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Die Frage nach dem zweiten Hitler

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Wie verschieden auch das deutsche Wahlergebnis vom 28. September und vor allem die nunmehrige Regierungskoalition in Ost und West, innerhalb und außerhalb der Grenzen der Bundesrepublik, beurteilt werden: immer noch, trotz allem und auch vor allem ist und bleibt das Aufatmen darüber fühlbar, daß es der NPD nicht gelungen ist, die Hürde zum Bundestag zu nehmen. Die Tatsache, daß trotz beträchtlicher Aufwendungen an Kapital, Energie, psychologischer Taktik und an Versuchen, durch Terror zu imponieren, keiner der Mannen von Thaddens Sitz und Stimme in der Bundesgesetzgebung hat, mag dem Image der Deutschen in aller Welt mehr nützen als so manche Geste der Bewältigung der Vergangenheit. Ob und inwieweit die NPD direkt und unmittelbar mit dem Nazismus gleichgesetzt werden kann, mag dabei ruhig dem politischen Experten zur Beantwortung überlassen bleiben. Daß die Assoziationen nicht ganz zufällig sind und die extreme Rechte Thaddenscher Prägung jedenfalls nur mit äußerstem Mißtrauen zu betrachten ist, bedarf keiner sonderlichen Erklärung. Wesentlicher erscheint die doppelte Frage: Bedeuten die 1,422.106 Stimmen wirklich eine für die nächste Zeit endgültige Bannung der Gefahr, und ist eine potentielle Wiederbelebung des Nationalsozialismus denn an diese eine formierte Partei und nur an sie gebunden?

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Wie verschieden auch das deutsche Wahlergebnis vom 28. September und vor allem die nunmehrige Regierungskoalition in Ost und West, innerhalb und außerhalb der Grenzen der Bundesrepublik, beurteilt werden: immer noch, trotz allem und auch vor allem ist und bleibt das Aufatmen darüber fühlbar, daß es der NPD nicht gelungen ist, die Hürde zum Bundestag zu nehmen. Die Tatsache, daß trotz beträchtlicher Aufwendungen an Kapital, Energie, psychologischer Taktik und an Versuchen, durch Terror zu imponieren, keiner der Mannen von Thaddens Sitz und Stimme in der Bundesgesetzgebung hat, mag dem Image der Deutschen in aller Welt mehr nützen als so manche Geste der Bewältigung der Vergangenheit. Ob und inwieweit die NPD direkt und unmittelbar mit dem Nazismus gleichgesetzt werden kann, mag dabei ruhig dem politischen Experten zur Beantwortung überlassen bleiben. Daß die Assoziationen nicht ganz zufällig sind und die extreme Rechte Thaddenscher Prägung jedenfalls nur mit äußerstem Mißtrauen zu betrachten ist, bedarf keiner sonderlichen Erklärung. Wesentlicher erscheint die doppelte Frage: Bedeuten die 1,422.106 Stimmen wirklich eine für die nächste Zeit endgültige Bannung der Gefahr, und ist eine potentielle Wiederbelebung des Nationalsozialismus denn an diese eine formierte Partei und nur an sie gebunden?

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Im Rückblick auf allenfalls vergleichbare Situationen der NSDAP vor 1933 ergeben sich diesbezüglich nicht nur optimistische Aspekte. Und gerade die Tage um den 9. November sind, auch wenn man nicht an eine allfällige „Magie von Daten“ glaubt, Anlaß genug zu einem solchen Rückblick. Dem Angehörigen der mittleren Generation ruft dieses Datum primär zwei Ereignisse in Erinnerung: den Marsch zur Feldherrenhalle am 9. November 1923, der trotz des Scheiterns der Putschabsichten ein Markstein in der weiteren Entwicklung des Nationalsozialismus wurde, und die grauenvollen Ereignisse der „Kristallnacht“ in der Folge des arrangierten Grynszpan- Attentats auf Ernst von Rath in Paris, 1938. Dem ebenso fadenscheinigen wie tragischen Alibi, das für die bis dahin stärksten und systematischesten Ausschreitungen gegen die Juden aufgebaut worden war, entsprach ein Jahr später exakt der ähnliche Anlaß für die Haßkampagne gegen Großbritannien nach dem „Attentat“ im Bürgerbräukeller (8. November), das zugleich dokumentieren sollte, wie sehr der „Führer“ unter dem direkten Schutz der „Vorsehung“ stehe. War es 1985 dem Autor und ehemaligen jugoslawischen Korrespondenten Edouard Calic („Himmler et son empire“, Stock-Opera Mundi, Paris) gegeben, ein neues Licht auf die Ereignisse vor und um den 8. und 9. November

1939 fallen zu lassen, so enthält die soeben erschienene Neuauflage der Hindenburg-Biographie von John W. Wheeler-Bennett („Der hölzerne Titan“, Rainer-Wunderlich-Verlag, Tübingen, im englischen Original erstmals 1939 erschienen) einen direkten Hinweis auf die Ereignisse des 9. November 1918 in Spa, aus denen der Engländer sehr plausibel die Bedeutung des „Gespenstes von Spa“, nämlich die bis zum Ende unbewältigt bleibende Erinnerung Hindenburgs an sein eigenes Verhalten dem deutschen Kaiser gegenüber, für die weitere Entwicklung der deutschen Geschichte bis zur Kanzlerschaft Hitlers und damit zum Ausgangspunkt der Welt- und der deutschen Katastrophe entwickelt „Wenn“-Fragen angesichts historischer Fakten sind ebenso illegitim wie illusorisch und beides noch mehr, wenn eine Entwicklung so wenig von einem Einzelmenschen abhängt wie die Machtergreifung Hitlers von der Person des Paul von Hindenburg. Dennoch liegt ein Schluß nahe: Wenn die Präsidentschaft Hindenburgs im allgemeinen und ganz besonders bezüglich seiner Rolle bei der Berufung Hitlers zum Reichskanzler tatsächlich sehr wesentlich mitbeeinflußt war von der Bewältigung oder Nichtbewältigung des seinerzeitigen Verhaltens eines Offiziers zu seinem Kaiser, so mag in anderen Politikern und vielleicht in einem ganzen Volk eine ähnliche Nichtbewältigung, ein ähnliches Leben-müssen mit einem „Gespenst von Spa“ zu ähnlich bedrohlichen Ergebnissen führen.

So gesehen, verliert die Wahlniederlage der Thadden-Partei einigermaßen an Bedeutung als eine Art Garantie. Abgesehen davon, daß die Stimmenzahlen des 28. September 1969 in der Relation denen nach dem mißglückten Putsch des „Feld- hermhallentags“ ein wenig anders aussehen als in Beziehung zu den Erfolgen demokratischer Gegenwartsparteien. Denn das Jahr 1924 brachte in den beiden Wahlen den Nationalsozialisten einmal 1,9 Millionen Stimmen und 32 von 472 Sitzen, beim nächsten Wahlgang aber nur noch 908.087 und damit 14 Sitze von 493. Im Vergleich dazu wiegen 1969 die 1,422.000 von 33,548.000 Stimmzetteln ein wenig schwerer, als es angesichts der in der politischen Praxis zu vernachlässigenden 4,3 Prozent den Anschein haben mag. Immerhin hatte Hitler noch 1928 nur 12 Sitze erringen können — um zwei Jahre später 107 und bei den berüchtigten Juli-Wahlen 1932 dann 230 zu erhalten.

Wahlergebnisse allein, das resultiert aus der geringen Mühe des.Zahlenvergleichs, vermögen sohin keine Antwort zu geben. Sie würden nicht einmal dann hinreichen, wenn sich die Existenz einer Gefahr der Wiederbelebung nationalsozialistischer Ideen oder Praktiken auf die eine, zur Zeit tatsächlich politisch bedeutungslose Partei beschränken ließe. Daß sie sich darauf jedoch nicht ein- engen läßt, zumindest nicht mit Sicherheit, ist eine Erkenntnis, zu der man auf verschiedene Weise kommen kann. Einer der Wege ist der des . wachsajnen Beobachters der Gegenwart, der mit psychologisch geschultem Blick und exaktem Registrieren kleinster Symptome arbeitet; ein anderer könnte der des, allein angesichts der immer noch anschwellenden Quellenfülle zwangsläufig unvollständigen, Versuchs sein, zu betrachten, welche der in den Tagen der Weimarer Republik gegebenen Voraussetzungen und welche der innerhalb und außerhalb der NSDAP gelegenen Ursachen mutatis mutandis immer noch oder neuerdings von aktueller Bedeutung sein könnten.

Damals und heute

Fraglos ist eine Reihe dieser Fakten von vornherein als abhängig von den Gegebenheiten der Jahre vor 1933

anzusehen und sohin als potentielle Gefahr unter den Voraussetzungen von 1969 oder auch 1980 oder später auszuscheiden. Es ist aber kaum anzunehmen, daß dies ausnahmslos für alle Komponenten zutrifft, schon deswegen nicht, weil einige von ihnen eng mit psychischen Reaktionen verbunden sind, die sowohl allgemein menschlich genannt werden können wie auch im speziellen durch die deutsche Mentalität bedingt sein mögen. Man muß dabei nicht so weit gehen wie Wheeler-Bennett, der zu der Feststellung kam, Hindenburg sei auf Grund seines mangelnden politischen Wissens in hohem Maße ein „Repräsentant des gesamten deutschen Volkes, das unter allen Völkern dieser Welt zu denjenigen gehört, die am wenigsten politischen Geist aufbringen“, da „die Deutschen mehr dem Diktat des Gefühls als der politischen Vernunft gehorchen“; Pauschalurteile dieser Art tragen das Charakteristikum einer vereinfachenden Verallgemeinerung, wie sie nicht kritiklos übernommen werden kann. Aber ebenso wenig kann man sie kritiklos abtun, zumal es gründlicher Studien und exakter Forschungen über die Frage bedürfte, warum tatsächlich trotz vielfacher Ansätze vergleichbarer Natur in anderen Ländern der Welt das Phänomen des Nationalsozialismus mit all seinen Erfolgen nur in Deutschland möglich war.

Aber Hinweise auf eine vage umschriebene „deutsche Art und Denkweise“ reichen selbst für den oberflächlichsten Versuch der Auseinandersetzung nicht aus, abgesehen davon, daß sie fast zwangsläufig zu einer Pauschalbeurteilung und Pauschalverurteilung führen müßte, deren Grenzen gegenüber dem im Nationalsozialismus selbst auf das negativste verkörperten National-, Rassen- und Sippendenken gefährlich fließend wären.

Anderseits müßte auch die Unterschätzung jener Faktoren, die sich als zeitbedingt oder durch Ereignisse von 1918/19 kausal hervorgerufen erklären lassen, zu einer Fehleinschätzung führen, sofern man daraus den Schluß zöge, ihre Unwiederholbarkeit allein böte bereits eine Garantie für die Unwiederhölbarkeit des Phänomens.

Zum dritten schließlich 1st die Möglichkeit nicht auszuschließen, daß andere Voraussetzungen und Gegebenheiten, wie sie etwa zwischen den Jahren 1923 und 1933 in Deutschland, bis 1938 in Österreich bestanden, heute in gesteigertem Ausmaß vorhanden sein könnten. Die Beherrschung des Fachgebietes Propaganda beispielsweise, die sehr wesentlich war für die Erringung und Behauptung der Macht, würde heute sehr viel weiterreichende Möglichkeiten eröffnen, als sie H’t- ler, Goebbels und der NS-Apparat zur Verfügung hatten. Die publizistischen Methoden, die sich bis zu einem gewissen Grad in weitgehend unbewußter Schematisierung bereits in Hitlers „Mein Kampf“ finden and vielfach identisch sind mit dem gesamten Propagandasystem (womit sich die Dissertation „Hitlers .Mein Kampf' und Stalins .Fragen des Leninismus' — ein Vergleich der publizistischen Methoden“, von P. M. Plechl vorgelegt 1955, befaßt), würden in ihrer Effektivität durch die Massenmedien der Gegenwart vervielfacht. Wobei freilich zwischen den Methoden als einer Form der Durchsetzung und dem nationalsozialistischen Gedankengut als einem Inhalt grundsätzlich zu unterscheiden ist, nicht ohne daß sich dabei die Frage der Adäquatheit von Form und Inhalt, Methode und Weltanschauung unter Berücksichtigung allfälliger Wechselwirkungen stellt.

So abstrakt derlei Aspekte wirken mögen — jeder noch so geringfügige Verdacht eines Wiederauftretens, ja auch nur potentiellen Wiederauftretens nationalsozialistischer Denk-, Handlungs- oder Empflndungsweise gibt ihnen eine sehr konkrete und besorgniserregende Aktualität

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