verfassung so hochgehaltene freie Wort, wird oft mit brutaler Gewalt, Körper- und Sachbeschädigung, Mord und Sprengstoffattentaten bestraft.

Gewiß, es geht nicht bei allen Unions so zu. Aber bei so vielen, daß man nicht mehr von Ausnahmen sprechen kann. Sie sind häufiger als jene, bei denen keiner dieser Mißbräuche vorkommt. Diese sind allgemein bekannt, werden gerügt und bedauert. Aber in Arbeitsstreitigkeiten ist das Strafgesetz praktisch suspendiert — sowohl zum Schutze von Dienstgebern als von unbotmäßigen Dienstnehmern. Dabei ist gar nicht an jene Unions gedacht, die wirklich noch zu den Ausnahmen gehören, die, von bekannten Verbrechern zu grundsätzlich verbrecherischen Zielen organisiert, von den anständigen Unions nur zu oft unter dem Schlagwort der Arbeitersolidarität unterstützt werden. Die Aufzählung von Beispielen würde zu weitläufig sein; hier sind sie so geläufig, daß man sie nicht aufzuzählen braucht.

Beispiele für die gewaltigen Summen, die mit diesen Methoden angesammelt und, von Arbeiterzwecken abgespaltet, für Macht und Einkommen der Führer verwendet werden, würden Bände füllen. Die amerikanische Oeffentlichkeit kennt sie, aber sie ist sich noch nicht recht bewußt, daß sie von allen Konsumenten einschließlich der 16 Millionen in und 48 Millionen außerhalb der Unions stehenden Dienstnehmern subventioniert werden müssen. Der Kohlenarbeiterzar Lewis, der neben einem fürstlichen Gehalt, über zwei Prunkwohnungen in Washington und New York, Cadillac mit Chauffeur und Reisespesen verfügt, hat von den 800 Millionen Wohlfahrtsbeiträgen der Industrie nur 700, unkontrolliert und nach Willkür, unter seine folgsamen Mitglieder verteilt,

100 Millionen aber zum Ankauf zweier Banken in Washington verwendet, und kontrolliert heute die größte Bank der Hauptstadt. Der Präsident der Union der Lastwagenchauffeure, Beck, hat mit der Kapitalsmacht seiner Union entscheidend in den Majoritätskampf bei Mont-gomery Ward eingegriffen, hat die Frühauf-Gesellschaft finanziert und mit dem Luxustrieb eines Cinquecento-Mäzens den größten Prunkpalast in Washington aufgebaut. So verfügt er über zwei Prunkwohnungen, die andere in seinem Hause an der Westküste, das die Union ihm abgekauft und zur freien Benützung überlassen hat. Auch sein Vorgänger hat neben einer reichlichen Pension zwei Prachtvillen in Miami und New York geschenkt bekommen.

Vom Rundfunk bis zur Bäckerei, vom Realitätengeschäft bis zur Landwirtschaft gibt es keinen Zweig, der nicht von Unions betrieben würde. Der Unionszwang wirkt sich oft als unlauterer Wettbewerb aus. Es ist nur eine milde

Pikanterie, daß manche Unions ihren eigenen Angestellten die Rechte verwehren, die sie selbst für ihre Mitglieder mit energischer Propaganda durchsetzen. Darin werden sie von den Gerichten als „Wohlfahrtsunternehmen“ geschützt.

Neben ihren thesaurierten Vermögen von über

10 Milliarden gibt es noch die Wohlfahrts* und Pensionsfonds, die in wenigen Jahren über

11 Milliarden angesammelt haben und regelmäßig in der Verwaltung der Unionsführer stehen. Diese Kapitalsmassen spielen schon auf der Börse eine bedeutende Rolle. 1954 betrugen ihre Käufe und Verkäufe von Wertpapieren 800 Millionen.

So erhebt sich auf Grund der gestiegenen Arbeitereinkommen, neben ihnen, von den Konsumenten alimentiert, eine gewaltige Kapitalsmasse, besser geleitet, besser angelegt, jäh wachsend, die immer mehr wirtschaftliche Macht in die Hände der Arbeiterführer legt. Sie macht die Führer immer unabhängiger von den Mitgliedern, und die Mitglieder, alle Dienstgeber und Konsumenten immer mehr abhängig von den Führern. Das führt die amerikanischen Arbeiter auf einen Weg, der schon oft von Gruppen gegangen wurde, die sich nicht über das „Quo vadis“ Rechenschaft ablegten.

Die Dienstnehmer der Vereinigten Staaten erkaufen Wohlstand — der ihnen auch sonst mit dem Aufstieg des Landes, in kleineren Ziffern, aber in besseren Dollars, zukäme — mit Verlust ihrer Freiheit an rechtlich unkontrollierte und wirtschaftlich auf Kosten aller Konsumenten wachsende Organisationen. Ihre Führer gewinnen immer mehr Macht über sie und durch sie in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft.

Dieser Prozeß wird bisher nur wenig erkannt. Doch mehren sich die warnenden Stimmen, die sich gegen den einen oder anderen Uebelstand richten. Es ist aber ein Kennzeichen der amerikanischen Gesellschaft und eine Funktion des freien Wortes, daß die Erkenntnis von Gefahren sich wohl spät, aber dann plötzlich durchsetzt. Das macht die Heilmittel gewaltsamer, als wenn sie früher angewendet worden wären, und bestimmt die starken Schwankungen in Wirtschaft und Recht. Es ist kaum vorauszusagen, wie lange es dauern wird, bis die Mehrheit des amerikanischen Volkes sich dieser Gefahren bewußt wird, wohl aber, daß es dann nicht lange dauern wird, bis es sie radikal steuert.

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