7099086-1995_05_05.jpg
Digital In Arbeit

Die Fragen der Enkel gehören beantwortet

19451960198020002020

Simon Wiesenthal im Gespräch mit der FURCHE: Junge Leute dürfen nicht Opfer der Neonazi-Propaganda werden!

19451960198020002020

Simon Wiesenthal im Gespräch mit der FURCHE: Junge Leute dürfen nicht Opfer der Neonazi-Propaganda werden!

Werbung
Werbung
Werbung

Der Leiter des jüdischen Dokumentationszentrums in Wien, Simon Wiesenthal, stellt sich in den Tagen des Gedenkens der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz vor 50 Jahren durch die Sowjets die Frage, wie man verhindern könne, daß sich eine Katastrophe wie Auschwitz wiederholt. Seine Betrachtungen stehen vor dem Hintergrund einer Neonaziwelle in Deutschland, die ungeniert und kaum belangt mit ihren menschenverachtenden Parolen die Öffentlichkeit erreicht überschwemmt.

Wie sollen wir mit der Erinnerung umgehen: Sollen wir zu verdrängen lernen, darüber einfach nicht mehr reden?, wie manche naiv fordern. Soll nichts von den Nazi-Greueln mehr in den Schulbüchern stehen? „Ich sehe die Sache geschichtlich”, so Wiesenthal zur furche, „besonders, was sich gegen die Juden wiederholt hat. Die Zeit von Hitler war eine Kombination aus Haß und Technologie. Hätte die spanische Inquisition vor 500 Jahren die Technologie Hitlers gehabt, hätte sie den Juden nicht die Alternative gelassen: Laß dich taufen oder verschwinde. Ich habe diese Sachen genau studiert, weil ich jetzt ein Buch geschrieben habe mit dem Titel Jeder Tag ein Gedenktag für die letzten 2000 Jahre'.”

Für Wiesenthal war der Holo-kaust des 20. Jahrhunderts also „der letzte, nicht der erste, nicht der mittlere und nicht der zwanzigste”. Entstanden sei alles aus einer Kombination von Haß, Technologie und Bürokratie. Bürokratie versteht der Mahner im weitesten Sinn des Wortes: „Auch jene, die das Gas Zyklon B in die Gaskammern hineingeworfen haben, waren Bürokraten.” Für das „Funktionieren” der Vernichtungsmaschinerie hat Wiesenthal sechs Komponenten herausgefunden: „Haß, Diktatur, Bürokratie, Technologie, Krise oder Krieg und eine Minorität als Opfer. Wenn Sie ein x-beliebiges Geschichtsbuch hernehmen, werden Sie mindestens fünf dieser Komponenten finden.”

Beklagt wird von Simon Wiesenthal, daß die Aufarbeitung des furchtbaren Geschehens der Nazi-Ära, die Auseinandersetzung „gegen die Täter”, nach 1948 bereits aufgrund der geopolitischen Situation eine Pause hatte - und zwar zwölf Jahre lang. Wiesenthal: „Das waren die Jahre von 1948 bis 1960, also vom Beginn des Kalten Krieges, als Stalin Appetit auf den Rest Europas bekommen hat, bis zum Appease-ment; in dieser Zeit ist ja de facto nichts geschehen. Mit Beginn des Kalten Krieges hat der Neonazismus begonnen.”

Verlorene Jahre sind für Wiesenthal jene genannten zwölf Jahre: Mit 1948 habe die Europäische Soziale Bewegung begonnen, der „viele falsche Europaorganisationen” folgten, in denen man versucht habe, eine Auseinandersetzuung zwischen Ost und West vorzubereiten. Die Nazis hätten geglaubt, daß sie eine Rolle spielen würden, sollte es zu einer kriegerischen Auseinandersetzung kommen. Niemand könne mehr diese zwölf Jahre zurückholen, „und es wird noch sehr lange dauern, um die jungen Generationen wissen zu lassen, was wirklich geschah. Jeden Tag bekommen wir Briefe von jungen Menschen aus Deutschland und aus Österreich, die nach ihren Großvätern fragen, die nicht reden wollen. Ihre Mütter und Väter sagen nur: Auch die andere Seite hat Verbrechen begangen.”

Als beste Generation bezeichnet Wiesenthal junge Menschen zwischen 17 und 30, die weltoffen seien, die miteinander reden und zusammenkommen, nachdem die Grenzen in Europa geöffnet wurden - sie würden mit Fragen konfrontiert, die sie nicht beantworten könnten. „Zum Unterschied von den postkommunistischen Staaten hat sich die Bevölkerung in Deutschland und in Österreich nicht selbst vom Nationalsozialismus befreit. Hätten sie sich selbst befreit, dann wäre schon allein dadurch etwas gegen eine Verdrängung geschehen.'

Wie will Wiesenthal an die Jungen herankommen, wenn er meint, daß Leute seiner Generation und auch die 50jährigen keine gemeinsame Sprache mit diesen hätten? „Die jungen Menschen sind Opfer einer Propaganda, die dem ähnlich ist, was Drogenhändler vor manchen Schulen machen. Sie stellen sich dort auf, verschenken winzige Prisen von Drogen, um auf diese Weise zukünftige Abnehmer aufzubauen. Genauso geschieht es mit Neonazi-Schriften, die man über Computer den jungen Menschen gibt. Diejenigen, die das machen, sollten genauso behandelt werden wie Drogenhändler. Sie schicken diese Druckerzeugnisse an die Schulsprecher, denn die sind ja etwas intelligenter. Diese Schulsprecher müssen wir gewinnen. Die haben eine gemeinsame Sprache mit den jungen Menschen und wenn wir sie überzeugen, dann hat es Wirkung.”

Daß in österreichischen Schulbüchern über die ganze Tragödie nur zwei Seiten stehen, ist für Wiesenthal viel zu wenig. „Jeder, der zur Schule gegangen ist', sagt er, „weiß, daß die Bücher chronologisch gestaltet sind - und oft passiert es, daß man das Buch nicht bis zum Ende durchgearbeitet hat. Als ich studierte, endeten die Bücher am Anfang des Jahrhunderts, bei anderen waren die 20er Jahre der Schluß. Und welcher Schüler schaut da in das Buch rein und liest das, was er nicht für den nächsten Tag; für die Schule braucht. Man sollte die Bücher ändern und von Zeit zu Zeit Filme zeigen oder Gedenktage veranstalten. Wichtig dabei ist auch die Rolle der Eltern, die ihre Kinder über diese Problematik unterrichten sollten, damit diese Kinder später ihren Kindern davon erzählen können.”

Wiesenthal setzt auch auf die erzieherische Wirkung von Radio und Fernsehen, die größeren Einfluß auf die Menschen hätten als eine Regierung. Das müßte man nützen, meint er. „Diejenigen Menschen, die für die öffentliche Meinung Verantwortung tragen, wie zum Beispiel Journalisten oder Dramatiker, müssen jetzt eine Rolle spielen.” Die 15 Jahre, die von den Alliierten dazu bestimmt gewesen seien, die Nazi-Ideologie auszumerzen, waren nach drei Jahren vorbei, denn die Frage der Verteidigung Europas habe vor allen anderen Priorität bekommen.

Jedoch dürfe es keinen Schlußstrich unter diese Vergangenheit geben. „Wer einen Schlußstrich macht, öffnet das Tor zur Wiederholung”, ist Wiesenthal überzeugt. Eine von ihm gegründete Abteilung des Dokumentationszentrums befaßt sich mit der Beobachtung des Rechtsextremismus. Weltweit ist das „Simon Wiesenthal Zentrum” mit mittlerweile 380.000 Mitgliedern tätig, es unterhält Büros in Los Angeles, Chicago, New York, Buenos Aires, Jerusalem und Paris.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung