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Die Frage des Laizismus
Wir haben zwar aus unseren wiederholten Begegnungen mit Gaston Defferre den Eindruck gewonnen, daß sein Dynamismus und seine politische Produktivität oft überschätzt werden; aber es steht außer Frage, daß er sich im Bereich der „Public relations“ und der psychologischen Massenbehandlung a,ls gelehriger Schüler hervorragender Sachverständiger erwiesen hat: Die Routine hat ihm bereits gezeigt, daß man mit der laizistischen Frage im Jahre 1965 keinen Hund hinter dem Ofen hervorzulocken vermag — sowohl bei den eigenen Parteigängern als auch bei den Radikalen. Seine Gegner bedienen sich dieses verstaubten „Problems“ höchstens als Fangfrage, um ihn in öffentlichen Diskussionen in Verlegenheit zu bringen. Er ist darauf vorbereitet und formuliert seine Erwiderungen in einer Weise, wie man Fragen lästiger Pharisäer zu beantworten pflegt.
Deshalb war Guy Mollets Intervention in diesem Bereich mehr als ungeschickt, wenn man sich auch kaum vorstellen kann, daß er Defferre in den Augen der volks-
republikanischen Verhandlungspartner bewußt zu diskreditieren beabsichtigte. Diese haben jedoch im Hinblick auf ihre katholischen Wähler das eigensinnige Beharren des sozialistischen Generalsekretärs als Warnschuß empfunden und nicht als bloße Dickköpflgkeit eines alten Mannes, der seine Ideologie durch Beschwörung längst begrabener Gespenster unzeitgemäß zu rechtfertigen versucht.
Mollets „Sorgen“
Was hat nun Guy Mollet in seiner langen Rede in Clichy konkret gesagt? Anfangs versicherte er, daß er einer Erneuerung des französischen Sozialismus nicht ablehnend gegenüberstehe, vorausgesetzt, daß man nicht an eine Änderung der Doktrin denke. Nachdem er den neuen Bankkapitalismus als besonders gefährlichen Feind der Gesellschaft apostrophiert hatte, hielt er es für angebracht, einige antikirchliche Ausfälle zu starten: „Die Laizität erscheint heute wie eine beschämende Krankheit“, sagte er, „man wagt nicht, über sie zu sprechen. Stört der Laizismus des Staates und der Schule
jemanden in der Partei?“ Und der Generalsekretär fuhr fort: „Warum sollte ein Präsident der Republik keine Religion ausüben? Aber ich lehne es ab, wenn man es unternimmt, aus Frankreich die älteste Tochter der Kirche zu machen.“ Mollet zählte Beispiele auf, in denen offizielle Manifestationen in Gegenwart des Staatspräsidenten mit Zeremonien der katholischen Kirche verbunden gewesen seien. Die Trennung von Kirche und Staat beginne zu verschwinden, klagte der Redner.
Nachdem er schließlich de Gaulle den Vorwurf gemacht hatte, überall den „Maurassismus“ eingeführt zu haben, erklärte der alte Sozialistenführer wörtlich: „Ich sehe in Frankreich vier große Familien: Die Kommunisten, die radikale Rechte, die größtenteils antidemokratisch ist, die liberalen Demokraten, die sich an die politische Demokratie gebunden fühlen, und die sozialistischen Demokraten, die für eine progressive sozialistische Wirtschaft eintreten. Man wird vielleicht einwenden, daß ich die christlichen Demokraten vergessen hätte. Aber ich spreche ja von politischen und nicht von religiösen Familien. Menschen, die an den gleichen Gott glauben, treffen sich in der gleichen Kirche. Ich sehe nicht ein, warum sie sich in der gleichen Partei treffen sollten ...“
Die Zukunft der SFIO
Zum Schluß sprach der Generalsekretär von der progressiv zum Liberalismus tendierenden Entwicklung der Kommunistischen Partei Frankreichs, um dann rhetorisch an Defferre und die Anhänger der Federation die Frage zu richten: „Wollen Sie, daß Ihre Entschließung die Wähler der Arbeiterschaft dazu bringt, die Einheit der Kommunisten um ihre härtesten Exponenten wieder herzustellen?“
Diese letzte Argumentation wird von niemandem besonders ernst genommen, denn der jahrelange Versuch Mollets, in inoffiziellen Kontakten mit den Kommunisten eine gemeinsame Aktionsbasis zu finden, haben nicht zum Erfolg geführt. Die vor 45 Jahren in Tours aufgerissene Kluft ist weder durch das Volksfrontexperiment vor dem zweiten Weltkrieg noch durch die Zusammenarbeit sozialistischer und kommunistischer Widerstandsgrupperi während der Besatzungszeit überbrückt worden, denn die Kommunisten beharrten ungeachtet aller Scheinkonzessionen auf ihrem Anspruch der Führungspriorität. Zum Selbstmord konnten sich aber die Sozialisten nicht entschließen; sie zogen es vor, langsam dahinzuvegetieren und auf ein Wunder zu hoffen. Dieses Wunder glauben nun die Anhänger Defferres in der praktischen Aktion einer umfassenden sozialen Erneuerung zu erblicken, nachdem sich die Massen für gleichweiche traditionelle Ideologien und Doktrinen nicht mehr zu erwärmen vermögen. Die Frage, ob die SFIO überhaupt Aussicht hat zu überleben, ist das Thema einer weiteren Abhandlung.
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